Gesellschaft | Reportage

Nimmerland - eine Reise durch Abchasien

So sieht also ein Land aus, das es offiziell gar nicht gibt, oder zumindest als Nationalstaat auf keiner Landkarte existiert.
Russische Soldaten in Pitsunda
Foto: Julia Tappeiner

So sah also ein Land aus, das es offiziell gar nicht gibt, oder zumindest als Nationalstaat auf keiner Landkarte existiert. Naja, außer in Russland, Venezuela, Nicaragua und einigen kleinen Pazifikinseln. 2018 erkannte auch Syrien Abchasiens Unabhängigkeit an. Aber im Rest der Welt ist das kleine Land kein anerkannter, autonomer Staat.

Die Marshrutka, die uns aus Georgien an die abchasische Grenze brachte, hatten wir ganz für uns. Normalerweise wartet der Fahrer, bis der Minibus sich mit Passagieren füllt, bevor er losfährt. In diesem Fall schüttelte er nur lachend den Kopf: “Da könnt ihr lange warten. Hier fährt keiner nach Abchasien.“ Und so stiegen wir in die leere Marshrutka, in Gedanken bei den Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes und den Worten unserer georgischen Bekannten: „Ihr werdet sehen, in Abchasien ist die Zeit in den 90er Jahren stehen geblieben. Das Beste ist, ihr geht nach zehn Uhr abends nicht mehr aus dem Haus. Das ist sicherer.“ Der letzte Abschnitt auf georgischem Boden war gesäumt von einer riesigen Nationalflagge und daneben gleich die Fahne der EU. Es wirkt, als wollte Georgien noch einmal seinen Standpunkt untermauern, bevor man auf die andere Seite gelangt.

Abchasien zählt neben Südossetien zu den beiden Regionen, die sich einseitig von Georgien unabhängig erklärt haben. Obwohl sich Abchasien bereits 1992 von Georgien abspaltete, sind die Fronten nach 26 Jahren noch genauso verhärtet. Knapp 250.000 Menschen, vor allem Georgier*innen, sind damals geflohen. Viele von ihnen leben noch heute in Vororten größerer georgischer Städte in Unterkünften, die ursprünglich ein Provisorium sein sollten. Lediglich in die Grenzregion der beiden Länder sind heute wieder einige Georgier*innen zurückgekehrt.

Als wir nach der georgischen Grenzkontrolle die abchasische Seite erreichten, hatte sich die sanfte Hügellandschaft um uns nicht verändert, der Himmel war genauso blau, die Sonne immer noch stechend heiß. Einzig die Militärbeamten und der viele Stacheldraht erinnerten an den Krieg, der hier vor nicht langer Zeit stattgefunden hatte. Ein Grenzbeamter, der mich an Adriano Celentano mit seinem schelmischen Lächeln und der neckischen Ausstrahlung erinnerte, sammelte unsere Reisepässe und Einreiseerlaubnisse ein. Das russische Wort Gosti – Gäste – fiel, Köpfe drehten sich nach uns um und erstaunte Augen richteten sich auf uns. Ausländischen Besuch bekommt das Land nicht alle Tage. Und plötzlich fielen mir die Unterschiede auf: Um uns wurde ausschließlich russisch gesprochen. Im kleinen Imbissladen daneben mussten wir mit russischen Rubl bezahlen, statt mit georgischen Laris. Die Autokennzeichen trugen die abchasische Flagge, die uns im Schatten des Grenzhäuschens entgegenwehte: Grün-weiß gestreift, in der Ecke eine weiße Hand und darüber sieben weiße Sterne auf rotem Hintergrund. Die Farben stehen für die das orthodoxe Christentum und den Islam, auch wenn letzterer kaum mehr vorhanden ist, seit zu Kriegszeiten die meisten Muslime das Land verlassen haben. Die Sterne symbolisieren die sieben Städte des Landes, während die Hand, wie zum Gruß gehoben, als Willkommenszeichen gilt. Die Gastfreundlichkeit, die wir aus Georgien kannten, scheint auf der anderen Seite nicht verloren gegangen zu sein.

