Gesellschaft | Interview

„Urlaub von Fast-Food-Denken geprägt“

Führungswechsel im Alpenverein Südtirol: Nach fast 40 Jahren im Amt folgt auf Gislar Sulzenbacher nun Cristian Olivo – Gelegenheit, um mit ihnen nach vorne zu schauen.
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Foto: Salto.bz
Der neue Geschäftsführer des Alpenvereins Südtirol (AVS), Cristian Olivo, und sein Vorgänger Gislar Sulzenbacher sprechen mit salto.bz über alte und neue Herausforderungen für den heute professionalisierten Traditionsverein mit rund 75.000 Mitgliedern. Sulzenbacher leitete den AVS für 39 Jahre, sein Nachfolger wurde unter 50 Bewerber*innen in einem umfangreichen Verfahren ausgewählt. Olivo arbeitete zuvor als Lehrer und vertrat für fünf Jahre die Dorfliste im Montaner Gemeinderat, er ist Mitglied bei der Bergrettung.
Wenn wir nur Instagram-Tourismus produzieren, bleibt der Mehrwert auf der Strecke.
salto.bz: Herr Olivo, was werden die Schwerpunkte des Alpenvereins Südtirol für die nächsten Jahre sein?
 
Cristian Olivo: Es ist wichtig, das weiterzuführen, was angefangen worden ist. Dabei werden die Thematiken vor allem die Jugendarbeit und der Naturschutz sein. Wie Medien berichten, fehlt vielen Jugendlichen heute ein soziales Umfeld, wo sie sinnvolle und sinnstiftende Tätigkeiten finden und nicht nur in digitalen Medien unterwegs sind und möglicherweise sogar vernachlässigt werden. Hier hat der Alpenverein weiterhin die Aufgabe, der Jugend diese Tätigkeiten anzubieten, sie aber auch vorzuleben. In diesem Bereich wird von unserem Team große und wichtige Arbeit geleistet. Wir werden ebenso weiterhin mit den anderen Alpenvereinen DAV, ÖAV, SAC und CAI zusammenarbeiten, um den Alpenbogen gemeinsam zu schützen, weil er sonst wirklich in große Bedrängnis kommen könnte.
 
 
Die Alpen gelten als ein sensibler Lebensraum, der besonders stark von den Folgen des Klimawandels betroffen ist.
 
Cristian Olivo: Laut Studien soll sich die Durchschnittstemperatur im Alpenraum bis 2050 doppelt so schnell erhöhen wie die globale Durchschnittstemperatur, ohne globalem Klimaschutz könnten es bis 2100 rund 5 Grad sein.
 
Gislar Sulzenbacher: Der Klimawandel wird sich hier stärker manifestieren als außerhalb des Alpenraums. In diesem Kontext ist aber auch eine andere Frage zu betrachten. Rund um die Alpen gibt es urbane Ballungszentren. Viele Menschen, die dort leben, suchen in den Bergen einen Freiraum, um aus ihrem reglementierten Alltag auszubrechen. Südtirol befindet sich auf dem Scheideweg zwischen zwei Kulturen und zwischen großen Siedlungsräumen, dadurch ist es stark belastet.
Mailand, Turin, Venedig, München, Wien – die Leute gehen alle in die Alpen.
Cristian Olivo: Zum Teil hängt das auch mit der Erschließung des Geländes zusammen. Im Veneto sind die Berge weniger erschlossen, es gibt nicht so viele Schutzhütten, Wege und Forststraßen wie im mittleren Alpenraum. Zum Teil gibt es ganze Gebirgsketten, wo man 24 Stunden lang wandern kann, um eine Biwakschachtel zu finden. Dort gehen die Tourist*innen nicht hin, weil sie nach einigen Stunden in der Natur wieder zu einer Alm, einer Bushaltestelle oder zum Auto zurück wollen. Leute aus Mittelitalien könnten die Natur genauso gut im Apennin genießen, dort ist es wunderschön. Aber sie kommen in die Alpen und nehmen die zusätzliche Fahrzeit in Kauf, weil das Apennin über keine Infrastrukturen verfügt. Mailand, Turin, Venedig, München, Wien – die Leute gehen alle in die Alpen.
 
Wie beurteilen Sie die touristische Entwicklung der letzten Jahrzehnte in Südtirol?
 
