Politik | Jahresendansprachen

Die Reden der Präsidenten

Ein Vergleich der Ansprachen, die der deutsche und der italienische Präsident 2017 zum Jahresende hielten, zeigt erstaunliche Parallelen im Ungesagten. Warum?
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Da meine Frau und ich deutsch-italienische Grenzgänger sind, üben wir uns zum Jahresende in doppelter staatsbürgerlicher Pflicht. Wo sich andere einen Präsidenten anhören müssen, sind es bei uns zwei: den deutschen am 24., den italienischen am 31. Dezember. Diese Reden folgen Regeln, die sie fast zu kleinen Kunstwerken machen könnten: Präsidial abgewogen sollen sie sein, aber nicht langweilig; überparteilich sollen sie sein, aber durch konkrete Probleme auch Volksnähe zeigen; versöhnen sollen sie, aber sich dabei an Werten orientieren. Und vor allem sollen sie Optimismus ausstrahlen.

Kunstwerke sind einzigartig, weshalb ich die Reden von Steinmeier und Mattarella auch nicht vergleichen will. Stattdessen möchte ich nur auf das in beiden Reden Ungesagte eingehen, das sich auch deshalb in den Vordergrund drängt, weil es ihnen gemeinsam ist: Über Migration und Europa, die beiden großen Probleme unserer Gegenwart, sagten sie fast kein Wort.

Fast verschwunden: Thema Migration

Am 3. Oktober 2010, während seiner Rede zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung, erklärte der damalige Bundespräsident Christian Wulff in einem Anfall von Kühnheit, dass „auch der Islam zu Deutschland gehört“. Schon weniger Mut war zu der Lobrede nötig, die Gauck in seiner Weihnachtsansprache von 2015 auf die ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer hielt, als inzwischen fast eine Million Flüchtlinge ins Land gekommen waren. Weihnachten 2016 kam er nochmals darauf zurück, angesichts der Pegida-Demonstrationen schon mit erhobenem Zeigefinger: Die vielen Helfer zeigten doch wohl, „dass man Fremde nicht ablehnen und abweisen muss, um das Eigene zu bewahren“.

Dann hielt Frank-Walter Steinmeier am 24. Dezember 2017 seine erste Weihnachtsansprache. Inzwischen schien sich einiges verändert zu haben. Denn er sprach nun über Dörfer, aus denen die Ärzte, Tankstellen und Lebensmittelgeschäfte verschwinden, besonders in Ostdeutschland, aus dem die Jugend flieht und sich Stille ausbreitet. Was er sicherlich zu Recht ansprach. Aber deshalb kein Wort über die Flüchtlinge? Gründe gäbe es noch genug, sie reichen von Afghanistan über Syrien bis zu den Lagern in Libyen. Auch in der deutschen Innenpolitik ist das Thema alles andere als tot, siehe die Verhandlungen erst über „Jamaika“, jetzt über die Groko. Im Bild, das Steinmeier im Dezember von der heutigen Bundesrepublik malt, tauchen Flüchtlinge nicht mehr auf. Ebenso wie ihre Helfer: Sie verschwinden nun in der Anonymität der „Millionen Freiwilliger“, die bei uns „Verantwortung übernehmen“. Auf sie verweist er lobend wie alle seine Vorgänger.

Am Ende seiner Rede übt er sich im Verstehen: Die Welt um uns sei „in Bewegung geraten“, beständig würden wir „mit Unerwartetem konfrontiert“. Das „verunsichert uns auch, wir sehnen uns nach Beständigkeit, nach Gewissheit“ (wer hört hier nicht im Hintergrund die Glocken der „Heimat“ läuten?). Es ist der Versuch, sich in die Seelenlage von AfD- und CSU-Wählern therapeutisch einzufühlen – das „Wir“ signalisiert Verständnis, „verunsichert“ sind wir ja alle. Dann die Ermunterung: Man müsse trotz alledem „auch“ mutig und offen für das Unerwartete sein, sonst wären die Hirten von Bethlehem gleich auseinander gelaufen.

Ob das die AfD-Wähler ins Grübeln bringt?