Nach einer längeren Wartezeit wurden wir aus der Schlange gerufen und hinter die Grenzbaracken in eine etwas schickere Holzhütte geführt. Im inneren lief die Klimaanlage, hinter einem Schreibtisch saß ein junger Grenzbeamter in Militäruniform, an der Wand hang eine riesige Russlandflagge. Es roch nach Autorität. Der Beamte sah kurz auf, bat uns, Platz zu nehmen und widmete sich dann wieder seinem Papierkram. Während wir auf seine Aufmerksamkeit warteten, schweifte mein Blick nach oben auf die Holzdecke. Dieser Fleck hatte in der Vergangenheit wohl des Öfteren gelangweilte Blicke auf sich gezogen, denn es klebte ein Zettel darauf mit der Aufschrift rabotat, rabotat, rabotat – Arbeiten! – in immer größer werdenden kyrillischen Buchstaben. Eine halbironische Mahnung an faule Angestellte? Von Humor zeugten die Augen des Mannes hinter dem Schreibtisch allerdings weniger, als er sie auf mich richtete und, ohne die Miene zu verziehen, mit der Befragung auf Russisch begann. Wenn ich eine Frage nicht sofort verstand und um Wiederholung bat, wurde er lauter, fast schon verärgert. Ich begann zu schwitzen. Die Fragen nach unserem Reisegrund, unserem Wohnort und beruflichen Hintergrund fingen recht harmlos an, wurden allerdings zunehmend absurder. Wie wir die Leute in Georgien fänden?

  • Nett.
  • Wie, nett?
  • ja…gastfreundlich?

Das schien ihn zu überzeugen.

  • Wie habt ihr euch kennen gelernt?
  • Laura und ich studierten zusammen. In Georgien trafen wir auf Glenn aus Belgien, der nun mit uns reist.
  • Wo habt ihr euch kennen gelernt?
  • In einem Hostel.
  • Und wie?
  • Wie? Na, im Hostel.
  • Ja aber wie?
  • Wir haben geredet…
  • Hm. Und hat er euch angesprochen?
  • Naja, wir kamen halt so ins Gespräch.
  • Aha. Und dann?
  • Dann haben wir uns gut verstanden und daher beschlossen, weiter gemeinsam zu reisen.
  • Gut verstanden, so so…wollte er mit euch reisen? Oder habt ihr ihn darum gebeten?
  • Es war ein gemeinsamer Beschluss.

Er starrte uns kurz alle drei an. Die Reisekonstellation aus zwei Frauen und einem Mann muss ihm komisch vorgekommen sein, denn plötzlich löste sich seine strenge Miene und er konnte ein Grinsen nur mit Mühe unterdrücken. Überraschenderweise bildeten sich Grübchen an seinen Wangen, die ihn wie einen kleinen Jungen aussehen ließen. Ähnliche Reaktionen sollten wir in den kommenden Tagen des Öfteren erleben, nachdem wir vergewissern mussten, dass wir weder verheiratet, noch zwei von uns ein Paar waren. „Freundschaft zwischen Mann und Frau, geht das?“ War dann meist die Reaktion. Traditionelle Geschlechterrollen dominieren in Abchasien die Gesellschaft sogar noch stärker als in Georgien. Bars sind am Abend rein von Männern bevölkert, Frauen sieht man nach 20 Uhr kaum auf den Straßen, und wenn, dann ausschließlich mit Kindern und Familie.

Die Fragen des Grenzbeamten konzentrierten sich nun auf unseren männlichen Reisegefährten Glenn. Er fragte nach seinen Armbändern und deren Bedeutung und Herkunft. Er vergewisserte sich, dass Glenn keine Drogen konsumierte. Dann verlangte er die Übersetzung der Symbolik seiner einzelnen Tattoos. Allmählich bekam ich das Gefühl, er würde mit uns spielen. Seine Augen funkelten vor Überlegenheit und Spaß. Nach einer guten halben Stunde Befragung hatte er sein Machtspiel beendet und verkündete mit breitem Grinsen, dass er englisch spräche. Ich saß aufgebracht im Stuhl, und musste meinen Ärger unterdrücken. Er fügte auf Russisch hinzu: “Wenn man in ein Land kommt, muss man die Sprache sprechen. Außerdem hatte ich keine Lust auf Englisch.” Damit war die Debatte beendet, endlich durften wir Abchasien betreten.

Kurz hinter der Grenze warteten wir im kleinen Städtchen Gali auf die Marshrutka, die uns in die Hauptstadt Sukhumi bringen sollte. Der Busbahnhof war, bis auf einige wilde Pferde und Straßenhunde, menschenleer. Heute leben knapp 250.000 Menschen auf abchasischem Gebiet, vor dem Krieg waren es doppelt so viele. Sie sind vor allem von russischer Unterstützung abhängig, wirtschaftlich ist das Land allein kaum überlebensfähig. Überall fielen mir die riesigen leeren Werbetafeln auf. Auf dem weißen Hintergrund stand jedes Mal in großen Buchstaben sdajotsa, zum Vermieten. Die Nummer des Werbeanbieters darunter schimmerte fast vor Hoffnungslosigkeit. Wenn wir in seltenen Fällen doch plakatierten Tafeln begegneten, stammte die Werbung in 90% der Fälle von Telefonanbietern, die mit ihrem Internettarif warben. Die leeren Werbetafeln fassen gut die aktuelle Lage Abchasiens zusammen. Denn was soll verkauft werden, in einem Land, in dem neben landwirtschaftlichen Gütern keine Industrie besteht? Und wer will schon kaufen, von einem Land, das es offiziell nicht gibt? Der Export beschränkt sich auf Mandarinen und Nüsse nach Russland. Der wichtigste Wirtschaftszweig bleibt der russische Tourismus. Von Mitte Juni bis Ende August wimmelt es an der abchasischen Küste von Touristen aus Moskau, Krasnodar und Ekaterinburg. Aufgrund der großen abchasischen Diaspora hat sich in den vergangenen Jahren die Türkei als zweitwichtigster Handelspartner etabliert. Der Staat investiert viel in die kleine Region.