Gislar Sulzenbacher: Wir leben, neben anderen Säulen wie der Industrie, dem Kleinhandwerk und der Landwirtschaft, größtenteils vom Tourismus. Südtirol ist vielfältig und bietet ein Paradies. Zudem profitiert unsere Mentalität von der Lebensfreude der italienischen Kultur, aber auch von dem Ordnungssinn der Deutschen. Wir haben versucht, zu investieren, aufzubauen. Vielleicht ist uns das ein wenig über den Kopf gewachsen. Nun ist die Erkenntnis da, Einhalt zu gebieten und Spitzenzeiten zu entfernen. Sowohl der HGV als auch die IDM wollen deshalb verstärkt auf den Ganzjahrestourismus setzen. Auch die Infrastruktur unserer Verkehrswege verträgt nicht mehr und es müssten die öffentlichen Verkehrsmittel besser genutzt werden.
 
 
Gleichzeitig geht der Trend im Tourismus dahin, immer für kürzere Zeiträume zu verreisen und auch das verursacht mehr Verkehr.
 
Cristian Olivo: Dieser Trend hängt aus meiner Sicht unter anderem mit den Arbeitszeiten der Personen zusammen. Als ich noch klein war, haben meine Eltern sechs Wochen am Stück Urlaub genommen. Früher war das einfach anders. Der Arbeitsmarkt hat sich verändert. Die Möglichkeit, für längere Zeit in Urlaub zu gehen, ist nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine zeitliche Frage. Es hat sich alles extrem beschleunigt. Und auch der Urlaub ist von einem Fast-Food-Denken geprägt. Ich fahre irgendwohin, teile mein Foto in den sozialen Medien, um allen zu zeigen, dass ich da war, und bin dann wieder weg. Das ist mittlerweile die Grundhaltung. Daran hat auch die kurzzeitige Entschleunigung während der Corona-Pandemie nichts geändert. Die Ursache des Kurzzeittourismus sind also nicht die Hotels, sondern sie tragen die Folgen davon.
 
Gislar Sulzenbacher: Man konsumiert Landschaft. Der Mailänder startet in der Früh, fährt nach Ranui, um das Kirchl zu fotografieren. Dann fährt er zum Pragser Wildsee und bleibt dort nur für 20 Minuten, weil der Parkplatz danach zu bezahlen ist. Genug Zeit, um auf dem Strand ein Foto zu machen. Auf der Rückfahrt werden bei einem Stopp noch die Drei Zinnen abfotografiert, um abends dann in Venedig Fisch zu essen. Das ist Realität. Darauf hat der Hotelbetrieb keinen Einfluss.
 
Welche Folgen hat das für die Hotellerie?
 
Gislar Sulzenbacher:  Die Frage stellt sich, wie durch den Tourismus Mehrwert generiert werden kann. Wenn wir nur Instagram-Tourismus produzieren, damit soziale Medien bedienen und das gesellschaftliche Ego befriedigen, bleibt der Mehrwert auf der Strecke. Es verursacht nur eine Menge Verkehr, die unsere Gesellschaft belastet, aber haben tun wir davon an und für sich nichts. Der Massentourismus hat sich zeitgleich mit dem Aufkommen der sozialen Medien entwickelt. Ich kenne den Pragser Wildsee gut, vor 15 Jahren war dort ein ruhiger Spaziergang noch kein Problem. Die sozialen Medien haben die Welt verändert.
 
Cristian Olivo: Heute wird erwartet, alles schon einmal gesehen zu haben. Als ich neulich mit Freunden klettern war, haben diese von ihrem anstehenden Skiurlaub in Norwegen erzählt und waren erstaunt, dass ich dort noch nie zum Skitourengehen hingefahren bin. Aber ich habe das nicht notwendig. Außerdem ist der kurzweilige, schnelle Tourismus nicht mehr tragbar. Es gibt in der Bletterbachschlucht im Winter Eiskletterer aus Florenz, die 800 Kilometer fahren, um ein paar Stunden hier zu sein. Ich habe sie im Bergrettungsdienst bei einem Rundgang getroffen. Das ist das Problem, das hat es früher nicht gegeben. Das hätte man sich früher wahrscheinlich auch nicht leisten können.
 
 
Herr Olivo, Sie sagten im Gespräch mit der Rai, dass Sie mit diesem Job einen „kontroversen Auftrag“ annehmen. Inwiefern kontrovers?
 
