Politik | Medienpolitik

"Ein System der Gleichschaltung"

Die ungarische Forscherin und Medienexpertin Krisztina Rozgonyi über die Fehlentwicklungen in ihrer Heimat und warum die europäischen Nachbarn tatenlos zuschauen.
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Foto: Monika Saulich

Krisztina Rozgonyi weiß, wovon sie spricht. Mehrere Jahre war sie in Ungarns Mediensystem tätig, als Rechtsberaterin mit Fokus auf Digitalisierung und als Vorstandsmitglied und zwischenzeitliche Vorstandsvorsitzende in der ungarischen Medienregulierungsbehörde. Wegen der 2010 eingeleiteten illiberalen Wende des Landes, verließ sie ihren Posten, beratete vermehrt internationale Organisationen wie die OECD, den Europarat und die Vereinten Nationen und arbeitete weltweit als Medienrechtsexpertin, unter anderem in Ruanda, der Ukraine oder Thailand. Vor fünf Jahren kehrte sie Ungarn den Rücken und zog nach Wien. Dort lehrt und forscht sie am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. 

Salto.bz: Das meistgelesene Online-Medium Ungarns, index, ereilte vor wenigen Tagen unrühmliche internationale Aufmerksamkeit. Der Chefredakteur Szabolcs Dull wurde entlassen, ein Großteil der Mitarbeiter zeigten sich solidarisch und kündigten. Was war passiert?

Krisztina Rozgonyi: Zunächst ist es ist wichtig den Kontext zu kennen. Index ist das beliebteste Nachrichtenportal in der ungarischen Medienlandschaft. Der Grund dafür liegt in der Geschichte der Medien dort, die buchstäblich 1989 mit dem Systemwechsel begann. In den 90er Jahren und auch später wurden die traditionellen Medien, also die Printmedien und der öffentlich-rechtliche Rundfunk in journalistischer und berufsethischer Hinsicht noch ziemlich stark von den alten Eliten kontrolliert. Sie waren nicht gerade kommunistisch, aber es steckten dieselben Leute in den Medien, wie vor dem Systemwechsel.

Index und Origo, ein weiteres großes Nachrichtenportal, waren ein Ort für eine neue Generation von Journalisten und Publizisten, die eine völlig neue Art der freien und unabhängigen Berichterstattung in Ungarn etablieren wollten. Als Index aus der Taufe gehoben wurde, war ich selbst die erste Rechtsberaterin. Uns ging es damals nicht nur um den Start eines Nachrichtenportals, sondern um die Reform der ungarischen Medien. Beide Portale haben sich als sehr erfolgreich erwiesen. Aber beide erschienen nur online, hatten keine Printversion.

Was nun kürzlich geschah, war der Höhepunkt mehrerer Angriffe auf Index, die bis mindestens 2018 zurückreichen, als die erste große Übernahme in struktureller und eigentumsrechtlicher Hinsicht stattfand. Seitdem gab es viel Hin und Her mit der Redaktion und den Eigentümern. Vor etwa zwei Wochen eskalierten diese Konflikte. Der Chefredakteur wurde entlassen, nachdem einige Wochen zuvor eine vollständige wirtschaftliche und finanzielle Übernahme vollzogen worden war.

 

Im Grunde wurden alle unabhängigen Einnahmen umgeschichtet. Zu diesem Zeitpunkt war Index finanziell nicht mehr tragfähig. Darauf folgte die Kündigung der Verträge fast aller Journalisten, die aus freien Stücken dem Chefredakteur folgten. Die Eigentümer sehen sich bereits nach neuem Personal um, einige der Journalisten müssen ihre Arbeit vertragsrechtlich fortsetzen. Rechtlich gesehen gibt es Index also immer noch. Es gibt Gerüchte um ein neues News-Outlet. Das Problem: Index war wirklich groß und wurde auch von denjenigen Nutzern gelesen, die nicht politisch aktiv sind und die nicht verrückt nach Nachrichten sind. Es ist ein wirklich breiter Leserkreis, der völlig verloren gehen wird. Und das ist im Hinblick auf den Medienpluralismus ein großer Verlust.

Die Causa um das beliebte Online-Medium verdeutlicht nur eine von vielen Repressalien gegen die freie Presse, die in Ungarn seit Jahren auf der Tagesordnung stehen. Wie gelang es der regierenden Fidesz-Partei unter der Führung Viktor Orbáns seit 2010 die Medienlandschaft in Ungarn derart umzubauen?

Was sich seit 2010 abspielt, ist ein strategisch aufgebautes System der Gleichschaltung. 2010 und 2011 wurden die rechtlichen Grundlagen für diese Gleichschaltung, die Übernahme der freien Medien und die totale Kontrolle über die Medien geschaffen. Die damals eingerichtete Medienregulierungsbehörde ist heute in Europa die größte und mächtigste. Sie hat nicht nur Befugnisse über Rundfunkmedien, sondern auch über Printmedien, Community-Medien und über finanzielle Subventionen, zum Beispiel für die Filmindustrie. Sie ist eine Super-Regulierungsbehörde, und seit es sie gibt, hat in vielen Instanzen ein System der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Vereinnahmung stattgefunden.