Nach einer Weile bog die erwartete Marshrutka mit ihrem Fahrer Batok um die Ecke. Er reagierte auf westliche Touristen wie die meisten Abchasier: Mit einer freudigen, stolzen Überraschung über den fernen Besuch, die fast schon als Ehre aufgenommen wird. Wenn jemand sich die Mühe machte, ausgerechnet nach Abchasien zu kommen, dann wollte man dem Gast beweisen, dass es sich gelohnt hatte, dass das Land seine Berechtigung und seinen Platz im Globus verdiente.

Batok strahlte eine beschwipste Gelassenheit aus, die nur sehr hoffnungslose Menschen an den Tag legen können. Er hatte immer einen Witz auf den Lippen, allerdings besaß der diese Art von Humor und übertriebener Freundlichkeit, die mit einer gewissen Aggressivität einhergeht.  Er lud uns zum Kaffee ein, ja drängte uns fast dazu. Er fragte, welche der Schokoladen in der Vitrine wir haben wollten. Als ich dankend ablehnte, entgegnete er aufgebracht: „Zuerst nimmst du eine Schokolade, dann bedankst du dich!“ Da wir noch keine Unterkunft für die erste Nacht in der Hauptstadt organisiert hatten, fragten wir ihn, ob er uns ein Hostel in Sukhumi empfehlen könne. Er musterte uns kurz, überlegte, stand wortlos auf und betätigte einen Anruf. Mit seinem Handy am Ohr wendet er sich an uns:

„Wie viele Zimmer?“
„Eines reicht.“
„Wie? Für alle Drei?“
„Ja.“

Er schob seine Sonnenbrille auf die Nasenspitze und starrte uns über die schwarzen Brillenränder ungläubig an. Nach drei schweigenden Sekunden brachen wir alle Vier in schallendes Gelächter aus. „Europäer“ murmelte Batok kopfschüttelnd. Er hatte uns am Ende einen Schlafplatz organisiert, in seinem eigenen Haus. Für wenig Geld vermietet seine Mutter einige der überschüssigen Zimmer des großen Hauses. Bevor wir endlich losfuhren, folgten noch vier erzwungen spendierte Bier. Uns wurde klar, dass es nicht Batoks erstes Bier des Tages war.

Mit dem Bier gewannen wir auch einen ersten Einblick in den Patriotismus Abchasiens der sich nach und nach verfestigte. Als ich fragte, ob das russisches Bier sei, entgegnete er entrüstet „Nein, das ist UNSER Bier!“ Selbst georgische Speisen, die wir in Tbilisi bereits oft gegessen hatten, reklamieren die Abchasier für sich. Nach ihrer Leseart sei alles in Abchasien entstanden, bevor es von den Georgiern übernommen wurde.

Als wir in Suchumi ankamen und ich mich kurz mit Batoks Vater unterhielt, passierte mir ein weiteres Malheur. In Georgien wurde mir oft gesagt, dass Italiener und Georgier ähnlich seien. Sowohl optisch, als auch kulturell. Daran wollte ich anknüpfen, als der Vater von Batok sich nach meiner Herkunft erkundigte:

„Ja, Italien. Wir sind uns ja ähnlich, Italiener und Georgier.“

Seine freundliche Miene veränderte sich.


„Ich bin kein Georgier! Ich bin Abchasier!“

Er wurde etwas aufbrausend. Ich wurde mir meines Fehlers bewusst und entschuldigte mich. Letztlich existieren einige kulturelle Unterschiede zu den Georgiern, derer wir uns nicht bewusst waren. Beispielsweise sprechen Abchasier eine eigene Sprache und verwenden das kyrillische Alphabet. Vor dem Krieg war die Region offenbar multiethnisch– neben der abchasischen Minderheit lebten Georgier, Russen, Armenier und Griechen dort. Bis Kriegsbeginn sahen sich viele Familien nicht mehr rein abchasisch oder georgisch, die kulturellen Unterschiede verschwammen. Auch Batok erzählte uns davon, seine Großmutter lebt noch in Georgien.

