Gesellschaft | Interview

Was Migration so mit sich bringt

Wie haben sich die Migrationsströme verändert? Wer wandert wohin? Und warum? Wer profitiert von Migration? Antworten vom deutschen Migrationsexperten Peter Bonin.
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Foto: salto

Mehr als 17.000 Mitarbeiter hat die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in über 130 Ländern weltweit. Einer davon ist Peter Bonin. Er leitet das Sektorvorhaben Migration und Entwicklung der GIZ, dessen Ziel es ist, “die entwicklungspolitisch positive Wirkung der Migration zu stärken und mit Migration verbundene Risiken zu mindern”, wie der Migrationsexperte selbst sagt. Vor Kurzem war Bonin in Südtirol zu Gast. Ende September nahm er an den Tagen der Entwicklungszusammenarbeit teil und berichtete von seiner Tätigkeit. In seiner Arbeit blickt Bonin weit über die innenpolitische Dimension von Migration hinaus und liefert Antworten, die die Komplexität und die Vielschichtigkeit des Phänomens ins Bewusstsein rufen.
 
salto.bz: Herr Bonin, wie haben sich die internationalen Migrationsströme in den letzten Jahrzehnten verändert?
Peter Bonin: Absolut gesehen hat es in den letzten Jahrzehnten einen bedeutenden Migrationsanstieg gegeben. 1990 betrug die Zahl der internationalen Migranten 155 Millionen, 2016 circa 250 Millionen. Der Anteil der Migrationsströme aus dem sogenannten Globalen Süden in den Globalen Norden hat zugenommen, auch wenn Süd-Süd Migration noch immer den größten Anteil der internationalen Migrationsbewegungen ausmacht. Wirtschaftlicher Aufstieg in Ländern wie Brasilien, China und Indien hat dazu geführt, dass diese Länder eine stärkere Anziehungskraft auf Migranten ausüben.

Wie schaut es mit der Migration in die andere Richtung aus, sprich vom Norden in den Süden?
Nord-Süd Migration – beispielsweise von Portugal nach Brasilien, Angola oder Mozambique – macht zwar den mit Abstand kleinsten Anteil der internationalen Migrationsströme aus, hat jedoch im Zuge der Wirtschafts- und Eurokrise an Bedeutung gewonnen.

Migration ist weltweit der drittwichtigste Faktor für Innovationen geworden.

Sind es vor allem Männer, die migrieren?
Keineswegs. Es ist eine sogenannte Feminisierung von Migration zu beobachten. Immer mehr Frauen wandern eigenständig auf der Suche nach Arbeit aus.
 
Sie haben es bereits angedeutet, aber doch die Nachfrage: Zwischen welchen Regionen der Welt finden heute die größten Migrationsbewegungen statt?
Entgegen weiterverbreiteten anderslautenden Annahmen macht Migration zwischen Ländern des Südens den größten Anteil der internationalen Migrationsbewegungen aus und zwar circa 36% der globalen Wanderungsbewegungen. An zweiter Stelle steht die Migration von Süd nach Nord. Das sind in etwa 35% der globalen Wanderungsbewegungen. Und die Nord-Nord Migration schließlich macht circa 23% aus.

Und aufgeschlüsselt nach Ländern?
Die größten Süd-Süd Bewegungen sind: Migration aus Süd-Asien nach West-Asien: vor allem aus Indien, Bangladesch und Pakistan in die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und Katar sowie Migration innerhalb Afrikas: beispielsweise von Zimbabwe nach Südafrika. Die größten Süd-Nord Bewegungen sind: Migration aus Latein Amerika nach Nordamerika: vor allem von Mexiko in die USA; Migration aus Afrika nach Europa, beispielsweise zwischen Marokko und Spanien; sowie Migration aus Süd-Asien nach Nordamerika und Europa, vor allem aus Indien und Pakistan. Die Nord-Nord Migration findet größtenteils innerhalb Europas statt.