Der Erfolg Orbáns war die systematische, strategische und absolut komplexe Übernahme und Gleichschaltung des ungarischen Mediensystems.

Seit Anbeginn im Zentrum stand die Oligarchisierung des Mediensystems. Verschiedene Oligarchen traten auf den Plan, um verschiedene Medien zu übernehmen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde im Grunde genommen zu einer Propagandamaschine und wurde extrem groß, mit dreimal mehr Kanälen als der ORF. Wichtig war auch die nationale Presseagentur, die sich in staatlichem Besitz und unter vollständiger staatlicher Kontrolle befand.  Ein sehr wichtiges Merkmal, über das in den internationalen Medien wenig berichtet wird, ist die Tatsache, dass die Nachrichtenberichterstattung der Agentur kostenlos zur Verfügung steht. Das war ein sehr wichtiger Beweggrund für die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien, Nachrichten aus diesen kostenfreien Quellen zu übernehmen. Wenn man in Ungarn mit dem Auto fährt und das Radio und die täglichen Nachrichten einschaltet und zwischen den Kanälen wechselt, hört man in jedem Kanal die gleichen Nachrichten. Es spielt keine Rolle, wem der Radiosender gehört. Sie benutzen alle die gleiche Quelle.

Sie sagten, die Regulierungsbehörde gehöre zu den größten in Europa. Was ist mit den rechtlichen und politischen Kontrollorganen?

Im Grunde genommen fehlen im ungarischen System Kontrollinstanzen seit zehn Jahren völlig. Das geht auf eine viel umfassendere Gleichschaltung auf Verfassungsebene zurück, die bis ins Jahr 2010 zurückreicht. Damals gewann die Fidesz die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, was es ihr ermöglichte, die Verfassung zu überdenken, einschließlich der öffentlichen Kontrollorgane. So wurden beispielsweise die Juristen der Generalstaatsanwaltschaft von der Fidesz nominiert, die gesamte Exekutive wird von der gleichen politischen Partei kontrolliert. Das einzige Fragezeichen bleibt das Justizwesen. Die Richter an der Spitze werden von Fidesz nominiert, aber das System ist noch nicht vollständig vereinnahmt worden. Noch nicht. Es gibt nämlich einige wirklich mächtige Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz. 

Reporter ohne Grenzen stuft Ungarn auf Platz 89 von 180 in der internationalen Rangliste zur Pressefreiheit ein. Kurz nach den Ereignissen um index, protestieren auch die Bürger Budapests gegen die Medienpolitik Viktor Orbáns. Dennoch zeigen kürzlich veröffentlichte Umfragewerte kaum gesehene Zustimmung für den Premierminister. Warum genießt Orbán nach wie vor eine breite Unterstützung der Bevölkerung?

Dafür gibt es nicht nur einen Grund. Was seit 2010 geschah, war wirklich eindeutig. Zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage. Der ungarische öffentlich-rechtliche Rundfunk, die den Oligarchen zugehörigen kommerziellen Medien, einschließlich kommerzieller Fernseh- und Radiosender, Print- und Online-Medien, Billboards und soziale Medien, alle werden von der Regierungspartei in einer äußerst systematischen Weise genutzt, um eine sehr direkte Botschaft zu vermitteln. Die Message-Control in Ungarn funktioniert also zu 200%. Wenn man eine Gesellschaft hat, die in vielerlei Hinsicht leidet, wegen finanzieller Nöte, wegen vieler tief verwurzelter Probleme, wie zum Beispiel dem Rassismus gegen die Roma. Dann können negative Tendenzen immer genutzt und verstärkt und gegen eine liberale offene Gesellschaft eingesetzt werden. Umfragen ergaben, dass viele Ungarn, die Angst vor Migranten haben, in ihrem Leben noch nie einem solchen begegnet sind. Hysterie und Propaganda wirken jedoch.

[...] das System ist noch nicht vollständig vereinnahmt worden. Noch nicht. Es gibt nämlich einige wirklich mächtige Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz. 

Zudem sind seit der Machtübernahme der Fidesz 10 Jahre vergangen. Was gerade passiert, bezeichne ich als Normalisierung. Ganz gewöhnliche Menschen wollen nicht täglich politisch aktiv werden. Sie wollen nur miteinander auskommen, sie wollen überleben und ein Einkommen haben. Und seit 2010 ist es das gleiche System, das für diejenigen, die es hinterschauen und verstehen, immer schlechter wird. Aber aus der Sicht eines einfachen Bürgers ist es dasselbe System mit dem er klarkommt. Dies ist Teil der Normalisierung. Vielen Menschen haben mittlerweile einen höheren Lebensstandard. Wenn man mit der Regierungspartei und dem System konform geht und nicht kritisch ist, dann hat man gute Chancen, mit beispielsweise EU-Projekten gutes Geld zu verdienen.

