Kultur | Salto Afternoon

Amok

Im Rahmen der Anthologie "Kein Groschenroman" wurde auch die Autorin Anne Marie Pircher für einen Textbeitrag eingeladen. Salto veröffentlicht ihn als Gastbeitrag.
Amok
Foto: Sprachspiele

Warteschleife vor dem Ticket-Schalter. Eine Dreiviertelstunde umsonst. Weil sich am Ende herausstellen wird, dass man für den Eurocity die Fahrkarte nur im Zug erhält. Mein Blick, eine Zufallsbegegnung. Die junge Frau steht am Ticket-Automaten weiter drüben. In einer anderen Warteschleife. Unauffällig und unscheinbar. Schwer zu sagen, ob eine von uns oder eine der anderen. Ein kurzer Moment nur, ein Aug in Auge. Und dann aus einem Nichts heraus dieser fürchterliche, ja entsetzliche Schrei. Als sei in ihrem Inneren etwas ganz und gar übergegangen. Ein Damm, der bricht und einer gellenden Stimme freien Lauf lässt. Das ganze Bahnhofsareal für Sekunden erschüttert. Ein scharfes Messer, das die monotonen Geräusche und Stimmen zerschneidet.

Tage und Wochen danach höre ich die Stimme immer noch.

Ich denke noch: Da passiert etwas. Aber kaum jemand, außer mir, nimmt Notiz von der Frau. Sie entfernt sich aus der Reihe und verschwindet lautlos über eine Treppe. Das Warten hat sie anscheinend an den Rand des Erträglichen gebracht. Ein Mann in meiner Nähe tippt sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und schüttelt den Kopf. Schon ist der Zwischenfall vergessen.
Ich stehe noch lange da. Mit geöffnetem Mund. Mit dem zerreißenden Ton im Ohr. Umsonst. Ich verlasse das Areal. Irgendwo ist mein Wohn- und Arbeitszimmer hergerichtet. Die ersten Blumen liegen brach. Der Himmel blau und dunstig. Tage und Wochen danach höre ich die Stimme immer noch. Nackt und unheilbar.

Salto wird in den kommenden Wochen einige ausgewählte Texte aus der Jubiläumspublikation "kein groschenroman / non solo un romanzo" veröffentlichen. Das kunstspartenübergreifende Festival "Sprachspiele/Linguaggi in gioco" hat sie zum 10-jährigen Bestehen des Festivals mit Texten zahlreicher AutorInnen herausgegeben.