Gesellschaft | Politische Bildung

Geschichte soll in Zukunft anders laufen

Tutorin und Projekt-Mitorganisatorin Lucia Di Michele erzählt wie Arcis politische Bildungsplattform jungen Menschen das Bewusstsein aktiver Bürgerschaft vermittelt.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: Arciragazzi Bolzano

Immer wieder fällt der Spruch, dass die Zukunft in den Händen der jungen Generationen liegt. Klimawandel, Krieg, Krisen; summa summarum ein ganz schönes Päckchen, das ein junger Mensch auf seine Schultern gepackt bekommt. Aber was gibt ihnen die Gesellschaft dafür mit, außer Spott für Aktivismus und pessimistische Zukunftsszenarien? Arci und Arciragazzi Bozen packen diese Frage mit ihrem non-formalen politischen Bildungsangebot der „Piattaforma della Memoria e della Cittadinanza Attiva“ oder zu Deutsch „Plattform der Erinnerung und der aktiven Bürgerschaft“ an. Die Projektserie wurde innerhalb eines regionalen Netzwerks, mit Unterstützung der Ämter für Jugendpolitik und -arbeit der autonomen Provinzen Bozen und Trient, entwickelt und verfolgt bereits seit einigen Jahren die Mission, gemeinsam mit jungen Menschen das nötige Denkwerkzeug zu erarbeiten, um die Vergangenheit kritisch zu hinterfragen, die Gegenwart besser zu verstehen und gemeinsam an der Zukunft zu arbeiten. Dabei setzt sich die Plattform aus mehreren Projekten, wie etwa „Promemoria Auschwitz“, „Campi della Legalità“ (Antimafia Camp), „Ultima Fermata Srebrenica“ (Endstation Srebrenica) sowie etwa den neueren, vertiefenden Projekten „Anni di Piombo“ oder „On the Road“, zusammen. Auch wenn sich diese Projekte in ihren Schwerpunkten unterscheiden, verbindet sie ein roter Faden, der Politischer Bildung junger Menschen, fruchtbaren Austausch und die Förderung aktiver Bürgerschaft zu einem interaktiven Erlebnis machen.

 

Mit dem richtigen Denkwerkzeug lässt sich die Gegenwart verstehen und die Zukunft verändern

 

Ab dem Start des neuesten der drei Grundprojekte „Endstation Srebrenica“, im Jahr 2017, wurden die Projekte zu einem ganzheitlichen Angebot gebündelt. Der Mehrwert, dass die  Grundthematiken der Menschenrechte und des Rechtstaats in den verschiedenen Kontexten der Projekte immer wieder von anderen Perspektiven aus betrachtet werden können, legte eine derartige Verknüpfung nahe. Jungen Menschen, unabhängig von ihren Bildungshintergründen, soll Geschichte und Zeitgeschehen durch aktive Erfahrungen, Mitarbeit und Begegnungen nahegebracht werden. Lucia Di Michele nimmt bereits seit ihres Maturajahres im Jahr 2019 an den Projekten der Bildungsplattform teil, begleitet sie mittlerweile als Tutorin und organisierte bereits Projekte selbst. Im Gespräch schildert sie, wie sich in der kritischen Betrachtung sowie im aktiven Erleben der Vergangenheit und Gegenwart der Schlüssel zum Bewusstsein finden lässt, sowohl als Gemeinschaft als auch Einzelne/r, ein aktiver Teil der Veränderung für die Zukunft sein zu können.

 

 

salto.bz: Wie würdest du nun als Absolventin der Bildungsplattform deine Erfahrungen im Laufe der Projekte beschreiben?

Seit 2019 nehme ich an den Projekten der politischen Bildungsserie teil. Angefangen habe ich mit dem Projekt „Promemoria Auschwitz“. Danach habe ich am „Antimafia Camp“ (Campi della Legalità) teilgenommen und als letzte Station ging es für mich nach Srebrenica zu den Schauplätzen des Völkermordes. Da ich im selben Jahr auch meine Matura gemacht habe, war das ein ziemlich volles Programm, aber die Projekte waren mir eine große Hilfe dabei meine Interessen zu verorten, tiefe Überlegungen anzustellen und mich schließlich für ein Studium zu entscheiden.

