Gesellschaft | Didaktik

Inklusive Bildung trotz Fernunterricht?

Professorin für Allgemeine Didaktik Simone Seitz erzählt, warum gerade jetzt inklusive Bildung wichtig ist, und wie sie trotz Fernunterricht gewährleistet werden kann
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Kreis - Gemeinschaft - Hände
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Salto.bz: Frau Seitz, Sie schrieben in einem Kommentar, das italienische Bildungssystem sei weltweit für seine Inklusion bekannt. Was genau ist mit inklusivem Bildungssystem gemeint und inwiefern ist Italien hier ein Vorreiter?

Simone Seitz: Inklusion bedeutet in einem Bildungssystem zunächst, dass niemand davon ausgeschlossen wird. In Italien ist es bereits seit mehreren Jahrzehnten selbstverständlich, dass alle Kinder unabhängig von ihren Befähigungen eine allgemeinbildende Schule besuchen können, dies wurde bereits in den 1970 Jahren gesetzlich geregelt.

Viele andere Länder haben neben verschiedenen allgemeinbildenden Schulen zusätzlich Sonderschulen ausschließlich für Kinder mit speziellen Bedürfnissen. Die Forschung hat gezeigt, dass diese Kinder sich hierdurch beschämt und entmutigt fühlen und sie weniger lernen, weil das Lernangebot hier insgesamt reduziert ist und ihnen die Anregungen aus der Gruppe fehlen. 2006 wurde von den Vereinten Nationen das Recht auf inklusive Bildung als Menschenrecht anerkannt. Viele andere Länder haben da großen Nachholbedarf und sind erst jetzt dabei, ein nichtaussonderndes Bildungssystem aufzubauen.

 

Hat Inklusion in einem zweisprachigen Land wie Südtirol nochmals eine andere Bedeutung? Oder betrifft Inklusion ausschließlich soziale Unterschiede?

Inklusion betrifft Gleichheit und Verschiedenheit in der Breite, dazu gehören sprachliche und kulturelle Vielfalt ebenso wie soziale Unterschiede, Geschlechterunterschiede und die Vielfalt von Befähigungen. Inklusion bedeutet einerseits die Vielfalt als kulturellen Wert anzuerkennen - die Mehrsprachigkeit in Südtirol ist hier ein gutes Beispiel. Inklusionsforschung fragt aber auch nach Ungleichheit und z.B. Ungleichbehandlung untersucht, wie und wo in der Gesellschaft Verschiedenheit mit Ungleichheit zusammenhängt.

 

Welches Modell wäre das Gegenteil von inklusiv?

Ich kenne das deutsche Bildungssystem gut. Dort gibt es in der Sekundarstufe elf verschiedene Schulformen nebeneinander, also neben drei allgemeinbildenden Schulen noch acht verschiedene Sonderschulen – für jede Beeinträchtigung eine besondere Schule. Die größte Gruppe sind dabei Kinder, bei denen Lernschwierigkeiten vermutet werden, was oft schon vor Schuleintritt passiert und besonders viele Kinder aus Familien in Armutslagen trifft. Diese Kinder erhalten dann ein reduziertes Lernangebot und drei Viertel von ihnen verlassen die Sonderschule ohne Schulabschluss. Eines der zentralen Probleme dabei ist also, dass auf diese Weise die Kinder mit den besten Voraussetzungen auch im Verlauf der Schulzeit die besten Bildungsmöglichkeiten erhalten und ausgerechnet die Kinder mit den schlechtesten Ausgangsbedingungen die schlechtesten Bildungsbedingungen.

 

Welche Nachteile bringt ein inklusives Bildungssystem, bzw. welche Kritik gibt es daran, die Länder davon abhält, eine inklusivere Bildungsphilosophie zu adaptieren?

Die Frage nach möglichen leistungsbezogenen Nachteilen inklusiver Schule wurde breit beforscht. Dabei zeigte sich: Inklusiver Unterricht wirkt sich nicht nachteilig auf den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern in der Breite aus. Die wichtigste Erklärung hierfür ist, dass sich der Unterricht dann insgesamt verändert. Der Schlüssel zum Gelingen liegt dabei darin, dass wir uns von der Idee verabschieden müssen, eine Gruppe sei homogen.