Für Abchasier ist es nicht einfach, über die Grenze zu kommen, um Verwandte aus Georgien zu besuchen. Ein Visum erhält man nur für Notfälle, etwa wenn man medizinische Versorgung aus Georgien braucht. Viele nutzen dies als Ausrede, um wenigstens einmal auf die andere Seite zu gelangen. Besitzt man neben dem abchasischen, keinen russischen Pass, so kommt man gar nicht in andere Länder, außer den wenigen, die Abchasien anerkennen. Heute kann man den russischen Pass beantragen, solange das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht ist. Nach dem Krieg hatte Russland eine Frist gesetzt, bis zu der alle abchasischen Bürger die russische Staatsbürgerschaft beantragen konnten. Wer diese Frist verpasst hatte und bereits volljährig war, besitzt heute nur den abchasischen Pass. Diese Menschen sind sozusagen im eigenen Land gefangen.

Es ist skurril, dass Menschen, deren Kulturen so nahe beieinander liegen, trotzdem so weit voneinander entfernt sind. Doch sich als Brüder zu sehen, so wie damals, ist noch zu früh. Der Krieg liegt nicht weit zurück, für die meisten Abchasier sind Georgier jene, die ihre Söhne, Ehemänner und Brüder umgebracht haben. Ein Denkmal der Kriegsgefallenen erinnert daran. Für unsere Helden steht darauf. Vielleicht, in zwei, drei Generationen, wird eine Annäherung möglich sein. Aber noch liegt der Krieg zu sehr im Gedächtnis der Bevölkerung. Er fällt in jedem Gespräch früher oder später. Und meist wirkt er wie eine Entschuldigung für alles was schief läuft im Land. „Seht ihr, wie schön es hier ist“, wiederholen die Bewohner oft. Das Meer schimmert türkis und geht in satte grüne Hügel über. Auf den Stränden allerdings liegt Müll, die Straßen sind voller Schlaglöcher und viele vom Krieg zerstörte Gebäude verfallen vor sich hin.  „Ja, leider ist es hier etwas heruntergekommen. Das liegt am Krieg, der hat alles zerstört,“ fügen sie dann hinzu. Das Wort Krieg schießt aus den Mündern der Erzähler wie eine erlösende Erklärung für Dinge, die nicht erklärbar scheinen. Es bedarf daher keiner keiner Selbstreflexion, keiner Kritik an politischen Entscheidungsträgern. Denn der Krieg ist allumfassend, abstrakt und niemals auf etwas Bestimmtes bezogen. „Wir sind nur noch sehr wenige,“ und dann wird wieder schnell hinzugefügt: „Der Krieg“, wie um klarzustellen, dass es nicht am Land lag, dass so viele geflüchtet sind. Der Krieg bringt keinen auf die Anklagebank und bedarf daher keiner weiteren Handlung. Er ist einfach da. Und so scheinen die Menschen sich mit dem Status Quo zufrieden zu geben, solange Russland weiterhin genügend Touristen bringt und mit Hilfsgeldern das Land am Leben hält. Einzig das Wachstum der Bevölkerung scheinen die Abchasier emsig vorantreiben zu wollen. So berichtete uns etwa ein Taxifahrer, dass Kinderkriegen das Wichtigste sei. „Wir müssen schnell wachsen!“

Aussagen aus Kriegszeiten kenne ich von zuhause nur aus Omas und Opas Mund. „Iss Kind, du musst bei Kräften bleiben“, sagte meine Großmutter oft und zwang mir eine zweite Portion auf, die ich eigentlich gar nicht wollte. Essen sei in deren Kindheit immer zu knapp gewesen, daher sollte ich es mehr schätzen. In Abchasien bestellte Kostja, ein Abchasier, mit dem wir den Abend verbrachten, im Restaurant so viel Essen für uns, wie es für drei Tage gereicht hätte. „Ihr müsst mehr essen, das ist wichtig, um gesund zu bleiben.“ Er war erst Ende zwanzig, aber ich erkannte in seinen Augen denselben Ausdruck wie bei meiner Oma, wenn sie mir zwei weitere Riesenknödel in den Teller schaufelte. Die jungen Abchasier von heute werden irgendwann selbst zu Alten. Deren Kinder und Enkel werden dann hoffentlich genauso kriegsverfärbte Aussagen ihren Großeltern zuschreiben, statt ihrer eigenen Erinnerung. Sie werden den Krieg nur aus Geschichten kennen, die so lange her sind, dass Brüder und Schwestern aus Georgien nicht mehr als Feinde betrachtet werden. Geschichten, die so lange her sind, dass man der Zeit die Chance geben kann, zu verzeihen, abzuschließen und mit der Annäherung und dem Wiederaufbau anzufangen.