Mattarella zieht nach

Nun das Erstaunliche: Auch in Mattarellas Silvesterrede kommen die Worte „Flüchtling“ oder „Immigration“ nicht mehr vor. Stattdessen spricht er vom notwendigen „Kampf gegen den Terrorismus“, worin sich sicherlich alle einig sind. Und redet ansonsten, wenn auch nur indirekt und etwas rätselhaft, das Problem klein: Es werde „behauptet“, dass „Italien vom Ressentiment erfasst“ sei, während er „ein anderes Italien“ kenne, das „zum großen Teil großzügig und solidarisch“ sei. Früher hatte er, der seit 2015 im Amt ist, über die Migration mit Empathie und Ausführlichkeit geredet, und schon damals prophezeit, dass sie ein „Dauerphänomen“ bleiben werde. Umso lauter tönt nun sein Schweigen. Dabei sagen die Umfragen, dass inzwischen jeder zweite Italiener „Angst“ vor den Immigranten bekundet, und die Rechte arbeitet erfolgreich daran, dies zur Hysterie aufzublasen. Denn sie kann sich gute Chancen ausrechnen, damit die bevorstehende Wahl zu gewinnen.

Man kann nur spekulieren, was gleich beide Präsidenten dazu veranlasste, das Problem der Migration und durch sie ausgelösten gesellschaftlichen Regression synchron herunterzufahren. Soll es durch Schweigen aus der Welt geschafft werden? Ist es der Reflex auf die Erleichterung, mit der viele Menschen registrieren, dass „nun endlich weniger kommen“ – und lieber nicht darüber reden wollen, mit welchen Mitteln es erreicht wird? Oder bereitet man sich darauf vor, angesichts unklarer Koalitionen mit allen politischen Kräften im Gespräch bleiben zu müssen? Bei der nächsten Regierungsbildung wird es Steinmeier mit der CSU zu tun haben, Mattarella mit der Lega, Berlusconi und Di Maio. Sie dürfen schon aus institutionellen Gründen wenig Ehrgeiz haben, den Lauf der Dinge zu verändern. Umso mehr sind sie Seismographen der Veränderung. Wie Eisenspäne, die sich neu ausrichten, wenn sich das Magnetfeld ändert.

Schweigen auch zu Europa

Das ist die zweite Gemeinsamkeit der Reden Steinmeiers und Mattarellas: Auch über Europa wird kaum geredet. In den Reden der deutschen Präsidenten ist dies schon seit Jahren der Fall, passend zu der Rolle, die Europa bisher in den Programmen der deutschen Parteien spielt (wir berichteten). Gaucks letzte Rede von 2016 streifte das Thema noch mit der Bemerkung, dass es „in der EU zunehmende Differenzen“ gebe. Steinmeier sprach zu Weihnachten viel von „unserem schönen Land“, aber nicht mehr von Europa.

In Mattarellas Silvesteransprache ist Europa optisch noch präsent: in Gestalt der Europafahne, die im Vordergrund neben der Trikolore steht (während bei Steinmeier ein grimmiger Bundesadler die Szene dominiert). Aber das Thema selbst ist heruntergedimmt: Ende 2016 sprach er noch von der Chance, die Europa gerade den Jungen biete, und zitiert die italienische Studentin, die ihm in New York voller Stolz gesagt habe, dass sie sich nicht nur als Bürgerin Italiens, sondern auch Europas betrachte. Ende 2017 blieb nur die Bemerkung, dass wir „Gefahr laufen, zu vergessen, dass wir in der längsten Friedensphase Italiens und Europas leben“. Es klingt fast beschwörend.

Zwar sprechen beide von der Zukunft, die man meistern müsse. Steinmeier sagt, dass man sich vor dem „Unerwarteten“ nicht „fürchten“ dürfe, und schöpft seinen Optimismus aus den Ansätzen, Verantwortung fürs Gemeinwohl zu übernehmen, z. B. in den verödenden Dörfern Sachsens. Mattarella spricht von der Notwendigkeit, die von technischen Innovationen und sozialen Umwälzungen geprägte Entwicklung unter Kontrolle zu bringen, um die Entstehung „neuer Ungerechtigkeiten und Marginalisierungen“ zu vermeiden. Alles gute Themen.

Aber von Europa als Projekt der Zukunft spricht in diesem Zusammenhang keiner.