Kultur | Salto Weekend

Anruf bei Laurie Anderson

Ein Gastbeitrag von Nina Lex und Martin Santner aus der gestern in Berlin präsentierten Ausgabe des Magazins 39NULL. Am 13. Juli wird die neue Nummer im Kult vorgestellt.
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Foto: Gregor Khuen Belasi - Transart

„Ich mag Dinge, die ich nicht komplett verstehe“

Seit über vier Jahrzehnten gilt Laurie Anderson als eine der vielseitigsten und rebellischsten Künstler*innen abseits des Mainstreams. Ihre Kunst mäandert zwischen Theater, Musik, Tanz, Sprache, Film, ist eigenwillig, politisch, anarchisch und immer poetisch. Auf ein Genre festgelegt zu werden, lehnt sie strikt ab. 39NULL hat Laurie Anderson in New York angerufen und mit ihr über Freiheit, Radikalität und Empathie in ihrem Leben und ihrer Kunst gesprochen.

„1974 war ein furchtbar heißer Sommer in New York und ich dachte mir: Ich wette am Nordpol ist es richtig schön und eisig", erzählte Laurie Anderson einem Publikum, das sich in der New York Public Library zu einem Vortrag über die Arktik eingefunden hatte. „Und ich überlegte mir, ich geh' da einfach hin." Sie ging raus, stell­te sich auf die Houston Street und streckte den Daumen raus, um an den Nordpol zu trampen. Drei Monate später musste sie nach einem Un­fall mit einem Beil umkehren. Geschichten wie diese, von einer grenzenlosen Vorstellungs­kraft, einem unbeirrten künstlerischen Aus­druck und einer Unbekümmertheit, mit der sie solchen Spielereien nachgibt, die das Wort Freiheit heraufbeschwören, sind typisch für Laurie Anderson.

In den Siebzigern wurde Anderson zur zentra­len Figur der aufstrebenden New Yorker Downtown-Kunstszene: Gemeinsam mit ihren Freun­den Trisha Brown und Gordon Matta-Clark schloss sie sich einer Gruppe von Tänzer* innen, Künstlerinnen und Musiker*innen an. Mit ihnen veranstaltete sie in verlassenen Indust­riegebäuden in SoHo Performances, die ver­schiedene Kunstformen vermischten, während die Mainstream-Kunstwelt in namhaften Gale­rien sich die Beine in den Bauch stand oder Champagner in Andy Warhols Factory schlürfte. Mindestens ebenso sehr aus Instinkt wie aus Absicht wendeten sich Laurie Anderson und ihre Mitstreiter*innen von dem ab, was für ihr Genre als normal betrachtet wurde.


Andersons über 40 Jahre lange Karriere als Künstlerin ist nicht einfach zu kodifizieren. Seit den Siebzigerjahren hat sie ein Dutzend experimenteller Alben veröffentlicht, Filme gedreht und unzählige Installations- und Per­formance-Arbeiten gemacht. Sie war die erste (und letzte) Artist-in-Residence der NASA, von der ihre Solo-Performance The Endofthe Moon (2004-2006) inspiriert ist. Sie hat unter ande­rem mit Brian Eno, Philip Glass und Ai Weiwei zusammengearbeitet. Dazu gehört auch das 2010 entstandene Konzert für Hunde auf den Stufen des Opernhauses in Sydney, das sie mit ihrem verstorbenen Ehemann Lou Reed orchestrierte.

Anderson, 1947 in Illinois geboren, begann ihre Karriere als Bildhauerin und Malerin und widmete sich in ihren Werken später anderen Kunstgattungen und Ausdrucksformen wie etwa der Verbindung von Bildern, Tönen, Ge­schichten, Film und Musik. Danach versuchte sie sich als Performerin in den Straßen von Manhattan. Bereits in den Achtzigerjahren ex­perimentierte sie begeistert mit neuen Techno­logien und ihren Auswirkungen auf unsere Kommunikation.

Wie aber lässt sich Laurie Anderson dann künst­lerisch einordnen? Als Elektro-Pionierin? Perfor­merin? Anthropologin? Visuelle Künstlerin?

Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass Laurie Anderson als Ikone der künstlerischen Freiheit gesehen werden kann, die sich jeder Kategorie entzieht: „Ich bin wirklich glücklich, Multime­dia-Künstlerin genannt zu werden, denn es ist ein bedeutungsloser Begriff, der allerdings die Freiheit verschafft, alle möglichen Dinge zu tun, ohne dass jemand sagt: ,Du bist doch Bildhaue­rin, warum machst du Musik?' Es passiert so schnell, dass man in der Kunstwelt in eine Schublade gesteckt wird, und es gibt so viele Kräfte, die dich in verschiedene Richtungen drängen. Aber es sind Fallen. Denn dann sagen die Kuratoren: ,Das ist das Thema, also bleib auch dabei.' Ach wirklich? Ich will mich nicht einschränken lassen. Ich möchte Geschichten auf verschiedenen Ebenen erzählen."


Im Alter von sechs Jahren begann Anderson Vio­line zu spielen und konnte sich kaum etwas an­deres vorstellen, als Klassik-Solistin zu werden. Mit 16 hat sie den Traum wieder aufgegeben. „Ich habe dann urplötzlich mit allem aufgehört, weil mir bewusst wurde, dass ich nie etwas an­deres lernen werde, wenn ich diesen Weg wei­tergehe. Aber ich wollte ein Leben, das ich füh­len kann. Aufzuhören war sehr radikal für mich, wie von einer Klippe zu springen. Denn ich habe es geliebt und es war ja seit dem sechs­ten Lebensjahr mein Leben. Irgendwann habe ich verstanden, dass diese Jahre des Übens dafür da waren, mein Bewusstsein zu öffnen und meine Ohren zu formen.“

In Andersons Arbeiten scheint stets eine ge­wisse Launigkeit durch, derer sie sich selbst auch bewusst ist. Sie verweist auf das nieder­ländische Wort Niksen, das die Vorstellung mancher Leute beschreibt, „dass du wirklich mal versuchen solltest, nichts zu tun, um ,dich zu befreien', und dann würdest du richtig pro­duktiv sein und sogar noch bessere und an­spruchsvollere Dinge produzieren. Das ist die spätkapitalistische Welt: Leistung und Pro­duktivität. Aber der Preis dafür ist, dass du kein Leben leben kannst, das vielleicht ein­fach davon animiert wird, zu entdecken und Spaß zu haben. Die Welt scheint so sehr zu­rechtgemacht, beinahe kuratiert. Alles verliert seine Bedeutung, weil alles eine Bedeutung haben muss.“ Damit stellt sie sich gleichwohl gegen den zeitgenössischen Hype der Kon­zeptkunst: Nach Andersons Verständnis steht das Werk im Vordergrund, nicht das Konzept. Denn denkt man nur noch vom Konzept her, verkommt das Werk zu einer bloßen Illustra­tion. „Jedes Mal, wenn ich so eine konzeptio­nelle Show sehe, fühle ich mich sehr unwohl und denke: ,Was versuchst du hier zu bewei­sen?' Ich mag Dinge, die ich nicht komplett verstehe. In meinen Performances geht es mir nicht darum, zu sagen, wie es sein oder wie man handeln sollte. Das widerstrebt mir. Ich hasse es, wenn mir jemand sagt, was ich zu tun habe. Damit kann ich nicht arbeiten. Ich streue nur Provokationen, über die du nach­denken kannst, oder auch nicht. Das ist das Einzige, was ich tun kann." Das Unvollständige, Chaotische hält für sie ein kreatives Moment bereit, aus dem sie immer wieder neue Ideen schöpft.

Sich weder als Person einschränken noch als Künstlerin definieren zu lassen, ist das, was Laurie Anderson ausmacht: „Alles, was ich will, ist frei zu sein, frei von meinen Mustern, meinen Vorurteilen, meinen Vorstellungen davon, was gut oder schlecht ist. Ich möchte nur sehen, was ich wirklich sehe und nicht, was ich denke, dass es dort sein könnte. Freiheit im Zusam­menhang mit Arbeit heißt, dass man einen gewissen Sinn fürs Brechen von Regeln haben muss, dass man die Tabus findet. Irgendwo da, im Grenzbereich wird es interessant", sagt Anderson.


