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Südtiroler Klassenbücher

Ein Gastbeitrag der Autorin Astrid Kofler zu ihrem neuen Roman "Das Fliegen der Schaukel".
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Foto: Haymon

Im Zuge meiner Tätigkeit als Autorin von Reportagen und Filmdokumentationen, die sich vor allem um die einfachen und alltäglichen Momente drehen, um Menschen am Berg und ihre harte Arbeit, um Zeitgeschichte und darum, wie große Geschichte kleine Lebensgeschichten prägen kann, hatte ich das Glück, Klassenbücher aus den 30er Jahren mit Eintragungen einer Italienischlehrerin zu finden, die durchaus ein Interesse am Leben dieser Kinder und den Bergbauernfamilien hatte und sich viele Gedanken über das Schulsystem an sich machte, die vom heutigen Standpunkt aus pädagogisch höchst modern sind. Sie ist traurig darüber, dass ihre Schulkinder und sie es – aufgrund der Vorurteile beider Seiten – nicht schaffen, einander näher zu kommen. Sie verzweifelt fast, als im Jänner 1940 nur mehr ein einziges Kind in ihrer Klasse sitzt, die Eltern ihrer übrigen Schüler haben sich im Dezember 1939 im Zuge der Option und des Abkommens zwischen Hitler und Mussolini für die Auswanderung ins Deutsche Reich entschieden.

Diese Klassenbücher wurden zum Anlass, sozusagen zur Initialzündung dieses zweiten Romans, der, wie schon Lebenskörner vor einigen Jahren, auf Details aus dem Alltag zurückgreift, die ich als Journalistin und Filmemacherin erfahren und sehen durfte. So vieles zeigt sich bei der Begegnung mit Menschen, das in einer Reportage von 45 Minuten oder in einem Text von maximal zwölf Seiten nicht gesagt werden kann. Natürlich, Bilder haben eine andere Sprache und können vieles erzählen, das Worte nicht übermitteln können. Trotzdem oder deshalb ist es mir Bedürfnis und Herausforderung (zu Bildern im Kopf) zu schreiben, auch wenn dies nur in Nächten, Ferien und an kinderfreien Wochenenden möglich ist. Schreiben ist Rückzug, ist ein Sich-Wegsperren von der Außenwelt, auch wenn diese Außenwelt mit ihren Figuren immer wieder ins Innere drängt. Dieses Alleinsein mit der Geschichte, und damit auch mit mir, ist gut und manchmal anstrengend zugleich, vor allem aber – wenn ich schreiben darf, wo es ruhig ist und umgeben von Natur – ist dieses Schreiben berauschend.

Ada Torelli ist eine Lehrerin, die zur Zeit des Faschismus vom Latium in die neue Provinz Südtirol hinauf versetzt wurde, um Italienisch zu unterrichten – in jener Zeit war der Deutschunterricht an den Schulen im deutschsprachigen Grenzgebiet verboten. 

Die Lehrerin, deren Einträge ins Klassenbuch mich so begeisterten, habe ich nicht gefunden, wahrscheinlich ist sie nach dem Krieg wie die meisten anderen Italienischlehrerinnen in den Süden zurückgekehrt. Somit ist der Roman ein halbfiktiver, wenn man ihn so nennen darf, die Übersetzungen sind zum Großteil wortwörtlich, die Geschichte drum herum und weit über sie hinaus ist erfunden. In Paliano, dem Heimatdorf der Titelgestalt, durfte ich dank eines Stipendiums vom Bundesland Tirol/Österreich im Sommer 2015 recherchieren. Im Sommer 2016 weilte ich nochmals im Latium, um die Orte des Geschehens ein zweites Mal zu besuchen.

14. Februar 1936

Valentinstag. Heute lehrte ich die Schüler der ersten Klasse das Gedicht mit den Fingern. Den Kindern der anderen Klassen hatte ich in der Zwischenzeit einige Aufsatzthemen gegeben und sie gebeten, dazu etwas zu schreiben.
Ich kam zum Satz des kleinen Fingers, des dito mignolo: chi ruba va in prigione …
Ich erklärte ihnen, dass Gott alles sieht, er sieht es auch, wenn jemand etwas Kleines stiehlt, und sei es auch noch so klein. Es herrschte Stille in der Klasse und ich merkte, dass auch die großen Kinder aufgehört hatten zu schreiben und meinen Worten lauschten. Ich wollte sie in ihrer Konzentration nicht stören und verstummte selbst … Da hörte ich aus den hinteren Bänken ein unterdrücktes Schluchzen. Giuseppe, mein Kind, was ist denn, fragte ich. Und er, mit Tränen in den Augen: Signorina, heute früh habe ich die Zündhölzer gestohlen, die sich am Schreibpult befanden … Und in der Bank hinter ihm erhob sich Eriberto und sagte, den Blick voller Scham: Maestra, ich bin auch schuldig, ich war dabei … Und dann folgte eine Stunde der Beichte, einer nach dem anderen stand auf und erklärte schuldbewusst, was er getan hatte, der eine hat den anderen geschlagen, einer hat dem anderen das Heft beschmiert, einer hat dem anderen die Spitze des Bleistiftes abgebrochen. Ich war komplett verwirrt und hätte am liebsten selbst all das erzählt, was ich falsch gemacht habe in meinem Leben. Was tun mit diesen ehrlichen, aufrichtigen Dreikäsehochs? Es war zu traurig, sie nun einfach so stehen zu lassen, mit ihren Lebensbeichten, mit diesen kleinen Vergehen, die doch keine Vergehen waren, höchstens Lausbubenstreiche, mit ihren erröteten Gesichtern. Eine unendliche, unbeschreibliche Liebe überkam mich und ich ging zu Giuseppe und sagte: Liebes Kind, ich verzeihe dir diesen kleinen Diebstahl, und ich bin mir sicher, auch Gott hat dir dein Vergehen längst schon vergeben. Ich bin mir sicher, dass du in deinem Leben nie mehr so etwas tun wirst, dass du heute für dein ganzes Leben sehr viel gelernt hast.

Vor Ort recherchierte historische Ereignisse durchziehen die Handlung. Es wird viel vom Faschismus erzählt, über den Großvater von Ada, der es vom armen Fischer in Terracina zum Grundbesitzer in Sabaudia schafft (1934 in nur 250 Tagen aus den pontinischen Sümpfen erbaut), von Balilla und Piccole Italiane.


Es geht um die Dörfer im Latium, die immer verlassener werden und in die Ada jeden Sommer zurückkehrt. Es geht dazu im Vergleich auch um Volkstraditionen, um Prozessionen und alte Bräuche in Südtirol, die sich von jenen 700 km südwärts im Grunde kaum unterscheiden. Es geht um die Gemeinsamkeiten, die Fahnen der Stadt Paliano tragen dasselbe Rot-Weiß wie jene von Südtirol.


Das Kino spielt eine große Rolle und auch die Erziehung bei den Ordensschwestern in Rom, alte Rollenmuster und Glaubenssätze, von denen sich Ada im Laufe des Lebens befreit. Der Roman ist auch ein wenig Entwicklungsroman. Ihre besten Dialogpartner sind ihr Bruder Vito, Priester in Palestrina, und Anis, ein Sinto aus einer Familie, die seit Jahrhunderten immer wieder in Südtirol ihr Lager aufschlägt und dem Konzentrationslager entkommen konnte. Ada lernt ihn während eines Auftrittes bei einem Dorffest kennen, später wird sie – pensioniert – bei der Gründung der Sinti- und Roma-Schule in Bozen dabei sein.

Salto in Zusammenarbeit mit Haymon