Politik | Getrübte Evidenz

Territoriale Dimension der Autonomie

Minderheitenschutz ohne territoriales Bezugsfeld? Schwer vorstellbar. Trotzdem hält sich hartnäckig der Mythos vom Schreckgespenst der Territorialautonomie.
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Fahne Südtirol
Foto: Südtirolfoto/Othmar Seehauser

Die Ausgestaltung unserer Autonomie geht auf das Pariser Abkommen als Grundlage für eine Territorialautonomie zurück, in der minderheitenpolitische Schutzfunktionen mit einem sprachgruppenübergreifenden Governance-Konzept zusammenwirken. Der internationale Charakter der Autonomie ist zudem durch nachfolgende völkerrechtlich erhebliche bilaterale Rechtsakte sowie durch implizite Anerkennungsschritte bestätigt worden. Die explizit auf die „deutschsprachigen Bewohner der Provinz Bozen und der benachbarten zweisprachigen Gemeinden der Provinz Trient“ bezugnehmende „autonomen Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt“ wird im Pariser Vertrag als eigenständiger Kompetenzrahmen für die „Bevölkerung obengenannter Gebiete“ mit einem grob gefassten territorialen Bezugsfeld definiert. Fakt ist, dass mit dem Pariser Abkommen der Grundstein für eine Territorialautonomie gelegt worden ist.

Unschärfe in der territorialen Abgrenzung

Es wurde offen gelassen, wie „der Rahmen, in welchem die besagte Autonomie Anwendung findet“, aussieht. Wörtlich heißt es: „Der Rahmen (…) wird noch bestimmt“. Diese Unschärfe konnte als Chance betrachtet werden, eröffnete sie ja grundsätzlich die Möglichkeit für eine ad-hoc-Dimensionierung der Autonomie unter Abweichung von den bestehenden Provinzen (Trient seit 1922, Bozen seit 1927). Doch sie erwies sich als Schwachpunkt, denn gekommen ist es dann anders und das in einer schnellen zeitlichen Abfolge, während sich die Südtiroler noch Hoffnungen auf eine gebietsspezifische Lösung machten. In den ausschlaggebenden englischen und französischen Texten des Abkommen war jeweils von einer „regionalen Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt“ die Rede. Das Konzept der Region ist von der verfassungsgebenden Versammlung als generelle Lösung für die institutionelle Neustrukturierung des Staates aufgegriffen und als institutionelles Scharnier zwischen Staat und Provinzen am 22. Dezember 1947 eingeführt worden. Im Entwurf zur Verfassung war bereits am 27. Juni 1947 die Gründung einer Region Trentino-Alto Adige vorgesehen. Am 31. Jänner 1948, also noch im selben Monat des Inkrafttretens der neuen Verfassung, ist ebenfalls durch die verfassungsgebende Versammlung das erste Autonomiestatut beschlossen worden, das die zugesicherte Autonomie innerhalb der Region ansiedelte.

Die Region als Fassade

Tatsächlich erfüllte das erste Autonomiestatut nicht mehr als die Funktion einer „Fassade“ (Claus Gatterer), wenn nicht die einer staatlichen Käseglocke mit zentralistischer Majorisierungs- und Aushöhlungsbefugnis in Bezug auf die autonomiepolitischen Gestaltungsräume des Pariser Abkommens. Erst im Zuge der Ausarbeitung des zweiten Autonomiestatuts ist diese institutionelle Knebelung zurückgedrängt worden und erhielten die beiden autonomen Provinzen tatsächlich konsistente Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnisse. Als zwischen Staat und autonomen Provinzen geschaltete übergeordnete Dezentralisierungsinstanz ist die Region geblieben und genauso als institutionelle Klammer zwischen den beiden autonomen Provinzen. Sie wirkt als vielfacher Dreh- und Angelpunkt der Autonomie und wurde als solche bereits in der ersten Fassung von 1948 geschickt als Garantieelement der Autonomie des Trentino verankert, bestärkt durch die Präsenz sprachlicher Minderheiten in diesem Territorium. Sukzessive wurde die Wahrnehmung dieses Aufgabengebietes als charakteristisches und legitimatorisch relevantes institutionelles Politikfeld in der Trentiner Landesgesetzgebung entsprechend ausgebaut.

