Gesellschaft | Flüchtlinge

Borderline Sicilia: "Ein permanenter Ausnahmezustand"

Borderline Sicilia ist ein Monitoring-Projekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien; sie haben den Alexander Langer Preis 2014 erhalten und sind derzeit in Bozen.

Seit wann gibt es Borderline Sicilia und warum ist die Vereinigung entstanden?

Paola Ottaviano: Uns gibt es seit 2008, Giovanna Vaccaro und Elio Tozzi die mit mir zur Übergabe des Alexander-Langer-Preises in Bozen sind, sind etwas später dazu gekommen; gegründet wurde Borderline Sicilia von 5 Personen, Judith Gleitze, Germana Graceffo, Roman Herzog, Heike Brunkhorst und mir selbst, ich arbeite als Rechtsanwältin. Mit Fragen der Migration haben wir uns alle seit jeher beschäftigt, aber als es am 27. Oktober 2007 bei Siracusa zum x-ten Mal tote Flüchtlinge gab, 17 Ägypter und Palästinenser, war das der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ. Wir wollten wissen, wer diese Personen waren und haben uns drangemacht, deren Identitäten festzustellen. Nach einem Jahr haben wir am Strand eine Skulptur mit den eingravierten Namen aufgestellt und ein Theaterstück aufgeführt; das waren die Anfänge unserer Arbeit.

 “Memoria attiva“ heißen wir das und wir machen das vor allem deshalb, um der Gleichgültigkeit konkrete Fakten entgegen zu halten. 

War es schwierig, die Identität dieser verstorbenen Flüchtlinge festzustellen, wie seid ihr das angegangen?

Nun, es war keineswegs leicht, wie man sich vorstellen kann, wir haben mehre Monate recherchiert und telefoniert, haben unsere Netzwerke abgeklappert und mit Institutionen in Nordafrika gesprochen. Es gibt ja keine offiziellen Listen von denen, die das Meer überqueren, aber mittlerweile hatten sich auch die Familien der Flüchtlinge gemeldet und so haben wir uns auf halbem Weg getroffen und herausfinden können, wer die Verstorbenen waren. Solche Anfragen von Verwandten und den Familien erhalten wir sehr oft; sie wollen wissen, was mit ihren Kindern, Brüdern oder Schwestern passiert ist, da sie oft nichts mehr hören oder das handy nicht reagiert, das sie anrufen.

Wenn man bedenkt, das es allein im Mittelmeer in einem Zeitraum von 20 Jahren 20.000 tote Flüchtlinge gegeben hat, dann sind das unvorstellbare Zahlen. Und das sind nur die bekannten Unglücke, diejenigen die ohne Blick der Öffentlichkeit im Meer oder in den Herkunftsländern, beim Überqueren der Wüste geschehen, sind gar nicht eingerechnet.

Gehört das zu eurem fixen Aufgabenbereich, die Identitäten der verstorbenen Flüchtlinge herauszufinden?

Ja, das ist einer unserer Hauptbereiche, aber wir können das nicht systematisch machen. “Memoria attiva“ heißen wir das und wir machen das vor allem deshalb, um der Gleichgültigkeit konkrete Fakten entgegen zu halten. Denn irgendwann wird man auf diese Zeit der nicht existierenden Flüchtlingspolitik mit ziemlicher Verwunderung zurückschauen, dessen bin ich mir sicher. Wir befinden uns ja dauernd im Ausnahmezustand, wenn wieder ein Schiff ankommt, oder wenn es zu Bootsunglücken kommt. Man tut dann immer so, als ob es sich um nicht zu vermeidende Katastrophen handelt, aber die aktuelle Flüchtlingspolitik ist nichts anderes als die Folge einer gelähmten Politik und nicht getroffener Entscheidungen. Den Toten eine Identität geben, hilft das Phänomen zu versachlichen, etwas das von der lokalen und nationalen Politik verweigert wird; lieber ruft man jedesmal wenn es wieder Tote gegeben hat, sein mea culpa und geht dann zur Tagesordnung über.