Die größten Fluchtbewegungen finden derzeit vor allem zwischen Syrien und der Türkei und dem Libanon, zwischen Afghanistan, Pakistan, und dem Iran und innerhalb Afrikas (z.B. aus Süd Sudan nach Äthiopien, Uganda, Kenia oder Sudan) statt.

Es gibt verschiedene Theorien, warum Migration stattfindet. Welche sind die häufigsten Gründe, aus denen Menschen sich heute auf den Weg machen und ihre Heimat verlassen?
Freiwillige Migration wurde lange Zeit durch das klassische Push-Pull Modell erklärt: Aus dieser Perspektive migrieren Menschen aufgrund regionaler Disparitäten, beispielsweise Unterschiede in der Einkommensverteilung oder den Arbeitsmarktstrukturen. In den letzten Jahren haben jedoch mikrotheoretische Ansätze an Bedeutung gewonnen, die die individuelle Migrationsentscheidung stärker in den Mittelpunkt stellen. Migration kann nicht allein durch regionale Unterschiede und rationale Kosten-Nutzen Kalkulationen erklärt werden.

Sondern?
Häufig werden Menschen durch die Informationslage, die Ressourcen und mitentscheidende Rolle der Familie dazu bewogen, zu migrieren. Nicht nur sozio-ökonomische Überlegungen spielen eine Rolle, auch soziale Gründe, wie beispielsweise Migration zu Zwecken der Familienzusammenführung sind bedeutsame Migrationsursachen. Immer häufiger wird auf die Rolle von Netzwerken für die Migrationsentscheidung hingewiesen.

Wer sich nicht freiwillig aufmacht, tut das aus welchen Gründen?
Zu den akuten Fluchtursachen gehören Krieg, Bürgerkrieg und bewaffnete Konflikte, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung, sowie generalisierte Gewalt. Verantwortlich für ihre Entstehung sind meist strukturelle Ursachen, die den akuten Ur­sachen zugrunde liegen und sie bedingen. Beispiele für solche strukturellen Faktoren sind Armut, Ungleichheit, Diskriminierung, schlechte Regierungsführung, Ressourcenknappheit und Perspektivlosigkeit. Oftmals kommen dabei mehrere Faktoren zusammen. Erst wenn diese jedoch in gewalttätigen Auseinandersetzungen eskalieren, kommt es zu massiven Fluchtbewegungen wie es beispielsweise aktuell in Syrien der Fall ist. Auch aufgrund klimatischer Veränderungen, wie Bodenerosion oder Desertifikation, oder durch Naturkatastrophen sehen sich Menschen gezwungen zu migrieren. Vor dem Hintergrund des Klimawandels wird klimainduzierte Flucht und Migration in Zukunft eine immer größere Rolle spielen.

Der Gesamtbetrag der weltweiten Remittances betrug 2015 601 Milliarden Dollar, wodurch sie dreimal höher sind als offiziell geleistete Entwicklungshilfe.

Im Migrations-Diskurs hat es in jüngster Vergangenheit ein Umdenken gegeben. Das Phänomen wird nicht mehr nur schwarz-weiß gesehen. Und es ist gar von einer “Triple-Win”-Situation die Rede. Was steckt hinter dem Konzept?
“Triple Win” bezieht sich auf die Vorstellung, dass Migration sowohl für Herkunftsländer, Aufnahmeländer und die Migranten selbst förderlich sein kann.

Können Sie ein Beispiel für Migration als “Triple-Win”-Situation nennen?
In Deutschland beispielsweise gibt es einen großen Mangel an Pflegefachkräften, wohingegen nur wenige Fachkräfte in Serbien, Bosnien-Herzegowina und den Philippinen eine Arbeit finden. Idee des “Triple Win Projektes” der GIZ ist es, Pflegefachkräfte aus diesen drei Herkunftsländern an deutsche Kliniken, Altenpflegeeinrichtungen und ambulante Pflegedienste mit offenen Stellen zu vermitteln. Wenn die Entscheidung für die Arbeitsmigration nach Deutschland steht, unterstützen die GIZ und die Arbeitgeber in Deutschland die Fachkräfte bei der Einreise und helfen beim “Ankommen”. Zum Beispiel werden die Fachkräfte sprachlich und fachlich auf ihre berufliche Tätigkeit und ihr Leben in Deutschland vorbereitet. Innerhalb der ersten Monate in Deutschland erwerben sie parallel zu ihrer Arbeit die Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikation in Deutschland.


