Gesellschaft | Verhütung

Die Pille- vom Tabu zur Revolution

Heuer wird die Anti-Baby-Pille 60. Doch das ehemalige Symbol der Emanzipation wird von immer mehr jungen Frauen kritisch hinterfragt. Zu Recht?
Gegen die Pille
Foto: Christophe Gateau/dpa

„Wenn er die gern hot, donn passt er schun auf“, diese Abfuhr, so erzählt mir eine Bekannte, bekamen Frauen im Südtirol der 60er Jahre von ihrem Frauenarzt oft zu hören, sobald sie um die Verschreibung der Anti-Baby-Pille baten. Das revolutionäre Verhütungsmittel galt im kirchlich geprägten und konservativen Südtirol vielerorts als Tabu. Erst allmählich fingen Frauen weltweit an, auf diese Art der Verhütung zurückzugreifen. Heute, genau 60 Jahre später, ist die Anti-Baby-Pille das beliebteste hormonelle Verhütungsmittel der Welt. Doch der hohe gesundheitliche Preis für die sichere und relativ unkomplizierte Verhütungsmethode wurde mit den Jahren ebenso breiter bekannt. Und immer weniger Frauensind bereit, diesen zu bezahlen. 

 

Sexuelle Revolution verpackt in 100 mg Östrogen

 

Als im Jahr 1960 die Anti-Baby-Pille an den Markt ging, war sie mehr als nur ein Verhütungsmittel. Diese kleine weiße Pille gab besonders Frauen die Möglichkeit, Sex nicht mehr als reines Mittel für die Familiengründung zu sehen, sondern es einfach mal aus bedenkenlosem Spaß treiben zu können. Vor allem aber konnte die Frau nun selbst über ihren Körper entscheiden, ohne sich darauf verlassen zu müssen, dass der Mann „genug aufpasst“. Es war die sexuelle Revolution verpackt in 100 Milligramm weiblichem Östrogen-Hormon. 

Die Südtiroler Gynäkologin Christine Arquin von der Familienberatungsstelle Lilith in Meran erkennt, warum zu dieser Zeit die Pille von großem Vorteil für Frauen war: „Früher ging es nicht darum, was die Frau wollte. Da kam der Pfarrer Heim und sagte, es sei ein Kind zu machen, und wenn nicht jedes Jahr eines da war, wurde die Ehe schnell mal hinterfragt,“ erzählt die Ärztin, die außerdem in der Schwangerenbetreuung (AIED) in Bozen und im Pflegeheim Martinsbrunn in Meran tätig ist. Doch der Enthusiasmus der Frauenbewegung der 60er Jahre wurde spätestens gedämmt, als die Nebenwirkungen der Pille bekannt wurden.

 

Thrombose, Übelkeit, Depression

 

Übelkeit, Gewichtszunahme, erhöhtes Thrombose-Risiko. Das sind nur einige der physischen Nebenwirkungen, die heute bekannt sind. Über die psychischen Effekte weiß man weniger, doch häufen sich in den letzten Jahren Studien dazu. So zeigt etwa eine dänische Studie von 2016, dass hormonell verhütende Frauen auffällig häufiger an Depressionen leiden. Besonders empfindlich seien pubertierende Mädchen, bei denen das Risiko um 80 Prozent steigt. Diese hohe Zahl hält Arquin zwar für fragwürdig, doch dass künstlich zugeführte Hormone sich auf die Stimmung auswirken, weiß die Gynäkologin aus ihrem Praxisalltag: „Ich erlebe immer wieder, dass Frauen ein Jahr später zu mir kommen und sich beklagen, die Pille verschlechtere ihre Stimmung.“

Nach einigen Jahren habe ich gemerkt, wie abhängig mein Körper von den Hormonen geworden ist und wie entzügig in der Woche ohne Hormone. Das gruseligste daran war, dass ich auf den Tag und fast auf die Stunde genau vorhersagen konnte, wann welche Schmerzen eintreten

Die amerikanische Investigativ-Journalistin Barbara Seaman war die erste, die über die Nebenwirkungen schrieb. Das ernüchternde Ergebnis ihres Buchs von 1969 „The Doctor’s Case against the Pill“: Tausende Frauen waren in den ersten zehn Jahren seit der Freigabe der Pille allein in den Vereinigten Staaten an Herzinfarkten, Blutgerinnsel und sogar Krebs erkrankt und teilweise gestorben. 

