Gesellschaft | Salto Gespräch

„Erfolgsdruck wieder stärker geworden“

Andreas Huber, Direktor vom Psychologischen Dienst in Bruneck, kennt die Schwierigkeiten junger Menschen aus erster Hand. Über Hilfsangebote, hohe Erwartungen und Glück.
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Foto: Pixabay / Pexels / privat
salto.bz: Herr Huber, die Südtiroler Psychologenkammer schlägt Alarm: Jugendliche leiden vermehrt unter psychischen Störungen, das hat auch Auswirkungen auf die Schulen. Wie beurteilen Sie die Lage?
 
Andreas Huber: Es sind bei Weitem nicht alle Schulen sogenannte Brennpunkt-Schulen. Es gibt aber heute in allen Schulen Phänomene und Situationen, wo es notwendig ist, genauer hinzuschauen, diese zu erkennen, um dann aktiv zu werden. Natürlich gibt es auch Schulen, in denen sich kritische Faktoren häufen und Probleme und Belastungen deutlich verschärft auftreten.
 
Betrifft das vor allem städtische Schulen?
 
Die psychischen Auffälligkeiten, besonders bei Kindern und Jugendlichen, haben in den letzten Jahren generell zugenommen. Inwieweit städtische Schulen stärker betroffen sind, können die Verantwortlichen der Schule besser beurteilen als ich. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass städtische Schulen mit komplexeren Problematiken konfrontiert sind. Ein Grund dafür könnte der höhere Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund sein. Der bringt mitunter zusätzliche Herausforderungen.
Erfolgreich zu sein in allen Lebensbereichen hat in unserer Gesellschaft einen enormen Stellenwert.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen dem Psychologischen Dienst und den Schulen? 
 
Die Zusammenarbeit zwischen den Schulen und den Psychologischen Diensten ist sehr eng. Ein zentraler Aufgabenbereich des Psychologischen Dienstes ist dabei die psychologische Abklärung von Schüler*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Entwicklungsstörungen und Lernproblemen. Wenn es um emotionale Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten geht, können Lehrpersonen Beratung erhalten und mit Einverständnis der Eltern Schüler*innen an den Psychologischen Dienst zuweisen. Außerdem arbeiten wir seit Jahren in verschiedenen Arbeitsgruppen im Bereich der Prävention eng mit der Schule zusammen.
 
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Andreas Huber: „Klimakrise, Migration, Krieg, die man aus psychologischer Sicht wohl als zusätzliche Stressfaktoren sehen kann.“ (Foto: privat)
 
Sind weitere Schritte geplant, um die Zusammenarbeit zu verstärken?
 
Vor einem Jahr wurden den Psychologischen Diensten neue Stellen zugewiesen, um einen schulpsychologischen Dienst für alle Schulen der drei Sprachgruppen aufzubauen. Dadurch soll das Angebot der Pädagogischen Beratungszentren bzw. der schulinternen Beratungsdienste um den Bereich der klinischen Psychologie ergänzt werden. Das Konzept hierfür wurde im letzten Jahr gemeinsam mit Vertreter*innen aller drei Schulämter ausgearbeitet. Die Stellen wurden bereits zugewiesen und wir rechnen damit, dass die ersten dieser klinischen Psycholog*innen zu Beginn des nächsten Schuljahres ihre Arbeit aufnehmen können. Wir beginnen mit einigen Stellen, die später aufgestockt werden können.
Heute wird es 15- bis 25-Jährigen vor allem finanziell gesehen nicht mehr so gut gehen wie ihren Eltern.
Welche Aufgaben werden die Schulpsycholog*innen haben?
 
Sie werden sich auf komplexere, klinisch relevante psychische Störungen und Auffälligkeiten konzentrieren und stehen sowohl den Führungskräften und Lehrpersonen als auch Schüler*innen und Eltern zur Verfügung. Die Schulpsycholog*innen haben dabei eine wichtige Brückenfunktion zu den Diensten, die weiterführende, spezialisierte Hilfe anbieten.
 
Gibt es auch spezifische Angebote für Lehrkräfte?
 
In diesem Schuljahr wurde von der Kinder- und Jugendpsychiatrie und dem Psychologischen Dienst ein Zusatzangebot für Lehrkräfte organisiert, das vom italienischen Gesundheitsministerium finanziert wird. Es ist gelungen, in relativ kurzer Zeit einen Onlineberatungsdienst aufzubauen, der Beratungsgespräche für Lehrpersonen mit Psycholog*innen per Videoübertragung oder Telefon ermöglicht. Federführend in diesem Projekt war die Leitern der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Frau Dr.in Donatella Arcangeli. Ihr war es wichtig, das Angebot online zur Verfügung zu stellen, damit es Lehrkräfte aller Schulen gleichermaßen nutzen können. Erste Auswertungen ergaben, dass das Angebot von allen drei Sprachgruppen gut angenommen wird. Ursprünglich war das Projekt lediglich für das Jahr 2023 geplant. Voraussichtlich kann es aber bis zum Ende des Schuljahres 2025 fortgeführt werden.
 