Cristian Olivo: Im Alpenverein Südtirol sind viele Referate beheimatet, etwa für Naturschutz, Jugend, Bergsport und Sportklettern, Kultur, Wege und Hütten sowie für Ausbildung und Kommunikation. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist keine einfache Sache. Einerseits plädieren wir für einen aktiven Klimaschutz, andererseits vertreten wir auch diejenigen, die das Auto nehmen müssen, wenn es keine Möglichkeit gibt, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln auf den Berg zu kommen. Es ist eine kontroverse Situation, weil man zwischen verschiedenen Interessen im Alpenverein einen Spagat finden muss, um diese Interessen kohärent und konsequent zu vertreten.
 
Herr Sulzenbacher, wie hat sich der Stellenwert von Klimaschutz beim Alpenverein historisch entwickelt?
 
Gislar Sulzenbacher: Mitglieder des Alpenvereins, Menschen die am Gletscher unterwegs sind, haben diese klimatischen Veränderungen stärker bemerkt als beispielsweise Menschen, die nur im urbanen Raum leben. Sie haben früher verstanden, dass es den Klimawandel gibt und es notwendig ist, hier gegenzusteuern. Gleichzeitig sind wir das Spiegelbild der ganzen Gesellschaft, in der es sehr unterschiedliche Interessen und Meinungen gibt. Gerade bei solchen Themen ist es deshalb schwierig, sich für die richtige Richtung zu entscheiden.
 
Welche Bemühungen gibt es beim Alpenverein für mehr Klima- und Naturschutz?
 
Gislar Sulzenbacher: Unsere Arbeitsgruppe zum Klimaschutz setzt sich aus den Sektionen und Referaten zusammen. Sie befasst sich mit schrittweisen, kleinen Aktionen, wo man die Menschen mitnehmen und sensibilisieren kann. Auch auf unserer Webseite zeigen wir Beispiele zum Nachahmen auf. Schauen wir weiter zurück, haben wir bereits vor 20 Jahren auf unseren Schutzhütten versucht, dort regionale Produkte anzubieten. Heute ist das Thema viel mehr im Kommen und es gibt viele intensive Diskussionen dazu im Alpenverein.
Wir vertreten alle Gesellschaftsschichten und Altersgruppen.
Beispielsweise haben wir diskutiert, ob die jungen Alpinist*innen unseres Förderprogrammes zum Bergsteigen ins Ausland fliegen sollen oder nicht. Diese Diskussionen sind wichtig, auch wenn sie nicht jeder und jedem willkommen sind. Wir sind als alpine Organisationen kontinuierlich in einem Spannungsfeld zwischen Naturnutz und Naturschutz – das betrifft sowohl einen Flug ins Ausland als auch die lange Anfahrt mit dem Auto für eine Bergtour in einem weitentlegenen Tal, die auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar wäre. Dadurch sind wir aber auch ein glaubwürdiger Partner, weil man merkt, dass wir keine kosmetischen Aktionen machen, sondern uns wirklich den Herausforderungen stellen.
 
Sie sind im Vergleich zu einer Bewegung wie Fridays for Future in der breiten Gesellschaft verankert.
 
Cristian Olivo: Wir vertreten alle Gesellschaftsschichten und Altersgruppen. Fridays for Future ist eine super Initiative, die aber primär von der Jugend, und das ist löblich, ausgeht. Bei uns geht es von den Kindern bis zu den Senior*innen.
 
 
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Michael Bockhorni Sa., 08.04.2023 - 10:16

Nach diesen Aussagen zum Fast Food Tourismus muss der AVS noch viel stärker sich für Kostenwahrheit im Verkehr sowie Beschränkungen des (fossil) motorisierten Individualverkehrs einsetzen. Leider wird in den Aussendung der Alpenvereinssektionen noch viel zu wenig auf die Anreise per Öffis oder mittels Mitfahrgemeinschaften gesetzt. Zumeist heisst es Treffpunkt beim Parkplatz XY und die Startzeiten sind nicht auf den Fahrplan der Öffis abgestimmt.

Sa., 08.04.2023 - 10:16 Permalink
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Dietmar Holzner So., 09.04.2023 - 10:55

Dass der HGV uns die Forcierung des Ganzjahrestourismus als generöse Tat verkauft, sollte Herr Sulzenbacher bzw. der AVS eigentlich als Strategie entlarven (und nicht auch noch gutheißen).

So., 09.04.2023 - 10:55 Permalink