 

Vom Verhütungsmittel zum Life-Style Produkt

 

In den darauffolgenden Jahren wurde die Dosis des weiblichen Hormons Östrogen in der Pille stark reduziert, wodurch Nebenwirkungen zurückgingen. Gynäkologin Arquin erklärt: „Die Östrogendosis wurde in den Pillen der neueren Generation reduziert. Was jedoch variiert, ist das zweite weibliche Hormon: Progesteron, das je nach Art Vor-und Nachteile hat.“ Insbesondere enthalten die meisten der neuen Pillen das sogenannte Drospirenon. Es verringert Akne und schenkt der Frau volleres Haar, wirkt außerdem entwässernd, wodurch die Gewichtszunahme als typischer Nebeneffekt der Pille wegfällt. Gleichzeitig erhöht dieses Hormon die Thrombose Gefahr um mehr als das doppelte: Neun bis zwölf pro 10.000 Frauen erleiden mit den neuen Pillen eine Thrombose, im Vergleich zu fünf bis sieben Frauen mit den Pillen der älteren Generation. Das Risiko sei dennoch in Kontext zu setzen, meint Arquin, denn während einer Schwangerschaft leiden 20 von 10.000 Frauen an Thrombose. Es bleibt die Frage, ob die beiden Situationen tatsächlich vergleichbar sind. Fakt aber ist: Der Pharmakonzern Bayer musste aufgrund seiner neueren Pille Yaz, die durch ihre Drospirenondosis vielen Frauen Leid verursachte 3 Millionen Euro an Entschädigung zahlen.

 

Doch immer noch werden die Pillen der neuen Generation besonders an jungen Mädchen verschrieben, denn sie profitieren von den positiven Effekten auf das Äußere: „Bei einer vernarbenden Akne verschreibe ich Mädchen auch die Pille, denn sie leiden extrem unter dem schlechten Hautbild,“ sagt Arquin.

Doch gerade diesen Einsatz der Pille als eine Art „Life-Style-Produkt“ hinterfragen immer mehr junge Frauen. So auch die 25-jährige Laura aus München. Mit 13 bekam sie die Pille von ihrem Hautarzt verschrieben, obwohl sie von sexueller Aktivität noch Jahre entfernt war. „Ich litt damals an Haarausfall, und habe daher eine ziemlich starke Pille verschrieben bekommen. Dadurch hatte ich auch nie die klassische Akne-Problemchen während meiner Pubertät,“ erinnert sich die heute 25-jährige. „Sieben Jahre habe ich mir ununterbrochen und unreflektiert künstliche Hormone zugeführt. Damit ist jetzt aber Schluss.“ Seit Laura die Pille abgesetzt hat, ist ihre Periode unregelmäßiger, und auch ihre Haut schlechter geworden. Dennoch bereut sie ihre Entscheidung, auf eine natürliche Verhütung zu setzen nicht.

 

Der Pillennebel

 

Natürlichkeit ist das Stichwort, das die meisten Frauen dazu bewegt, sich von der Pille abzuwenden und stattdessen ihren natürlichen Zyklus zu umarmen. Denn mit der natürlichen Regelblutung, hat das, was während der sogenannten „Pillenpause“ passiert, wenig zu tun: Das künstliche Östrogen und Progesteron der Pille gaukeln dem Körper eine Schwangerschaft vor. Und wenn der Körper denkt, er sei bereits schwanger, setzt er auch keine Eier frei. Somit wird keine schützende Schleimhaut um die Gebärmutter gebildet, also das, was während der Regelblutung ausgestoßen wird. Dennoch bluten Frauen monatlich, obwohl sie die Pille nehmen. Warum? Es ist eine Entzugserscheinung des Körpers, der in den sieben Tagen, während denen die Pille ausgesetzt wird, seine Extradosis an Hormonen vermisst. Das heißt: Theoretisch könnten Frauen die Pille einfach durchgehend nehmen. Doch die sieben Tage Pillenpause wurden eingeführt, damit Frauen zumindest ansatzweise ein Gefühl der „natürlichen Regel“ erfahren.

