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Auf der Suche nach Identität

Eine Fernsehdokumentation oder ein Werbespot für Südtirol? Der Film der Regisseurin Birgit-Sabine Sommer wurde in Bozen, Meran und Bruneck vorgestellt. Nun läuft er im TV
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Foto: Langbein & Partner Media

Auf der Suche nach Identität: Südtirol 1919 – 2019. Der Titel ist irreführend, denn: gilt die Suche nach Identität dem Zeitraum zwischen den beiden angezeigten Daten, d.h. dem gesamten Zeitraum, oder sollte er Identität als solche wiederspiegeln? Interessant ist, dass es in dieser Dokumentation unter der Regie von Birgit-Sabine Sommer aus Deutschland hauptsächlich um ursprünglich deutschsprachige Einwohner dieses Gebietes geht, bzw. um solche, die eher in abgelegenen Orten leben, die autonom wirtschaften oder in guten Positionen im wirtschaftlichen Leben situiert sind. Sprich: die keine oder wenig Reibung im öffentlichen Leben spüren, nicht um Arbeitsplätze kämpfen müssen, die nach Proporzregeln funktionieren. Wo sind die SüdtirolerInnen, die einfach nur leben wollen, ohne dauernd mit der Frage „deutsch oder italienisch?“ konfrontiert zu werden? Es wird im Film zwar über Sitzungen in einem großen Betrieb erzählt, die in italienischer Sprache abgehalten werden, „um diese nicht zu vergessen“, oder vom sogenannten italienischen Stadtteil Bozens, dem ehemaligen Shanghai - heute die Zone der Semirurali -, wo (scheinbar) das Leben in Ordnung ist: da spricht ein Unternehmer, Geschäftsleiter eines großen Autounternehmens, von seiner deutschsprachigen Freundin, die ihn immer wieder korrigiert, wenn er ab und zu seine Kenntnisse rauszieht, oder von Geschäften, wo er - wenn er einkaufen geht - auch oft in deutsch angesprochen wird und dann problemlos ins Italienische abweicht... Er ist in einer typisch italienischen Bar interviewt, wo er dann noch einen älteren Freund trifft, der als Kind zugewandert war, samt Familie, damals, in den dreißiger-vierziger Jahren, denn hier gab es „casa e lavoro“... Davon sieht man auch malerische Fotos in schwarz-weiß. Wie es heute dort aussieht, sehen wir nicht...

 

Meraner Schülerinnen reden über Populismus in einer Schulstunde (wobei der einzige Name eines ehemaligen italienischen staatlichen Politikers fällt – warum eigentlich?) und dann werden sie noch in einem Straßencafè nach ihrer persönlichen Meinung zur Identität befragt, wobei hauptsächlich eine spricht, die bemängelt, im Vinschgau in den Dörfern nicht genügend Möglichkeiten zu haben, italienisch zu sprechen, und die froh darüber ist, dass Südtirol bei Italien ist und nicht bei Österreich, denn so ist man hier was besonderes, mit einem bisschen mediterranen Flair... Der Sohn einer gemischtsprachigen Familie (er zugewanderter Finanzbeamter aus Sardinien, sie deutschsprachige Südtirolerin) erklärt sich als „Weltenbürger“, denn er fühlt sich nirgends zuhause. Nicht umsonst findet er es in der Kunst, der einzigen Welt ohne Grenzen: er ist Writer. Aber kann er davon leben? Darüber wird nicht gesprochen. Wir sehen ein Abendessen, zusammengewürfelte junge Leute, sogenannte Einheimische mit sogenannten MigrantInnen, gemeinsam, lachend und essend – wie in einem Werbespot. Genauso sieht der gesamte Film aus, ein einziger Werbespot für die so heile Welt im Modell der Autonomie, Südtirol. Nicht umsonst scheint die IDM in den Schlusstiteln des 50minütigen Fernsehfilmes auf, der von der Wiener Filmproduktion Langbein & Co. für den ORF produziert wurde, mithilfe der Serviceleistung der Meraner Ammira Film.