Wir sind mittlerweile zu einer Beobachtungsstelle für Flüchtlingsfragen in Sizilien geworden; wir haben unsere fixen Orte und aufgeteilten Gebiete, die von uns und unseren ehrenamtlichen Mitarbeitern betreut werden. 

Was halten Sie von Renzis Aussage, er werde das Flüchtlingsproblem anlässlich der italienischen EU-Präsidentschaft an vorderste Front stellen?

Die italienischen Politiker stellen die Flüchtlingsfrage besonders gerne dann in den Mittelpunkt, wenn es ihnen nutzt. Zu Wahlzeiten etc. Wenn man sieht, dass das Problem seit 20 Jahren besteht und dass in den Unterbringungslagern der Flüchtlinge immer noch elende Zustände herrschen, dass die Verteilung der Asylanträger auf die Regionen nicht funktioniert, dass die Versorgung miserabel ist,  dann muss man sagen, dass diese Frage auf politischer Ebene gescheitert ist. Das einzige, das italienische Politiker machen, ist die Verantwortung auf die EU zu schieben und nach mehr Geld zu rufen; anstatt sachlich an das Phänomen heranzugehen, den Ausnahmezustand zu beenden und methodisch einer Migration zu begegnen, die es immer gegeben hat und immer geben wird.

Denn wenn die Migranten, wie es das internationale Recht vorschreibt, einen Flüchtlingskorridor hätten und auf diese Weise vor Krieg, wie etwa in Syrien, in Sicherheit entkommen können oder wenn auch nur jenen Personen, die anderswo ein besseres Leben suchen wollen, dies ermöglicht würde, dann blieben diese Katastrophen im Mittelmeer aus.

Soll eure Arbeit auch dazu beitragen, das Denken über Flüchtlinge zu verändern, das Phänomen als weniger bedrohlich anzusehen?

Ja, das ist sozusagen der zweite große Anteil unserer Arbeit, die Information. Wir sind mittlerweile zu einer Beobachtungsstelle für Flüchtlingsfragen in Sizilien geworden; wir haben unsere fixen Orte und aufgeteilten Gebiete, die von uns und unseren ehrenamtlichen Mitarbeitern betreut werden. Das sind die Lager und Unterbringungsorte für Migranten und Asylanträger, das sind die Häfen in den denen die Schiffe und Botte ankommen, und das sind die Institutionen und Behörden. Wir halten regelmäßigen Kontakt mit all jenen auf Sizilien, die mit Flüchtlingen arbeiten und sie betreuen. Darüber schreiben wir, wir sammeln Geschichten und Reportagen und stellen sie auf unserem blog siciliamigranti online. Wir übersetzen auch auf Deutsch und Englisch, unsere Leserzahlen steigen zunehmend.

Geht ihr auch  in die Flüchtlings- bzw. Auffanglager hinein?

Nein, das ist uns allein nicht  gestattet, wir begleiten natürlich so oft es geht Journalisten, Politiker oder andere Personen die hineinkommen; wir wissen aber was dort los ist und kennen die Zustände. Denn wir reden mit den Flüchtlingen und Migranten, wenn sie herauskommen, so erfahren wir was drinnen geschieht. Wenn wir von untragbaren Situationen erfahren, von Gewalt und anderen Missständen, schreiben wir darüber und fragen bei den Verantwortlichen dieser Lager nach, bzw. bei den Behörden.