Diese Grenzen und Limitierungen der Freiheit sind es, die Anderson im Gespräch zu einem re­alpolitischen Vergleich veranlassen. Spricht man sie auf ihr persönliches Freiheitsverständnis an, antwortet sie mit einem Beispiel aus ihrer Gegenwart, ihrer Erfahrung, die sie einen Abend zuvor bei Film XY Chelsea gemacht habe: „Chelsea Manning ist jemand, die die Idee der Freiheit infrage stellt. Zuerst einmal: die Informa­tionsfreiheit. Als Whistleblowerin hat sie die Fra­ge gestellt, ob du, wenn du etwas Verstörendes siehst und du darüber verfügen kannst, Infor­mationen zu verbreiten, es einfach dabei be­wenden lässt? Chelsea war Bradley Manning, ein Soldat. Sie hat sich beim Militär verpflichtet, wo es um Vorschriften geht, wurde eingesperrt und dann hat sie ihren Wandel durchgemacht. Wir haben es also mit einer ganzen Reihe von Freiheiten zu tun. Danach ist sie wieder im Gefängnis. Die US Regierung hat ihr gesagt, dass sie viele Leben in Gefahr gebracht hat.“ Neben der Informationsfreiheit stellt sich für Anderson die Frage nach persönlicher, körperlicher, aber auch politischer Freiheit, die nicht selten auch davon abhängig ist, wer sie gewähren kann und wer nicht. Diese Fragen haben Anderson zeitle­bens beschäftigt.

Die heute 71-jährige Anderson wollte sich im­mer einmischen, nur zusehen reichte ihr nicht. Umwelt wie Politik thematisierte sie in ihrer Kunst gleichermaßen. Ohne sich etwa hilflos oder überfordert zu fühlen beobachtet Ander­son besorgt den Zustand und die Entwicklung unserer Erde: „Ich weiß, es ist nicht gut um un­seren Planeten bestellt, dennoch habe ich Hoffnung. Ich bin ein äußerst optimistischer Mensch, und deshalb entscheide ich mich, diese Probleme nicht zu ignorieren“, erklärt sie. „Ich möchte immer noch alles daran setzen, die Welt zu einem wunderbaren, schönen und aufregenden Ort zu machen.“

Als Musikerin politisch aktiv wurde Laurie Anderson dagegen schon mit dem Song O Superman bekannt. Ein achtminütiger Track über die Geiselkrise im Iran 1980, der 1981 Platz zwei in den britischen Charts erreichte. Sie schrieb in einem Gastbeitrag für die britische Zeitung The Guardian über den Song: „1979 stürmten iranische Studenten die US-Botschaft in Teheran. Amerika ist mit Hubschraubern an­gereist, um die Geiseln zu retten. Aber es ging großartig nach hinten los. Ein Hubschrauber und ein Flugzeug stürzten in der Wüste ab. Wir blieben mit toten Körpern, einem Haufen bren­nender Trümmer und den Geiseln zurück, die nirgends zu sehen waren. Also dachte ich, ich würde einen Song über all das und das Versa­gen der Technologie schreiben.“


Ihren Werken gemein ist, dass sie immer auf emotionalen Erinnerungen aus dem täglichen Leben aufbauen. Wie etwa in ihrem Dokumen­tarfilm Heart of Dog, in dem sie persönliche Verluste verarbeitet: Zuerst starb ihr Hund, dann ihre Mutter und schließlich, 2013, ihr Ehe­mann, Lou Reed. Diese Erfahrungen knüpft Anderson an prägende Kindheitserlebnisse, Liebesbeziehungen, Träume sowie Beobach­tungen zu Amerika nach 9/11.

Auch ihr umfangreicher Buchband All the Things I Lost in the Flood, der als Mix aus Zeichnungen, Multimedia-Installationen, Performances vier Jahrzehnte ihres Lebens als Künstlerin umfasst und zum allerersten Mal Augmented Reality miteinbezieht, handelt vom Verlust. Die Aufsätze untersuchen, wie Sprache und Bilder zusammenhängen, und stellen Fragen nach Schönheit, Zeit, Realität und Erinnerung: Was bedeutet es, in einem einzigen Moment wirklich zu leben, wenn man alles verloren hat? Wie fühlt es sich an, Dinge neu zu entdecken? Gibt es eine Bezie­hung zwischen Bildern, Geschichten und den Codes, die wir zur Darstellung verwenden?