Peter Bonin mit Landeshauptmann Arno Kompatscher bei den diesjährigen Tagen der Entwicklungszusammenarbeit in Bozen. Sein Arbeitgeber, die GIZ unterstützt als weltweit tätiger Dienstleister die deutsche Bundesregierung bei der Erreichung ihrer Ziele in der internationalen Zusammenarbeit. Dabei arbeitet die GIZ in den unterschiedlichsten Feldern, von der Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung über Energie- und Umweltthemen bis hin zur Förderung von Frieden und Sicherheit.

Und wer “gewinnt” hier was?
Für das Aufnahmeland, in diesem Fall Deutschland, entsteht eine “Win Situation” durch die Besetzung offener und schwer besetzbarer Stellen. Auf der anderen Seite entlastet die Vermittlung der Fachkräfte den Arbeitsmarkt in den Herkunftsländern, die den jungen Menschen derzeit kaum eine Perspektive bieten können. Rückkehrende Fachkräfte können zudem mit ihren gewonnenen Kompetenzen dabei unterstützen, die Pflegesituation in den Herkunftsländern zu verbessern. Für die Migrant/innen besteht der Gewinn in der beruflichen und persönlichen Weiterentwicklung.

Migration birgt also Potentiale und kann auch durchaus positive Folgen für das Zielland haben?
Absolut. Qualifizierte Zuwanderung kann dabei helfen, den negativen Folgen des demographischen Wandels entgegenzuwirken. In Deutschland beispielsweise wird das Arbeitskräftepotenzial bis 2025 um 6,5 Millionen Menschen sinken; Deutschland verliert ab dem Jahr 2013 alle drei Jahre eine Million Personen im erwerbsfähigen Alter. Als Folge kann ein Fachkräftemangel das Wirtschaftswachstum in Deutschland bald verlangsamen. In Abhängigkeit von der Qualifikationsstruktur der Migranten und ihrer Integration in den Arbeitsmarkt können folglich erhebliche Wohlfahrtsgewinne in Deutschland durch Einwanderung realisiert werden. Das ist nur ein Beispiel für das Potential von Migration für das Zielland.

Entgegen weiterverbreiteten anderslautenden Annahmen macht Migration zwischen Ländern des Südens den größten Anteil der internationalen Migrationsbewegungen aus.

Welche wären weitere?
Migration von außerhalb trägt zum Arbeitskräfteanstieg bei: Migrant/innen machten im letzten Jahrzehnt einen bedeutsamen Anteil des Arbeitskräfteanstiegs aus. In Europa erfolgten durch Migrant/innen 15% der Einstiege in stark wachsende Berufe, etwa in Wissenschaft und Technik, und 24% der Einstiege in rückläufige Beschäftigungssektoren, zum Beispiel in der Produktion und dem Handwerkssektor. Außerdem wirkt sich Migration positiv auf den Außenhandel aus, durch geschäftliche und soziale Netzwerke von Migrant/innen, sowie eine Heimatorientierung im Konsum.
Auch kann Migration zur Innovation im Aufnahmeland beitragen: Die kulturelle Diversität der Migrationsbevölkerung wirkt sich positiv auf den Innovationsgrad aus. Eine Studie zeigte beispielsweise, dass ein Anstieg der kulturellen Diversität zu einem Anstieg an Patentanmeldungen führte.
 
Wie kann hingegen das Herkunftsland von Migranten profitieren? Vielfach wird ja von “Brain Drain” gewarnt, also davor, dass mit den Menschen Wissen abwandert.
Tatsächlich stellt “Brain Drain” für einige Länder und Regionen ein bedeutendes Problem dar. Auf der anderen Seite birgt Migration aber gleichzeitig enorme Potentiale für nachhaltige Entwicklung. Viele internationalen Migranten halten den Kontakt zu Freunden und Familie aufrecht, unterstützen und besuchen sie oder investieren im Herkunftsland. Manche kehren nach einiger Zeit ganz in ihr Herkunftsland zurück, andere pendeln zwischen beiden Ländern.