Region als Dachkonstruktion

Explizit festgehalten wurde im Pariser Vertrag, dass die eingangs angeführten deutschsprachigen Bewohner volle Gelichberechtigung mit den italienischen Einwohnern genießen und besondere Maßnahmen „zum Schutze der völkischen Eigenart und der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der deutschen Sprachgruppe“ zu ergreifen sind. Die institutionelle Architektur der Autonomie, die mit dem Autonomiestatut von 1972 verwirklicht worden ist, behält den regionalen Rahmen als Dachkonstruktion bei, stärkt jedoch die Pfeiler der Autonomie der beiden autonomen Provinzen und erweitert – ganz im Sinne des Pariser Vertrages und im Gegensatz zum ersten Autonomiestatut – insbesondere die Zuständigkeiten der Autonomen Provinz Bozen. Dabei kommen einerseits Bestimmungen zum Tragen, die im Sinne des Minderheitenschutzes der deutschen Sprachgruppe zugutekommen – der ladinischen Bevölkerung allerdings in geringerem Ausmaß.

Verschränkung von Minderheitenschutz und territorialer Governance

Was andererseits die politischen Organe sowie die Gesetzgebung und Verwaltung anbelangt, wurde mit dem zweiten Autonomiestatut eine komplizierte Architektur der gemeinsamen kooperativen Governance umgesetzt, dessen Struktur durch die Verschränkung zahlreicher wechselseitiger Abstimmungserfordernisse und Garantieklauseln charakterisiert ist. Diese Architektur entspricht einem Konkordanzmodell der Demokratie mit konstitutiven minderheitenpolitischen Elementen für den gegebenen territorialen Rahmen, wie verschiedentlich in wissenschaftlichen Studien (u.a. von Günther Pallaver) ausgeführt. Als grundlegend für den Minderheitenschutz zunächst und in der Folge für die Gleichberechtigung der Sprachgruppen haben sich die Garantien zum Sprachgebrauch, zur Unterrichtssprache und zum Proporz erwiesen. Über die minderheitenpolitischen Schutzklauseln hinaus ist vor allem das Faktum relevant, dass die getroffenen Regelungen eine sprachgruppenübergreifende Governance installieren. Die jeweiligen Akteure sind also strukturell dazu angehalten, gemeinsame Ansätze für die Politik und die Verwaltung zu finden.

Als hilfreiche Instrumente für ein befriedetes Land sind auch die Klauseln anzusehen, die die Zusammensetzung der Landesregierung und des Regionalausschusses an die Sprachgruppenkonsistenz im Landtag bzw. Regionalrat binden, einen sprachgruppenmäßigen Wechsel in den Funktionen als Regionalratspräsident bzw. -vizepräsident, als Landtagspräsident und -vizepräsident vorsehen, in bestimmten Fällen getrennte Abstimmungen nach Sprachgruppen ermöglichen, den Ladinern ein Vertretungsrecht in den Landtagen einräumen oder den gering vertretenen Sprachgruppen den Zugang zu den Gemeindeausschüssen erleichtern. Leider sind im von zentralistischem Kontrolleifer geprägten Abschnitt zu den „Beziehungen zwischen Staat, Region und Land“ nicht jene Ansätze für eine proaktive Kooperation entwickelt worden, die wir heute brauchen würden, um die Beziehungen an positive Entwicklungsszenarien anzupolen.

Autonomiekonvent als lokale Kooperationswerkstatt

Eine Kultur der institutionellen Mehrebenenkooperation muss deshalb dringend entwickelt werden. Wir vermissen sie auf Seiten des Staates, müssen aber auch auf lokaler Ebene uns erst Zugänge dazu erschließen. Die Wahrnehmung und Anerkennung der Interessen der anderen Verhandlungsseite ist der erste Schritt. Klare Regeln können helfen Vertrauen zu schaffen. Vertrauen hilft, mit Regeln Verlässlichkeit zu verbinden. Der Autonomiekonvent könnte die letzten Monate seiner Arbeit dazu nutzen, eine neue parteien- und sprachgruppenübergreifende Gesprächs- und Verständigungskultur zu lancieren und damit über die absehbaren inhaltlichen Differenzen hinaus etwas zu schaffen, das Bestand hat. Doch wer kann die Politik und deren vielfältige Wirkungskräfte in der Gesellschaft oder die Medien dazu bewegen, im Hinblick auf die näher rückenden Landtagswahlen 2018 gemeinsame Ziele und Interessen in den Vordergrund zu stellen? Bekanntlich sind nämlich jene Wahlkampfstrategien erfolgreich, die in vereinfachender Übertreibung die eigene Position als einzig vernünftige und die eigene Person als einzig heilsbringende darstellen und dazu noch einen emotionalen Schlüssel finden, um die Kontrapunktierung zwischen dem eigenen Sendungsbewusstsein und der politischen Gegnerschaft emotional hochzukochen.