2015 realisierte die Künstlerin die viel beachtete Performance Habeas Corpus, in der sie sich un­geachtet zahlloser Widerstände explizit in die beschämenden politischen Angelegenheiten der US-Regierung einmischte. In ihrer Installa­tion mit Skulptur, Audio und Live Streaming Video - so lautete der Untertitel der Perfor­mance - unternahm Anderson den Versuch, ei­nen aller Rechte beraubten Guantänamo-Häft- ling zu rehabilitieren, indem sie das Publikum durch das Betrachten ihres Videos dazu zwang, sich mit institutionalisierter Gewalt und Missbrauch im Namen von Schutz und Sicher­heit der US-Regierung auseinanderzusetzen.

Alles, was ich will, ist frei zu sein, frei von meinen Mustern, meinen Vorurteilen, meinen Vorstellungen davon, was gut oder schlecht ist.

Anderson erinnerte sich weiter an einen Flug von Europa zurück in die Vereinigten Staaten an dem Tag, als Trump sein Vorhaben, sich als Transgender identifizierende Personen von den Streitkräften auszuschließen, über Twitter ver­kündete. Ein entsprechendes Gesetz ist vor Kurzem in Kraft getreten. „Als ich sah, wie Trump diese Freiheiten ausräumte, verstand ich, dass es viele äußerst aufgeladene Themen gibt, die zwischen Freiheit und Tod hin- und herwech­seln. Sie können sowohl in der einen als auch in der anderen Weise definiert werden, je nach­dem, auf welcher Seite du stehst und wie du die Sache betrachtest. Für manche Leute entspricht das Recht auf Waffenbesitz ihrem Verständnis von Freiheit. Für andere bedeuten Waffen den Tod. Für manche Menschen heißt Abtreibung Freiheit, die Freiheit zu wählen. Für andere ist Abtreibung der Inbegriff des Todes. Diese grundlegenden Fragen verbergen sich hinter den politischen Auseinandersetzungen, die mit Problemen wie Tod in Verbindung stehen. Und hinter alledem steckt die Freiheit.“


Andersons künstlerischer Ausdruck bündelt das Moment des Eingesperrt-Seins, einer Beschneidung von Autonomie, und ihren emotio­nalen Ansatz zu einer Perspektive der in der Befreiung durch Empathie gelingt. In diesem Zusammenhang kommt Laurie Anderson auf eine Podiumsdiskussion in Houston zu spre­chen, an der sie vor ein paar Jahren teilgenom­men hat, zusammen mit anderen Autorinnen und Künstlerinnen, darunter Mitglieder von Pussy Riot, die Erfahrungen damit gemacht hat­ten, eingesperrt zu sein. Sie fragte sie, welche Lehren sie aus ihrer Inhaftierung gezogen hät­ten. „Sie alle sagten, dass sie ein starkes Bedürf­nis hätten, anderen zu helfen, die eingesperrt sind. Und ich dachte: Moment mal! Woher kommt dieser große Wandel? Das war nicht die­ser schrille Ruf nach Gerechtigkeit, den man aus anderen solchen Situationen vielleicht kennt. Stattdessen haben sie alle gesagt, dass das Gefängnis und der Freiheitsentzug ihren Sinn für Empathie verstärkt habe. Ich nehme an, dass jeder, der fähig ist, Leiden irgendwelcher Art zu erfahren, hoffentlich in Mitgefühl die bessere Antwort sieht und nicht in Rache.“

Mit den verschiedenen Personifikationen von Freiheit, die Anderson aufgreift, also Chelsea Manning oder die politischen Aktivistinnen von Pussy Riot und zu guter Letzt Greta Thunberg, der Initiatorin der Fridays-for-Future-Bewegung, verbindet sie eine essenzielle Hoffnung. Was nämlich allen gemeinsam ist, ist die Idee, Groß­artiges, Weltbewegendes schaffen zu können, allein durch ihren Glauben. Zuversicht, das wird im Gespräch mit Anderson klar, sieht sie nach wie vor im Widerspenstigen - und in der Empa­thie, mit der sie sich zeitlebens der Beschrän­kung der Freiheit entgegenstellen will.

Mit Unterstützung von Tanya Curnow


Salto in Zusammenarbeit mit 39NULL / Die Fotos für die Onlineveröffentlichung auf Salto.bz stammen von Gregor Khuen Belasi. Sie entstanden für Transart11