Kultur | Salto Afternoon

Meine Lehre war die Kindheit

Eine Erinnerungsreise nach Lana und in die eigene Vergangenheit. Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller eröffnete gestern die Literaturtage in Lana.
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Foto: Salto.bz

Erinnerungen an Lana

„Das sind die faulsten Bäume, sie stehen da rum, sind immer grün und lassen die Schultern hängen.“ Diese leicht boshafte Beobachtung Herta Müllers aus dem Jahre 2002 über die vielen Tannenbäume entlang der Brennerroute, sollte das Leben der Schriftstellerin noch nachhaltig verändern. Im September vor 17 Jahren reiste sie gemeinsam mit Oskar Pastior und Ernest Wichner nach Lana, wo der bekannte Schriftsteller Pastior – er wurde 1927 im rumänischen Hermannstadt in Siebenbürgen geboren – seinen 75. Geburtstag im Rahmen einer Lesung beim Verein der Bücherwürmer feierte.

Auf dem Weg in die kleine Südtiroler Literaturgemeinde nahm Müllers Buch Atemschaukel seinen Anfang, denn Pastior erzählte ihr, wie er einst im Lager eine Tanne aus Draht und Wolle nachbaute und welche Bedeutung dieser Baum für sein Leben habe. Aus der Diskussion über Tannen entstand eine Arbeitsgemeinschaft zur Aufarbeitung der Deportationsgeschichte Pastiors.
Im September 2009 stellte Herta Müller zur Eröffnung der Literaturtage Lana dann erstmals ihren Roman Atemschaukel vor, in welchem sie das Deportationsschicksal des drei Jahre zuvor verstorbenen Dichters und Freundes Oskar Pastior in der Sowjetunion verarbeitete. Einen Monat später wurde ihr dafür der Nobelpreis für Literatur verliehen.

Im gestrigen Gespräch mit Ernest Wichner wurde nicht nur an die Fahrt nach Lana mit Oskar Pastior 2002 erinnert, sondern auch an den Entstehungsprozess des preisgekrönten Romans. Im Anschluss stellte Herta Müller ihr neues Buch Im Heimweh ist ein blauer Saal vor.

Heimatliches

Zunächst ging es aber um den Begriff Heimat, dem zentralen Thema der diesjährigen Literaturtage. Das Gespräch der beiden begann Wichner mit einem Vergleich des rumänischen Minderheitengebiets Banat – wo beide Autoren herkommen – mit Südtirol: „Kannst du dir vorstellen dass man in Temeswar, oder anderswo, eine solche Veranstaltung macht?“ Sofort begann Herta Müller über ihren „sehr konservativen“ Herkunftsort zu sprechen, ohne ihn in den folgenden knapp 40 Minuten namentlich auszusprechen.


Herta Müller erzählte über die vielen Minderheiten im Vielvölkerstaat Rumänien, die Staatsidentität des Sozialismus und die Zeitungen in den Minderheitensprachen, deren Inhalte alle gleich politisch gefärbt waren, sowie über gefälschte Geschichtsaufarbeitung und die vielen Zusammenhänge die zu einer Weigerung führten, dass sich ihre Minderheit im Banat „mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte“, denn wenn es „die Rumänen nicht machen, warum wir?“
Diese mangelnde Beschäftigung mit der eigenen Geschichte führte dazu, dass sich das soziale Gebilde der Minderheit überhaupt nicht veränderte: „Es war eine stehengebliebene Zeit. Für mich waren es immer die 1930er Jahre – schrecklich!“

Ich hab mir immer gedacht, wenn man in dem Dorf bleibt, ist man alt. Man wird erst jung, wenn man das Dorf verlässt.
(Herta Müller)

„Was ist Heimat?“ unterbrach sich Müller plötzlich selbst und begann über Sprache und Dialekt zu sprechen. „In der Schule rutschte mir der Dialekt immer ins Hochdeutsche. Dann kam das Rumänische dazu. Wir kamen alle aus den Dörfern, haben Hochdeutsch gesprochen, da die Dialekte so verschieden waren.“ Müller beschrieb das notdürftige Überleben einer Minderheit, die sich wie in einer eingefrorenen, zerbrechlichen Glaskugel verbarg, in der es immer wieder rumorte  und in der kaum bis nichts zur Sprache kam: „Ich habe immer gedacht, Heimat ist etwas was man nicht ertragen kann. Die Leute sangen immer die gleichen Lieder, auf den Hochzeiten, wenn sie besoffen waren. Das war nicht auszuhalten. Eigentlich hat sie das Leben gar nicht interessiert.“
Instrumentalisiert wurden die deutschsprachigen Dörfer des Banat  wie auch die anderen deutchsprachigen Minderheitengebiete des Ostens  von den sogenannten Landsmannschaften des Westens: „Die haben nur immer von Deutschen, Deutschen und Deutschen gesprochen.“

Wenn Müller im Anschluss von ihrer Kindheit erzählte, sprach sie von „viel Einsamkeit“, von der „Verlorenheit in der Landschaft“, vom Leben im Wald, „in dem du ertrinkst vor lauter Grün und Leere“. Sie erinnerte an die Maisfelder ohne Ende, „in denen du alt bist, wenn du rauskommst“, an die „Landschaft als Panorama“ und ihre Leute, die sich „dieser Landschaft so bedenkenlos ausliefern“. Sie verurteile die reaktionäre Lebensweise der Menschen aus ihrem Dorf, die gnadenlose Kontrolle, sowie die „unendlich menschenverachtende Haltung“ gegenüber geistig und körperlich behinderten Menschen: „Wenn ich darüber nachdenke, ich hab das damals nicht verurteilt, da ich nichts anderes kannte. Aber es hat mich allein gemacht.“

Ich hab nie den Eindruck gehabt, ich könnte in diesem Ort froh sein. Glück, das Wort gab es dort gar nicht.
(Herta Müller)

„Wir mussten uns unsere ganze Erziehung aberkennen, denn 30 Kilometer von unserem Dorf hat die Erziehung nichts mehr getaugt. Sie hätte mich zum Idioten gemacht, wenn ich nicht an jeder Ecke wo ich ankam, bereit gewesen wäre, sie zu korrigieren“ erzählte sie dem Publikum in Lana und fügte hinzu: „Viele haben sie nicht korrigiert, die haben beispielsweise technische Berufe studiert, wurden Ingenieure und sind ein Leben lang mit der Aktentasche ins Dorf gefahren, hatten ihren Speck und ihr Brot in der Aktentasche und haben ihr ganzes Leben lang mit einer Selbstverständlichkeit die Nazilieder auf den Hochzeiten mitgesungen – mit den alten Kameraden.“

Jede Fremde ist besser, als eine Heimat die dich nicht leben lässt.
(Herta Müller)

Herta Müller hat etwas gegen Menschen, die beim Begriff Heimat „feindselig“ werden: „Dann sollte man eingreifen und sich einmischen. Etwa bei der AfD. Das sind Ideologen, die nur aus Machtgier und Nazinostalgie handeln.“