Im Gespräch mit Bildungsexpert*innen wird immer wieder betont, dass Kinder und Jugendliche das Spiegelbild unserer Gesellschaft sind. An welchen Entwicklungen machen Sie die Ursachen dieses Unbehagens und dieser Unsicherheit in unserer Gesellschaft fest?
 
Es gibt eine Reihe gesellschaftlicher Phänomene, die sich bei den Kindern und Jugendlichen widerspiegeln. Zentral ist hier für mich der Erfolgs- und Leistungsdruck, der meines Erachtens in den letzten Jahren wieder stärker geworden ist. Erfolgreich zu sein in allen Lebensbereichen hat in unserer Gesellschaft einen enormen Stellenwert. Erfolg in Schule und Beruf, Erfolg in Sport und Musik, Erfolg in sozialen Beziehungen stehen hoch im Kurs. Das lässt Ansprüche wachsen; bei jungen Menschen, bei Eltern, Lehrpersonen, Trainer*innen. Natürlich sind Ziele auch eine wichtige Triebfeder und Motivationsquelle. Wenn die Ansprüche aber übergroß werden, können Menschen eben darunter einknicken. Diese Dynamik mag paradox anmuten, da es noch nie so viele Möglichkeiten und Freiheiten gab, sich im Leben zu verwirklichen und den eigenen Weg selbstbestimmt zu gestalten.
 
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Junge Menschen von heute: Stressfaktoren wie die Klimakrise, Migration und Krieg beeinflussen Kinder und Jugendliche genauso wie die hohen Erwartungen an sie. (Foto: Nicolas Lobos / Unsplash)
 
Wieso ist der Erfolgsdruck dann trotzdem so hoch?
 
Weil die Ansprüche vielfach überzogen sind. Die Botschaft ist: Du musst außergewöhnlich sein! Außergewöhnlich erfolgreich, außergewöhnlich schön, außergewöhnlich beliebt, ja sogar außergewöhnlich glücklich. Gleichzeitig stehen diese Ansprüche oft im Widerspruch zu gewissen Prognosen. Nämlich, dass es vielen jungen Menschen wirtschaftlich nicht mehr so gut gehen wird wie der Generation vor ihnen. Das ist ein neues Phänomen. Bisher waren die Chancen, dass es den Kindern einmal besser als den Eltern gehen wird, sehr groß. Heute wird es 15- bis 25-Jährigen vor allem finanziell gesehen nicht mehr so gut gehen wie ihren Eltern. Das betrifft beispielsweise den Kauf einer Wohnung oder eines Eigenheims. Hinzu kommen die großen Krisen, die wir als Gesellschaft zu bewältigen haben: Klimakrise, Migration, Krieg, die man als aus psychologischer Sicht wohl als zusätzliche Stressfaktoren sehen kann.
Es ist gefährlich, sich ständig mit diesen Idealvorstellungen in den sozialen Medien zu vergleichen.
Beobachten Sie auch einen Wertewandel in unserer Gesellschaft?
 
Ich habe manchmal den Eindruck, dass Fragen der sozialen Gerechtigkeit, soziales Engagement wertschätzende Diskussionskultur und gegenseitiger Respekt an Bedeutung verloren haben. Es geht wieder mehr um das Individuum. Darum, sich selbst zu behaupten und bestimmte Dinge zu erreichen. Außerdem ist die Südtiroler Gesellschaft im Umgang mit Alkohol und Drogen oft kein gutes Vorbild für die Jugend, aber das ist nichts Neues.
 
Wie gehen Kinder und Jugendliche mit dieser gesellschaftlichen Prägung um?
 
Manche kommen mit dem Druck gut zurecht, weil sie ihn ausgleichen, aus der Spirale aussteigen, im Freundeskreis Halt finden oder bestimmte Anforderungen gut relativieren können. Für manche wird der Druck auf Dauer aber zu viel. Sie strengen sich immer mehr an, um den Idealen zu entsprechen, zweifeln aber daran, dass es gelingt. Hier spielen die sozialen Medien eine große Rolle, wo vorwiegend die Erfolgsgeschichten dargestellt werden. Es ist gefährlich, sich ständig mit diesen Idealvorstellungen in den sozialen Medien zu vergleichen. Das bedeutet großen Druck und großen Stress, der irgendwann auch zu psychischen Auffälligkeiten oder Störungen führen kann.
 