Eingangs haben Sie die steigende Wichtigkeit von Netzwerken erwähnt. Welche Rolle spielen diese?
Viele Migranten haben sich in Organisationen zusammengeschlossen und engagieren sich häufig bei der Verbesserung der sozialen Infrastruktur ihrer Herkunftsländer: Sie bauen Wasser- und Abwasserleitungen, errichten Gesundheitszentren, Schulen und Berufsschulen, kaufen Medikamente oder kümmern sich um die Energieversorgung in Dörfern. Doch es gibt noch weiteres…

Ja?
Dadurch dass Migranten die Situation im Aufnahme- wie im Herkunftsland kennen, können sie Marktlücken und wirtschaftliche Gelegenheiten nutzen. Sie gründen neue oder investieren in bestehende Unternehmen oder handeln mit Produkten zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland. Sie sind außerdem Berater und Vermittler von Investitionen und Handelsbeziehungen, da sie Kontakte und Know-how hier wie dort besitzen. Migration ist dadurch weltweit der drittwichtigste Faktor für Innovationen geworden.

Immer mehr Frauen wandern eigenständig auf der Suche nach Arbeit aus.

Neben Wissen fließt sicher auch viel Geld in die Herkunftsländer zurück?
Geldtransfers von Migranten, sogenannte Remittances, stellen ein weiteres Potential dar, ja. Der Gesamtbetrag der weltweiten Remittances betrug im vergangenen Jahr 601 Milliarden Dollar, wodurch sie dreimal höher sind als offiziell geleistete Entwicklungshilfe.

Was passiert mit diesen Rücküberweisungen?
Remittances werden oftmals  in Bildung, Gesundheit und Hausbau investiert und kommen nicht nur den Familien der Migrant/innen zu Gute, sondern können durch Multiplikatoreneffekte auch eine breitere Bevölkerung erreichen. In einigen Ländern, wie beispielsweise in Nepal, haben Remittances signifikant zur Armutsreduzierung beigetragen.
 
Welche Rolle haben Rückkehrer für die Entwicklung ihres Heimatlandes?
Für viele Herkunftsländer von qualifizierten Migranten wird die Gewinnung von rückkehrenden Fachkräften immer wichtiger.

Aus welchen Gründen?
Im Gegensatz zu “Brain Drain” kann Rückkehrmigration zu einem “Brain Gain” führen, da rückkehrende Migranten häufig Wissen, neue Ideen und Unternehmensgeist mit zurück bringen. Neben den erworbenen fachlichen Kompetenzen besitzen rückkehrende Migranten Kontakte, kulturelles Know-how und Sprachkenntnisse des Herkunftslandes und können so leichter als Berater und Vermittler von Investitionen und Handelsbeziehungen agieren.

Ist die Rückkehr in das Heimatland für jemanden, der längere Zeit im Ausland war, einfach?
Für eine erfolgreiche Re-integration im Herkunftsland und eine Ausschöpfung der Potenziale von Rückkehr für Entwicklung ist es entscheidend, dass die Rückkehr freiwillig erfolgt.

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Martin Daniel Sa., 08.10.2016 - 19:03

Interessanter Artikel, der das Phänomen ganzheitlich beleuchtet. Die von Peter Bonin - zurecht - als förderungswürdig bezeichnete qualifizierte Migration ("triple-win") scheint der von diversen, v.a. konservativen, deutschen Politikern geforderten Steuerung der Zuwanderung nicht unähnlich. Dieses Ansinnen wurde jedoch von Menschenrechtlern als "selektive" und inhumane - weil utilitaristisch motivierte - Auswahl der Zuwanderer abgelehnt. Vielleicht hatten diese deutschen Vorschläge aber nur den Nutzen des Ziel- und nicht auch jenen des Herkunftslandes im Auge.

Sa., 08.10.2016 - 19:03 Permalink