 

Wir reisten an komplexe Orte, sprachen mit ZeitzeugInnen, lernten aktuelle Situationen und historische Ereignisse hautnah kennen.

 

Es war also eine Orientierungsphase für dich?

Ich hatte schon recht klare Vorstellungen bezüglich der Studienrichtung, aber ich war mir noch nicht sicher, worauf ich mich genau spezialisieren wollte. Jetzt studiere ich ‚internationale Studien und Entwicklungszusammenarbeit‘ in Trient, was mich sehr interessiert. Mit meiner Ausbildung möchte ich dann in ähnlichen Projekten mitarbeiten, wie jenen internationalen Kollaborationsprojekten der Plattform und junge Menschen dabei unterstützen bei derartigen Projekten mitzuwirken. Die Themen, wie etwa die Zusammenarbeit von internationalen Institutionen, die ich jetzt in meinem Studium behandle, kannte ich bereits dank der Projekte und das hilft mir sehr bei der Vertiefung der Inhalte. Wir reisten an komplexe Orte, sprachen mit ZeitzeugInnen, lernten aktuelle Situationen und historische Ereignisse hautnah kennen. Ich konnte die Tiefpunkte unserer Gesellschaft mit eigenen Augen sehen. Seit 2019 nehme ich immer wieder an neuen und bereits absolvierten Projekten teil. Zu Beginn aus persönlichem Interesse, mittlerweile als Begleiterin und Organisatorin.

 

 

Erinnerst du dich noch an deine anfänglichen Eindrücke?

„Promemoria Auschwitz“ war mein erstes Projekt. Natürlich, das KZ hinterlässt damals wie heute einen prägenden Eindruck, wirft Fragen auf und rückt die Gegenwart in ein kritisches Licht. Aber verändern kann man dort nichts. Beim Antimafia-Projekt in Palermo und dann in Srebrenica merkte ich hingegen, dass unsere Anwesenheit an den Orten eine wichtige Botschaft hinterlässt und etwas bewirkt. In Corleone, wo wir die Schulungen über die Mafia und die Anti-Mafia durchführen, arbeiten wir jeden Morgen auf Feldern, die von der Mafia beschlagnahmt wurden und von einer Sozialgenossenschaft in Corleone verwaltet werden. Bereits nach einer Woche des Mitanpackens sieht man, welch‘ große Hilfe man den Menschen leistet, die dort jedes Zeichen gegen die Mafia setzen. Auch in Srebrenica, also am Ort des Völkermords in Bosnien, wo man bei einheimischen Familien wohnt, spürt man wirklich die starke Wirkung, die die eigene Anwesenheit an jenem Ort hat, der immer noch so sehr von der Leugnung des Völkermords gequält wird. Bereits die Tatsache, dass junge Leute eine Gedenkstätte in Srebrenica besuchen, bewegt etwas in den Menschen, die den Völkermord leugnen. Es kann ihre Wahrnehmung ändern oder zumindest Fragen aufwerfen. Das ist auch eine große Hilfe für die Menschen, die dort leben und jeden Tag durch verschiedenste Aktivitäten und Zusammenschlüsse versuchen, das wieder aufzubauen, was der Völkermord ausgelöscht hat. Wir erleben dort auch freundschaftliche Begegnungen im lokalen Pub, wenn wir mit jungen SerbInnen unseres Alters Calcetto spielen, uns freundschaftlich begegnen und darüber sprechen, warum wir hier sind. Das entspricht häufig nicht den Narrativen, die sie von Zuhause oder in der Schule kennen und das lässt sie nachdenken. Wir sehen dabei, dass der Negationismus nicht etwa von Radikalen ausgeht, sondern jungen gleichgesinnten Leuten mit anderen Backgrounds mitgegeben wird. Das sind fruchtbare Begegnungen für beide Seiten.

 

 

Also sind die aktive Miteinbindung und Erfahrung der Schlüssel für das Bewusstsein für die Gegenwart und Zukunft etwas verändern können?