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Umgang mit Erwartungen: „Manche kommen mit dem Druck gut zurecht, weil sie ihn ausgleichen, aus der Spirale aussteigen, im Freundeskreis Halt finden oder bestimmte Anforderungen gut relativieren können.“ (Foto: Monstera / Pexels)
 
Welche Möglichkeiten gibt es für Eltern und Kinder, wenn Sie psychologische Unterstützung brauchen?
 
Sie können sich direkt an die Psychologischen Dienste wenden. Dafür ist keine Einweisung notwendig, sondern man kann telefonisch einen Termin vereinbaren. Bei der Erstberatung wird besprochen, welche nächsten Schritte in Frage kommen. Genauso können die Fachambulanzen der Kinder- und Jugendpsychiatrie kontaktiert werden. Zudem bieten die Familienberatungsstellen Hilfe an, seit kurzem auch online buchbar. Wenn Kinder und Jugendliche ohne ihre Eltern Unterstützung suchen oder Fragen haben, steht Young+Direct zur Verfügung. Außerdem wurde während der Corona-Pandemie die Webseite „Du bist nicht allein“ eingerichtet, die Informationen und praktische Tipps bei psychischen Krisen zugänglich macht. Das sind einige wichtige Anlaufstellen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
 
Wie lange sind die Wartezeiten beim Psychologischen Dienst in der Regel?
 
Ein telefonischer Erstkontakt mit einer Psycholog*in ist meist noch am selben Tag möglich. Einen Termin für eine psychologische Erstvisite erhält man je nach Dringlichkeit in etwa zehn bis 14 Tagen. Für die Folgetherapie gibt es Wartezeiten von sechs bis acht Wochen. Zugegebenermaßen gibt es auch Engpässe, in denen die Wartezeiten vorübergehend durchaus auch länger sein können. Aber wie gesagt, Notfälle und Dringlichkeiten werden zeitgerecht behandelt.
Je früher sie behandelt werden, desto höher sind die Erfolgschancen.
Inwieweit übernimmt die öffentliche Hand die Kosten für Psychotherapie und medikamentöse Behandlung?
 
Beim Psychologischen Dienst und der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind Kinder und Jugendliche ticketbefreit, sie müssen also nichts bezahlen. Erwachsene beteiligen sich bei den Kosten pro Einzelleistung mit rund 19 Euro. Dabei ist es möglich, bis zu acht Leistungen / Sitzungen mit dem Ticket-Höchstbetrag von 36,15 Euro zu verrechnen. Das ist im Vergleich zu privaten Therapiestunden mit 90 bis 120 Euro pro Stunde sehr günstig.
 
Ist eine Diagnose notwendig, um beim Psychologischen Dienst eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen?
 
Nein, es ist nicht notwendig, dass eine psychische Störung vorliegt. Es können auch Beratungsleistungen in Anspruch genommen werden, um bestimmte Lebensereignisse zu überwinden und psychische Krisen besser verarbeiten zu können oder wieder Orientierung im Leben zu finden. Diese Problematiken erzeugen oft einen hohen Leidensdruck, sind aber keine psychischen Störungen im engeren Sinn. Trotzdem ist es sinnvoll sie frühzeitig anzugehen, damit sich nicht psychische Störungen daraus entwickeln.
 
Wie hoch stehen die Chancen, psychische Störungen erfolgreich zu behandeln?
 
Das hängt stark von der Art der psychischen Störung und vom Zeitpunkt des Behandlungsbeginns ab. Generell kann man sagen, dass gerade jene Störungen, die in letzter Zeit vermehrt auftreten, wie zum Beispiel Ängste-, Depressionen, Ess- und Verhaltensstörungen oder emotionale Regulationsstörungen, psychotherapeutisch gut bis sehr gut behandelbar sind. Je früher sie behandelt werden, desto höher sind die Erfolgschancen.
 
Welche Methodik nutzen die Psychologischen Dienste bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen?
 
Es gibt sehr vielfältige therapeutische Verfahren. Bei den meisten psychischen Störungen ist die psychotherapeutische Behandlung mit Einbeziehung der Familie die wichtigste und auch ausreichende Intervention. Bei Manchen sind neben der Psychotherapie soziale Maßnahmen erforderlich. In wenigen Fällen kommt eine medikamentöse Behandlung hinzu.