 

 

Somit verändert hormonelle Verhütung das ursprüngliche Körpergefühl der Frau, greift in ihre Stimmungswelt ein und sogar in ihre sexuelle Lust, denn die Pille verringert nachweislich die weibliche Libido. Dieses Phänomen nennen englischen Anti-Pillen Aktivistinnen „Pillennebel“. Judith aus Bozen kennt dieses Phänomen ebenfalls: „Am Anfang habe ich es vor allem genossen, dass mein Zyklus plötzlich so regelmäßig und vorhersehbar war,“ erzählt die 27-jährige Boznerin. „Nach einigen Jahren habe ich gemerkt, wie abhängig mein Körper von den Hormonen geworden ist und wie entzügig in der Woche ohne Hormone. Das gruseligste daran war, dass ich auf den Tag und fast auf die Stunde genau vorhersagen konnte, wann welche Schmerzen eintreten.“ Nach fünf Jahren hört sie auf, hormonell zu verhüten, auch weil sie wieder in Verbindung mit ihrem Körper treten will: „Es mussten einige Jahre vergehen, bis ich mich an den natürlichen Zyklus gewöhnt habe. Ich höre dadurch aber mehr in mich hinein, kann die Anzeichen deuten, in welcher Zyklusphase ich mich befinde und weiß auch, was mir in dieser Phase gut tut.“ Judith möchte noch viel mehr zu dem Thema lernen, wie unser Zyklus uns beeinflusst und wie man aber auch gezielt z.B. durch Ernährung oder Bewegung den Zyklus beeinflussen kann. Hormonelle Verhütung kommt für sie nicht mehr in Frage.

Diesen Ansatz begrüßt auch die Frauenärztin Arquin: „Ich denke es ist wichtig, dass jede Frau ihren Zyklus kennt, und weiß, wie sich die unterschiedlichen Phasen auf ihre Energie, ihre Stimmung und ihren Körper auswirkt. Dieser natürliche Rhythmus ist auch wichtig für die Regeneration, denn die Regel ist aus alternativmedizinischer Sicht eine Art Reinigung des Körpers. Wenn die längere Zeit wegfällt, ist das schon ein tiefer Eingriff.“

 

Die kritische Pillen-Bewegung

 

Heute sind immer weniger Frauen bereit, ein wenig „kränker“ zu leben, um dafür über ihren Körper entscheiden zu können, und eine ungewollte Schwangerschaft zu vermeiden. Sie sind selbstbewusster und haben mehr Rechte,wodurch sie auch ohne Pille selbstbestimmt leben können. Das verwandelte Geschlechterverhältnis und wie aufgeklärt auch Männer mittlerweile sind, zeigt sich in Arquins Praxis: „Immer öfter kommen junge Paare zu mir, um sich gemeinsam über die Möglichkeiten zu informieren. Das zeigt mir, dass Verhütung nicht mehr ausschließlich als Verantwortung der Frau gesehen wird“, freut sich Arquin. 

War die Entscheidung für die Pille in den 60er Jahren ein Zeichen der weiblichen Emanzipation, gilt es heute als emanzipiert, künstliche Hormone kritischer zu hinterfragen und seinen natürliche Körperzyklus zu akzeptieren

Doch wird Verhütung nicht immer noch als Verantwortung der Frau angesehen?  Denn eine „Pille für den Mann“ gibt es auf dem Markt keine. Es wurden bereits etliche Studien dazu gemacht, 2009 zum Beispiel führte die WHO eine Studie durch, bei der das Testosteron-Hormon Männern als Spritze verabreicht wurde. Obwohl sich die Methode als effektiv für die Verhütung herausstellte, wurde die Studie nach zwei Jahren abgebrochen, hormonelle Verhütung für den Mann als marktuntauglich erklärt. Der Grund: Die Testpersonen klagten über Nebenwirkungen wie Stimmungsschwankungen und Übelkeit. Ein bekanntes Muster? Doch bei Frauen scheint man Nebenwirkungen der Verhütung zuliebe eher in Kauf zu nehmen als bei Männern.