Bestehend aus sprechenden Köpfen, stillen wunderschönen Landschaftsbildern (dank dem poetischen Auge des Drohnenfilmers, Alex Fontana), vielen historischen Informationen im Off und Archivmaterial, beginnt und endet, wie kann es anders sein, der Film mit Tausenden von Äpfeln, die auf Fließbändern eilig dahinpurzeln, die laut Stimme im Off, auch die schnellen Verkehrsstrecken darstellen sollen. Südtirol – das Apfelland; die damit zusammenhängenden Umweltprobleme für die Zukunft werden nicht mal in einem Nebensatz erwähnt. Die Unternehmerin in Großaufnahme wird immer wieder eingeblendet – später sehen wir noch ihren Mann und ihre Mulino-Bianco-Werbespot-Familie, wo die Oma doch mit Ach und Krach das „uno“ sagt, beim für die Aufnahme inszenierten Kartenspiel „Uno“, das wahrscheinlich nicht zufällig als Aufhänger gewählt wurde. Ein junger Bergführer und eine junge Berghüttenwirtin, Stefanie und Daniel Rogger, die mit ihrer Mutter auf einer Hütte am Rande der Provinz, beim Übergang zum nahen Veneto, leben. Auf der Alm gibt’s koa Sünd, heißt es in einer Redensart: hier wird munter gefeiert, mit vielen Touristen aus aller Länder, da gibt es wenig Sprach- oder Kulturprobleme, und ein Friedenspfad durch das nahe Dolomitengebiet wurde auch angelegt, um den Gefallenen des ersten Weltkrieges zu gedenken. „Deutsche Organisiertheit“ und „dolce vita“ will man da zusammenbringen.

Dann geht es zurück ins Jahr 1918, mit schwarz-weißen Home-movies der Familie des Minderheitenforschers Marc Röggla, wo wir daran erinnert werden, wie die Alpini-Einheit als Sieger in Bozen einmarschiert waren und sich daraufhin die „italienischen Machthaber“ angesiedelt hatten. Gedreht wurden diese Bilder (und weitere, die immer wieder eingeblendet werden) vom Großvater Röggla, der Optant war. Die deutsche Sprache war verbannt, in der Schule wurde nur italienisch unterrichtet, daneben gab es die sogenannten „Katakombenschulen“, wo heimlich in Verstecken deutsch gelehrt wurde. Es kommt nun die Option zur Sprache, denn 2019 ist auch das Jahr, wo sich die berüchtigte Abstimmung von 1939 zum 80. Mal jährt. Der Großteil der Südtiroler hatte sich für das Gehen entschieden, viel wurde ihnen versprochen, im Deutschen Reich, aber dass es damit nichts geworden war, das hören wir in diesem Film nicht, genauso nicht die Schwierigkeiten der Heimkehrer, nur dass es Spannungen gegeben hatte, zwischen den Gehern und den Dableibern, selbst innerhalb der einzelnen Familien. Aber hierzu gibt es schon einen detaillierten Fernseh-Mehrteiler: Verkaufte Heimat von Felix Mitterer.


Option – dieses Thema führt ins Unterland, wo viele deutsche Familien mit italienischen Namen leben. Hier kommt eine Oma mit Enkeln zu Wort, sie war eines der vier Kinder, die damals einfach aus dem Zug gesprungen waren, der den Rest der Familie nach Innsbruck bringen sollte... Hunger und Probleme, ja, jedoch heute schon lange gelöst, mit einem Bauernhof...

Das ist eine reiche Provinz, sehr reich, mit geringer Arbeitslosigkeit, hören wir im Off sagen. Wir lernen eine andere Familie in einem abgelegenen Seitental kennen, eine Bergbauernfamilie, deren Söhne nicht mehr ins Ausland müssen (in den 50er, 60er und 70er Jahren war das noch häufig der Fall - heute gehen sie aus anderen Gründen, aber das wird im Film nicht thematisiert, denn viele haben es satt, nur sprachlich-orientiert leben zu müssen...). Wir sehen sie wieder in Bilderbuchbildern, am Tisch in der Stube, beim Viehtreiben auf den Wiesen, für ihre Käseverarbeitung.