Was noch dazukommt: außerhalb Ungarns hat niemand, auch nicht die EU oder die Europäische Kommission, etwas Sinnvolles gegen die Situation in Ungarn getan. Diese Institutionen haben dazu beigetragen, das System zu etablieren und Orbán wirklich erfolgreich und populär zu machen. 

Eine 2016 bei der Europäischen Kommission eingereichte Beschwerde über die hohe Medienkonzentration in Ungarn wartet vier Jahre später auf ihren Abschluss. Bislang gab es auch noch keine klare Kante von Seiten Orbáns europäischer Volksparteifamilie (EVP) bzw. deren Vertretern. Eine Knüpfung der Corona-Hilfsmittel an Aspekte der Rechtsstaatlichkeit konnten im Europäischen Rat nicht wirklich konsequent durchgesetzt werden. Woran liegt diese Ohnmacht der EU? 

Das liegt vor allem am fehlenden politischen Willen. Es ist nicht der Mangel an rechtlichen Mitteln, der sehr oft als Grund genannt wird. Die EU und die Kommission hätten, wenn sie es wollten, mehrere rechtliche Mittel, um zu intervenieren. Die Grundrechtscharta der Europäischen Union würde die Kommission ermächtigen, in Fragen des Medienpluralismus in Ungarn einzugreifen. Es wird oft gesagt, dass sie dafür keine Autorität hätten, aber sie haben sie sehr wohl. Aber, wie Sie sagten, hat nicht einmal die EVP etwas Wichtiges oder Sinnvolles in diesen 10 Jahren erreicht. Der Grund dafür ist, dass viele Länder, darunter auch Deutschland, die bedeutenden Einfluss auf die Geschehnisse in der EU haben, wichtige wirtschaftliche Interessen in Ungarn haben. Die großen deutschen Industrieunternehmen in Ungarn, darunter Mercedes und Audi und mehrere andere große Unternehmen, erfreuen sich eines sehr günstigen wirtschaftlichen Umfelds, und solange sie dies tun, interessieren sie sich nicht so sehr für politische Querelen um Medienfreiheit oder was auch immer in Bezug auf Ungarn. Dies ist eine der großen Enttäuschungen meiner Generation von Ungarn, die von einer Europäischen Union träumten, welche auf gemeinsamen Werten beruht. Es stellte sich heraus, dass diese Werte nur so lange wichtig sind, solange die wirtschaftlichen Interessen nicht Überhand nehmen.

 

Besteht die Gefahr, dass Ungarn zu einem Negativbeispiel wird, das möglicherweise andere Länder in Osteuropa oder auf dem Balkan anstecken könnte?

In gewisser Weise ist Ungarn als Land mit antidemokratischem Spin bereits eine Musterregion. Polen ist in vielerlei Hinsicht dem ungarischen Weg gefolgt. Zum Beispiel in Bezug auf systemische Angriffe auf freie Medien und wie man in der Europäischen Gemeinschaft ohne weiteres davonkommt. In vielen anderen Ländern sind die ungarischen illiberalen, undemokratischen Lösungen bei politischen Entscheidungsträgern sehr beliebt, die keine kritischen Medien, schon gar nicht einen unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunksender oder ähnliches sehen wollen. Die Tschechische Republik ist in Bezug auf Medienfragen leider ebenso ein sehr schlechtes Beispiel.

Dies ist eine der großen Enttäuschungen meiner Generation von Ungarn, die von einer Europäischen Union träumten, welche auf gemeinsamen Werten beruht. Es stellte sich heraus, dass diese Werte nur so lange wichtig sind, solange die wirtschaftlichen Interessen nicht Überhand nehmen.

Ungarn ist der Wegbereiter für undemokratische Tendenzen in anderen Ländern. Genau deshalb glaube ich, dass es unheimlich problematisch war, als bei den Verhandlungen über den EU-Haushalt und die Corona-Fonds diejenigen Länder, die zunächst darauf bestanden, Finanzhilfen an rechtsstaatliche Kriterien zu knüpfen, mit der Zeit sehr viel schwammiger wurden. Hier fehlte z.B. auch bei der österreichischen Regierung eine klare Positionierung, um zu vermeiden, dass die ungarischen und polnischen Negativbeispiele sich ausbreiten und mehr Munition für antidemokratische Bestrebungen liefern würden.

Dabei sind Aspekte der Rechtsstaatlichkeit doch zentral für jene Länder, die einen Beitritt zur EU anstreben?

Ich bezweifle, dass diese vagen Bedingungen hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit, die von den Staats- und Regierungschefs gebilligt wurden, tatsächlich ernst genommen werden. Das ist sicherlich eine entscheidende Frage in den kommenden Jahren. Und natürlich auch, wie andere Länder aus den schlechten Erfahrungen Ungarns lernen werden und ob sie zu verhindern wissen, dass diese in der Union, und den Nachbarstaaten Schule machen.