Wenn wir also der Vorstellung folgen, in einer Unterrichtsstunde könnten alle im Gleichschritt und zuverlässig exakt das Gleiche lernen, dann ergibt sich hieraus die Vorstellung, lernschwächere Schüler/innen könnten die lernstarken vom Lernen abhalten. Gezeigt wurde allerdings, dass sich hierbei zumeist an einem „Mittelmaß“ orientiert wird und sowohl besonders schnell als auch langsam lernende Kinder häufig abgehängt werden.

Wenn wir aber der Vorstellung folgen, dass jede Lerngruppe heterogen ist und aus vielen Einzelpersönlichkeiten mit unterschiedlichen Vorerfahrungen und Talenten besteht, dann kann sich hieraus eher ein Unterricht entwickeln, der die Unterschiede im Lernen berücksichtigt und davon können dann alle Schülerinnen und Schüler profitieren.

 

Welche neuen Herausforderungen im Bereich der Inklusion ergeben sich jetzt angesichts der Coronakrise und damit verbundenen Fernunterricht?

Grundlegend für Inklusive Bildung ist der schlichte Gedanke: Alle sind verschieden und alle sind Teil der Gruppe. Es geht also um die Zusammenführung von Verschiedenheit und Gemeinsamkeit.

Die Arbeit am „Wir“ ist daher zentral in der inklusiven Bildung – also peer-Beziehungen und das Lernen voneinander in der Gruppe sowie eine respektvolle pädagogische Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen.

Beziehungen aber leben wie wir alle gerade erleben von direktem Kontakt und gemeinsamen Erlebnissen. Arbeitsprozesse lassen sich einfacher digital gestalten als pädagogische Beziehungen und der Zusammenhalt in der Gruppe. Mit Lehrerinnen und Lehrern entwickeln wir daher gerade gemeinsam Ideen dazu, wie Kinder auch im Fernunterricht in Austausch gehen und zusammenarbeiten können und wie sich neben den ganzen Lerneinheiten auch mal digital eine „große Pause“ mit der Klasse organisieren lässt, in der die Kinder z.B. gemeinsam ein Quiz machen, Witze erzählen. Denn Schule ist für Kinder ja weit mehr als nur der Ort zum Lernen.

 

Welche Lösungen schlagen Sie vor, um Inklusion auch von der Ferne aus weiterhin zu fördern und zu gewährleisten?

Eines lässt sich aktuell lernen: Digitales Lernen funktioniert nicht, wenn wir uns als Lehrpersonen einseitig auf uns selbst, unsere Vermittlungstätigkeit und den „Stoff“ konzentrieren, dann erreichen wir die Schülerinnen und Schüler nicht. Der Fernunterricht zwingt uns dazu, die Kontrolle über das Lernen stärker abzugeben und die Fähigkeit der Kinder zur Eigenverantwortlichkeit im Lernen zu unterstützen. Das birgt wie oben gesagt auch Schwierigkeiten, aber auch Chancen, denn es zwingt sowohl uns als auch die Kinder, mehr über das Lernen nachzudenken. Es ist also wichtig, dass die Kinder sich nicht mit dem Lernen alleingelassen fühlen, sondern dabei unterstützt werden ihr Lernen stärker selbst zu organisieren und dazu angeregt werden, auch über das Lernen nachzudenken.

 

Warum ist Inklusion so wichtig? Und gewinnt Inklusion in diesen außergewöhnlichen Zeiten nochmals eine neue Bedeutung?

Zwei grundlegende Annahmen sind hier von Bedeutung: Alle Menschen haben die gleichen Rechte und die gleichen Grundbedürfnisse, z.B. nach sozialer Zugehörigkeit und Gesundheit. Zugleich sind alle Menschen verschieden und benötigen Unterschiedliches um sich gesund zu fühlen – der Bewegungsmangel und das eingeschränkte soziale Leben ist z.B. für Kinder und alte Menschen ungleich folgenreicher. 

Wir erleben zurzeit, dass die Pandemie uns in gewisser Weise alle gleich behandelt, weil das Virus keine sozialen Unterschiede macht. Aber an anderer Stelle treten Unterschiede stärker hervor –unterschiedliche Wohnbedingungen von Familien und häusliche Lernbedingungen für Kinder sind zurzeit deutlicher spürbar und die Solidarfähigkeit mit den Schwächeren ist besonders bedeutsam – dazu kann inklusive Bildungspraxis einen Beitrag leisten.