Dagegen wehrt sich das neue Selbstbewusstsein vieler Frauen. Dies zeigen auch aktuellste Zahlen: Vierzehn Prozent der italienischen Frauen nahmen 2016 die Pille, während es sechs Jahre davor noch 19 Prozent waren. Italien bildet somit das Schlusslicht in Europa. Interessanterweise sind die Zahlen in den südlichen Regionen des Landes besonders niedrig. In Deutschland gingen die Zahlen in der letzten Zeit ebenfalls zurück, jedoch wählten 2018 immer noch fast die Hälfte der Frauen die Pille als Verhütungsmittel. In Südtirol dürfte die Zahl irgendwo dazwischen liegen, schätzt Arquin. Der Pillen-kritische Trend hat auch in Südtirol Einzug gefunden, erzählt Arquin, in deren Praxis immer öfter junge Frauen kommen, die von vornherein die Pille ausschließen.

 

Information statt pauschaler Ablehnung

 

Auch wenn Arquin es problematisch findet, wenn Frauen ihr ganzes Leben lang die Pille nehmen- pauschal verurteilen will sie hormonelle Verhütungsmittel nicht. Vor allem junge Frauen zwischen 16 und 20 Jahren greifen verständlicherweise zur Pille, erzählt die Medizinerin: „In Lebensphasen, in denen man überhaupt nicht schwanger werden will, zum Beispiel in sehr jungem Alter, ist die Pille sicher ein effektives Verhütungsmittel,“ sagt Arquin. Es gehe aber darum, die richtige Balance zu finden, und gemeinsam mit der Frau herauszufinden, was für ihre individuelle Lebenslage das beste Verhütungsmittel sei. Ihr sei es daher wichtig, Frauen ausführlich über die Nebenwirkungen aufzuklären. Früher sei das sicherlich nicht immer in ausreichendem Maße gemacht worden: „Ich glaube aber schon, dass unter Frauenärzten ein Umdenken stattfindet. Insbesondere seitdem das Thema vermehrt in den Medien präsent ist.“ Aus diesem Grund seien Mädchen heute informierter wie noch ihre eigene Generation.

So ähnlich sieht es auch Lena aus Eppan, die für sich entschieden hat, keine künstlichen Hormone mehr zu nehmen: „Es wird oft vergessen, dass die Pille ein Medikament ist, das Nebenwirkungen mit sich bringt. Das sollte schon besser kommuniziert werden, denn viele Mädchen nehmen sie allzu leichtsinnig.“ Die 27-jährige hat außerdem positive Erfahrungen mit Alternativen gemacht: „Ich habe gesehen, dass eine effektive Verhütung auch auf natürliche Weise möglich ist“, erzählt Lena.

 

 

Die Frauenärztin Arquin informiert ihre Patientinnen ebenso über nicht-hormonelle Verhütungsmethoden, wie etwa die Temperaturmessmethode, die durch neue Technik eine relativ hohe Sicherheit gewährleistet: „Es gibt mittlerweile sogenannte Zykluscomputer, die anhand der Körpertemperatur der Frau berechnen, ob sie sich in der fruchtbaren Phase befindet. Diese Methode ist schon sehr effektiv, ich selbst habe viele Jahre gute Erfahrungen damit gemacht,“ erzählt die Frauenärztin. Die Methode ist dennoch komplizierter als hormonelle Verhütungsmittel, denn es gilt einiges zu beachten: „Damit die Temperaturmessmethode funktioniert, müssen die Voraussetzungen gegeben sein: der Zyklus muss regelmäßig sein, und die Frau sollte einen halbwegs regulären Tagesrhythmus haben.“ Diese Verhütung könne außerdem gut mit der Zervix-Methode ergänzt werden, wobei die Frau ihren Zervixschleim täglich prüft, der ebenso Aufschluss über die Fruchtbarkeit gibt.

All diese natürlichen Verhütungsmethoden geben Frauen zudem ein wichtiges Gut: Den eigenen Körper besser kennen lernen, das eigene „Frau-Sein“ umarmen. Und so führte diese neue Sichtweise zu einem interessanten Wandel: War die Entscheidung für die Pille in den 60er Jahren ein Zeichen der weiblichen Emanzipation, gilt es heute als emanzipiert, sich dagegen zu entscheiden, oder zumindest, künstliche Hormone kritischer zu hinterfragen und seinen natürliche Körperzyklus zu akzeptieren.