Eine heile Welt wird uns hier gezeigt, samt den „Bumsern“, die in den 60er Jahren auf Anleitung österreichischer Spezialisten – wie einer von ihnen, Herr Mitterhofer, erzählt – Sprengstoff an Elektromasten gelegt hatten, um die Autonomie zu erzwingen. Was sie erreichten, war eine hohe Polizeipräsenz in Südtirol sowie ihre darauffolgende Verhaftung, was sich wiederum auf das persönliche Familienleben reflektierte. Aber: wer hat denn heute Mitleid mit Kindern von Terroristen, weil sie – ach wie schade! – ohne Vater aufwachsen müssen? Ihre Apfelwiesen haben die Mitterhofers deshalb nicht verloren und als Volksheld gefeiert hat dieser dann noch eine populistische Partei gegründet, die Südtiroler Freiheit... Von anderen Parteien wird im Film nicht gesprochen, noch werden rechtsradikale Gruppierungen angedeutet, auf beiden sprachlichen Seiten. Aber vielleicht hat das nichts mit der sich wandelnden deutsch orientierten Identität zu tun?

Es gibt auch eine Kulturvermittlerin, die sich stark für übergreifende Projekte mit Jugendlichen einsetzt und die selbst aus einer sprachlich gemischten Familie stammt: ihr Großvater war ein Dableiber, dessen Name italianisiert wurde, während des faschistischen Regimes - wie der von vielen anderen, um weiterleben zu können. Der Vater von Sarah Trevisiol holt alte Fotoalben hervor, um sie der Tochter vor laufender Kamera zu zeigen: sein Vater war wohlhabender Inhaber eines handwerklichen Betriebes mit mehreren Angestellten, ein Glaser, später dann „vetraio“ genannt.

Die Regisseurin meinte es gäbe noch viel zu tun für die Zukunftsperspektiven, aber unser Minderheitenforscher mahnt: “keine Experimente, bitte!”

2019 bedeutet auch 50 Jahre Autonomieabkommen. Das sogenannte Paket wurde in Meran in Anwesenheit von Silvius Magnago, dem damaligen Landeshauptmann, und Aldo Moro, dem damaligen Regierungschef Italiens, im Meraner Kursaal feierlich abgeschlossen. „Die Vereinbarung mit insgesamt 137 Maßnahmen zum besseren Schutz der Minderheit leitete schließlich die Südtiroler Autonomie ein, die heute weltweit als vorbildhaft bezeichnet wird. Aber wie erleben die Südtirolerinnen und Südtiroler selbst ihre Autonomie?” So lesen wir es in der Pressemitteilung und spätestens jetzt wird der Auftrag klar. Dies ist der Ausgangspunkt, den galt es auf den Bildschirm zu bringen, den Weg von einer unterdrückten deutschsprachigen Identität hin zur heutigen, frei entwickelten. Frei? Ja, auf dem Papier, oder besser gesagt, nein, denn laut Papier muss man sich in eine der drei Sprachgruppen eingrenzen, um hier angenehm leben zu können. Aber das bleibt außerhalb, im wirklichen Leben, denn gemeinsames (?) Zusammenleben (?) gibt es im Kindergarten-, Schul- oder Berufsalltag vielleicht gerade mal in der dreisprachigen Universität, die natürlich auch als Vorzeigemodell ins Bild gebracht wurde.


Aber: was bedeutet denn eigentlich Identität? Arno Kompatscher meinte im Lauf der in Bozen nach dem Film statt gefundenen Podiumsdiskussion, er habe oft den Eindruck, dieses Wort sei in Südtirol erfunden worden, da es hier immer darum geht… Die Regisseurin meinte es gäbe noch viel zu tun für die Zukunftsperspektiven, aber unser Minderheitenforscher mahnt: “keine Experimente, bitte!” Von der Wissenschaft und der Kunst wissen wir aber, dass die besten Ergebnisse immer durch “Versuch und Irrtum” entstehen, “ent-stehen”, denn man kann sie nicht “her-stellen”.