Leider werden viele dieser Unterbringungslager von nicht-kompetenten Personen geführt. Denn gerade zur Zeit, wo so viele Migranten übers Mittelmeer kommen, herrscht wirklich der große Ausnahmezustand vor und die Behörden müssen sehr kurzfristig entscheiden, wohin mit allen den Menschen. Deshalb werden oft ohne Ausschreibungen Einrichtungen zu Flüchtlingsunterkünften erklärt. Das können leerstehende Gebäude wie Werkstätten, Kondominien oder Sportunterkünfte sein, alles wo man eben Menschen unterbringen kann. Letzthin sind wir auf einen Fall gestoßen der zeigt, wie verheerend die Situation ist: bei Ragusa sind wir auf einige Dutzende Flüchtlinge gestoßen, die in einer ehemaligen Diskothek-Pizzeria in der Industriezone ausharrten. Als wir dort eintrafen, erzählte man uns, dass seit zwei Wochen kein anderer Mensch aufgetaucht war, als die Putzfrau und ein Sozialarbeiter der das Essen brachte. Niemand der sich um sie kümmerte, der Informationen brachte wie es nun weitergeht. Das geschieht derzeit leider viel zu oft, es handelt sich wie gesagt um stati d’emergenza, und dabei bleibt es. Dieser Schwebezustand trägt jedoch nur dazu bei, Unsicherheit und Angst aufrecht zu  erhalten, aufseiten der Flüchtlinge und aufseiten der Bevölkerung.

Das weckt Tendenzen, die noch zu viel Schlimmerem führen könnten, wenn wir uns in der Geschichte ansehen, was Fremdenfeindlichkeit,  Rassismus und eine untätige Politik bewirken.

In Südtirol wurden letzthin einmal 50 und ein anderesmal 30 Flüchtlinge aufgenommen, das ist wohl kein Vergleich zu den Zahlen in Sizilien?

Ja, eine große Anzahl bleibt in Sizilien, weil es keinen nationalen Plan gibt, die Flüchlinge auf alle Regionen zu verteilen. Wenn wir von Zahlen sprechen, dann sind die italienischen Asylanträge noch in der Minderzahl, wenn man nach Deutschland oder Schweden schaut. Die ganze Asylfrage fußt auf dem Dubliner Übereinkommen, das vorsieht dass jener Staat für die Asylfrage zuständig ist, in das der Flüchtling einreist. Das ist eben derzeit oft Italien. Das erschwert aber sehr vieles. Zur Zeit kommen sehr viele syrische Flüchtlinge nach Italien und die wollen nur weiter nach Deutschland oder in andere europäische Länder, weil sie dort ihre Verwandten bzw. ein Netzwerk haben. Wenn sie jedoch bei ihrer Einreise nach Italien registiert werden, dürfen sie gar nicht mehr weiter. Deswegen hat sich auch die Praxis eingebürgert, dass die Behörden oft beide Augen zudrücken und die Flüchtlinge einfach weiterschicken, ohne sie zu registrieren.

Diese Arbeit bei Borderline Sicilia, was macht das mit euch, wie emotional belastend ist das?

Wir hören viele schreckliche Geschichten, aber ganz oft entsteht die Verzweiflung erst hier, denn geflohen sind viele mit ganz viel Zuversicht und Hoffnung auf ein besserers Leben. Durch den Flüchtlingsstatus, durch das Gefangensein in diesen Lagern entsteht das erste Mal wirkliche Hoffnungslosigkeit. Warum machen wir das? Weil es natürlich wichtig ist, die Rechte der Migranten wahrzunehmen und immer wieder drauf aufmerksam zu machen, dass es sich hier um Menschen mit Geschichten handelt. Wir machen das aber auch für uns alle, für uns Europäer sozusagen. Denn diese permanenten Ausnahmezustände in der Flüchtlings- und Migrantenfrage, der Strom der niemals aufhört, die Katastrophe die von den Politikern und den Medien dramatisch hochgespielt wird, das alles erzeugt Ängste und Ressentiments. Das weckt Tendenzen, die noch zu viel Schlimmerem führen könnten, wenn wir uns in der Geschichte ansehen, was Fremdenfeindlichkeit,  Rassismus und eine untätige Politik bewirken.

Am Freitag, 4. Juli um 20 Uhr wird im Centro Trevi der Alexander-Langer-Preis 2014 an Borderline Sicilia übergeben.