Das sind die wichtigsten Dinge. Wir leben in einer extrem komplizierten und schnelllebigen Welt. Fast jeden Tag gibt kommt etwas Neues dazu: der Ukrainekrieg, der Medienboom des Klimawandels, Migration oder die Bürgerrechtsfrage von Minderheiten. Wenn unserer Generation nicht vermittelt wird, dass die eigene Meinung und das eigene Handeln als Einzelperson oder auch als Gruppe tatsächlich zählen, läuft sie Gefahr, von einer Unmenge negativer Nachrichten überwältigt zu werden, ohne Anreiz für Veränderung oder Aktivismus. Wenn man stattdessen Denkwerkzeuge, wie kritisches Denken, Verständnis oder Empathie sowie konkrete Beispiele dafür bekommt, welchen Einfluss der/die Einzelne auf die Gesellschaft haben kann, weicht das Ohnmachtsgefühl gegenüber der Zukunft. Das ist besonders wichtig für unsere oft überforderte Generation. Deshalb sind derartige Projekte so wichtig, denn man lernt Menschen kennen, die an einer besseren und gemeinsamen Zukunft arbeiten, man lernt, dass die eigene Bildung wichtig ist, dass die eigene Persönlichkeit und die eigenen Ideen wichtig sind, und dass man tatsächlich etwas verändern kann.

 

Es gibt Menschen, deren Menschenrechte heute noch Tag für Tag verletzt werden, wogegen man selbst etwas tun kann!

 

Du sprachst von Denkwerkzeugen, könntest du das noch etwas ausführen?

Klar, nehmen wir Auschwitz. In der Gruppe setzen wir uns vor der Reise kritisch mit der Thematik auseinander. Die Werkzeuge, die man dadurch erhält, sind ein kritisches Bewusstsein und die Fähigkeit, bestimmte Konstrukte und Systeme innerhalb der Gesellschaft zu betrachten, die zu einem horrenden Endprodukt verkommen können. Man fängt also allgemein an, über bestimmte Themen und soziale Strukturen nachzudenken oder erkennt auch auf politischer Ebene bestimmte Manöver oder Diskurse, die Parallelen zur Vergangenheit aufweisen. Später, wenn man sich komplexeren Projekten zuwendet, bei denen man mit Zeugen oder Menschen zu tun hat, die täglich an bestimmten Themen arbeiten, lernt man, bestimmte Dynamiken in der Praxis besser zu verstehen und sich aktiv einzubringen, um etwas zu verändern. Man wird lebendigen Situationen aussetzt, die sich stets verändern, erfährt Geschichte über die eigenen Sinne und ist somit in der Lage die Gegenwart aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Das bedeutet ein/e aktive BürgerIn zu sein, der/die seine/ihre Rechte kennt und verstehen kann, wenn diese verletzt werden. Und selbst wenn die eigenen Rechte nicht verletzt werden, ändert dies nichts an der Tatsache, dass es Menschen gibt, deren Rechte heute noch Tag für Tag verletzt werden, wogegen man selbst etwas tun kann! Die Entschuldigung: „Naja, solange es mich nicht betrifft“, ist unzulässig.

 

Wie ist das für dich Gleichaltrige und Gleichgesinnte bei den Projekten als Tutorin zu begleiten?

Bei Promemoria Auschwitz sind oft neue TeilnehmerInnen dabei, OberschülerInnen und Uni-StudentInnen; also eig. Leute in meinem Alter. In Corleone, Srebrenica oder beim Projekt „anni di piombo“ in Bologna kennt man sich dann meist schon besser, weil viele bereits an einem der benannten Projekte teilgenommen haben. In beiden Fällen ist der Austausch immer etwas ganz Besonderes, denn man begegnet sich auf gleicher Ebene. Ich lerne immer wieder Leute kennen, die einen ganz anderen kulturellen oder sozialen Hintergrund haben als ich, aber aus dem gemeinsamen Interesse heraus da sind, bestimmte Themen oder herkömmliche Denkweisen zu hinterfragen. Es kann durchaus eine Herausforderung sein, Menschen, die praktisch in meinem Alter sind, an sehr komplexe Orte zu begleiten, da man in der Lage sein muss mit seiner eigenen Emotionalität oder auch oft schlicht mit seiner Müdigkeit umzugehen und sich in eine Gruppe einzufühlen, die diese Dinge erlebt und erst zu verstehen lernt. So lernte ich viel über mich selbst und über die Gemeinschaft. Darüber hinaus ist es immer wieder ein tolles Erlebnis Freundschaften zu knüpfen, sich wieder zu treffen und auch die gegenseitige Entwicklung zu sehen.

 

Beitrag von David Orrú.