Gesellschaft | Glaubenskrise

Kirche ohne Priester

Im Mutterland der katholischen Kirche fehlen fast 9000 Pfarrer. Europaweit sinkt die Zahl der Priester unaufhaltsam.
Prete
Foto: upi

Aus den täglichen Warteschlangen am Petersdom auf die Stärke der katholischen Glaubensgemeinschaft zu schliessen, ist irreführend. Denn die Zahl der Gläubigen ist stark rückläufig, das Interesse an der katholischen Kirche sinkt rapide. Im Vatikan löst vor allem der wachsende Priestermangel tiefe Besorgnis aus. Nach jüngsten Daten der Bischofskonferenz fehlen im Mutterland der katholischen Kirche derzeit fast 9000 Pfarrer.

In den 25.610 Pfarren der Halbinsel gibt es nur noch 8705 Priester, deren Zahl jedoch unaufhaltsam sinkt. Viele von ihnen sind über 65 Jahre alt und müssen mehrere Pfarren versorgen. Einer der Rekordhalter ist Don Maurizio Toldo, der in Trient gleich für 19 Pfarreien zuständig ist.  Turins Erzbischof Cesare Nosiglia verdeutlichte letzthin die rapide Abnahme der Berufungen: "Bei meiner Übernahme der Diözese vor sieben Jahren gab es 550 Priester. Jetzt sind es noch 480 und viele davon sind alt. Drei Priesterweihen stehen jährlich 11 Pensionierungen gegenüber, die Situation wird immer schwieriger. Viele sind überarbeitet und schaffen es kaum mehr - auch aus Altersgründen."

Besonders dramatisch ist die Lage im Friaul. In Udine versorgt ein Priester im Schnitt acht Pfarren. Die Zahl der Gläubigen sinkt unaufhaltsam, nur noch 20 Prozent der Bevölkerung besuchen die Sonntagsmesse, weniger als 40 Prozent heiraten kirchlich. Italienweit stammen bereits über 1000 Pfarrer aus Asien oder Afrika - wie jener in Tisens.  

Auch vor Südtirol - einer ehemals  katholischen Hochburg- macht diese Entwicklung nicht Halt. 110 Priester sind für 280 Pfarreien zuständig. Hält der Trend an, wird es in 20 Jahren im Land nur noch 50 aktive Priester geben. Das laufende Jahr war eines ohne Priesterweihe - wie zuvor schon 2014 und 2015.  25 Pfarren müssen ohne ständigen Priester auskommen. Dort übernehmen Laien die Geschicke der Pfarrei - unterstützt von einem Seelsorger, der für die priesterlichen Aufgaben zuständig ist.

Viele Geistliche werden zunehmend von Zweifeln an ihrer Berufung geplagt. Italienweit lassen sich jährlich 45 in den Laienstand zurückversetzen, um zu heiraten oder Beruf zu wechseln. Viele beantragen eine Auszeit, anderen macht die Zölibatspflicht zu schaffen. "I tentativi di negare i disagi dei preti sono piuttosto forti", gesteht Don Enrico Parolari, Priester und Psychotherapeut der Diözese Mailand, der sich um solche Fälle kümmert.  "Si continuano a liquidare le difficoltà come colpe dei singoli che hanno perso spiritualità, le si considerano eccezioni patologiche, le si delegano a interventi psicologici disancorati dal progetto vocazionale. Insomma: le tipiche mele marce in un cesto di frutta complessivamente matura". E invece, "occorre accettare, almeno come ipotesi da vagliare, che le forme di disagio – incluse le meno gravi – possano essere la punta di un disagio anche istituzionale, insomma, un problema di tutta la Chiesa, della sua organizzazione, dell’identità presbiterale, del carico di responsabilità dei sacerdoti, delle relazioni interpersonali tra confratelli e tra preti e vescovi". 

 

Säkularisierung durch Referenden über Scheidung und Abtreibung

Der Rückgang von Priestern und  Gläubigen in Italien ist Folge eines Säkularisierungsschubes, deren Höhepunkte das Scheidungsreferendum und die Volksabstimmung über die Abtreibung 1981 waren. Beide waren von der katholischen Kirche und der Democrazia Cristiana zu regelrechten Glaubenskriegen umfunktioniert und mit Tönen bekämpft worden, die den Untergang des Abendlandes erahnen liess. Das Scheidungsreferendum von 1978, das Italien mehr erregte als Mondflug und Vietnamkrieg, besiegelte die historische Niederlage des Vatikans als selbsternannte moralische Instanz. Das Abtreibungsreferendum schliesslich war die letzte grosse Abstimmungsschlacht, die der Papst und die Kirche gegen den säkulären Staat führten - und verloren. Mit dem Untergang der einst allmächtigen Democrazia Cristiana in den Wirrnissen der mani pulite verlor die Kirche auch ihre politische Vertretung, deren Symbolfigur durch Jahrzente der Vatikan-Intimus Giulio Andreotti war. Den Rest hat sich die Kirchenführung in der Folge selbst eingebrockt: die zahllosen Missbrauchsfälle, die von den Vorgängern des jetzigen Papstes nur lau verurteilt und kaum geahndet wurden, die Vatileaks-Affären, die Machtkämpfe in der Kurie, die Weitergabe interner Dokumente, die Verhaftung und Verurteilung des päpstlichen Kammerdieners Pino Gabriele und die Skandale in der Vatikan-Bank IOR haben dazu beigetragen, das Vertrauen in die Kirche nachhaltig zu erschüttern.

Dass die Missbrauchsfälle anhalten, hat vor wenigen Tagen die Verhaftung von Don Pio Guidolin bewiesen, dem Pfarrer des Stadtviertels Sant'Agata in Catania. Der beliebte Geistliche soll seit Jahren Minderjährige missbraucht haben ("Vi purifico con l'olio santo"). Der Generalvikar der Diözese, Monsignor Salvatore Genchi, der sich bei den betroffenen Familien entschuldigt hat: "E' una vicenda molto brutta." Auch in Reggio Calabria hat der Pfarrer Carmelo Perello vor wenigen Tagen einen Ermittlungsbescheid wegen Pädophilie erhalten.

Der dramatische Priestermangel ist letztlich auch das Ergebnis einer Wohlstands- und Konsumgesellschaft, in der sich der Stellenwert der Religion einschneidend verändert hat. Von dieser Glaubenskrise ist Europa der am stärksten betroffene Kontinent. Auf je 100 Priester entfallen dort bestenfalls noch 20 Besucher von theologischen Seminaren - Tendenz sinkend. Trösten kann man sich im Vatikan mit der Tatsache, dass weltweit die Zahl der Getauften zunimmt - vor  allem dank der Entwicklung in Asien und Afrika. Dass viele Pfarrer in Italien und anderswo nun aus diesen Kontinenten stammen, ist letztlich nur eine Art ausgleichende Gerechtigkeit für den Missionierungswahn, den die Kirche durch Jahrhunderte dort betrieben hat.