Kultur | Salto Afternoon

Mit dem Fremden spielen

Engagierte Literatur ist Schnee von gestern? 55 Autor*innen beweisen das Gegenteil. „Lyrischer Wille“ – eine heilsame Lektüre in Wahlkampfzeiten.
lyrischerwille
Foto: Foto: Arno Dejaco

Erinnern Sie sich noch an das Phänomen der Kettenbriefe aus der Kindheit? Digital Natives werden hier wohl verständnislos den Kopf schütteln, wer aber wie ich noch ohne Smartphone geboren wurde, kennt vermutlich die helle Panik, die einem überfiel, wenn man im Postkasten einen dieser Briefe fand, die dazu aufforderten, mehrfach abgeschrieben und anschließend an drei, fünf oder gar zehn Freund*innen weitergeschickt zu werden, weil ansonsten mit apokalyptischen Konsequenzen zu rechnen gewesen wäre. Wenn Sie wie ich eine Dorfgrundschule mit etwa 50 Kindern besucht haben, wissen Sie auch, wie großzügig man in diesen Fällen den Freundschaftsbegriff auslegen musste, um überhaupt drei, fünf oder zehn Adressat*innen zu finden, die den Brief im Idealfall noch nicht bekommen hatten, und wie groß die Angst war, ein zweites Mal in die Schlingen dieser Kette zu geraten.

Ich darf Sie beruhigen, wir rollen heute keine Kindheitstraumata neu auf und Sie müssen am Ende dieses Artikels auch nichts drei-, fünf- oder zehnmal teilen (der leidliche Kettenbrief hat ja dummerweise ein Social-Media-Revival erlebt). Vielmehr geht es um das in Buchform erschienene Ergebnis eines Kettenbriefexperiments, in dem sich über zwei Jahre hinweg 55 aus Südtirol stammende oder in Südtirol lebende Autor*innen literarisch begegnet sind. Aufgabe war es, sieben Ausgangsgedichte in der Art eines Kettengedichts zu übersetzen, wobei jeweils nur die Vorgängerversion bekannt war. Ein Experiment, das in ähnlicher Form immer wieder durchgeführt wird, zuletzt etwa im Literarischen Monat anhand eines Auszugs aus Adolf Muschgs neuem Roman, der am Ende wieder in die Ausgangssprache zurückübersetzt wurde – ein höchst interessantes Nuancenspiel. Oder in der wunderbar komischen Trash-Variante des Jungen Kammerchors Düsseldorf, der Mendelssohns Jagdlied zehnmal durch die Wirren der möglichen Sprachpaare von Google Translate geschickt hat, um das Lied dann mit dem ins Deutsche rückübersetzten Text zu singen. Google Translate kommt auch in „Lyrischer Wille“ zum Einsatz, denn nicht immer war die Autorin oder der Autor der Sprache des Vorgängergedichts mächtig.

Überhaupt ist es schlichtweg nicht passend, diesen Lyrikband als Übersetzungsprojekt zu bezeichnen, denn übersetzt wurde in den wenigsten Fällen, nicht einmal von Nachdichtungen kann – selbst bei einer sehr großzügigen Auslegung des Begriffs – die Rede sein. Vielmehr diente überwiegend das Vorgängergedicht als Anstoß für die nächste Autorin oder den nächsten Autor, etwas Neues und ganz Eigenes zu schaffen. So entfaltet sich eine erstaunliche und spannende Vielstimmigkeit, die vom Pustertaler Dialekt über die vielen Varianten des Ladinischen bis hin zu Albanisch, Farsi und einer erfundenen Zeichensprache reicht.

Das Schöne an dem Projekt: Nicht jede Sprache versteht man, ja, teilweise kann man nicht einmal die Zeichen lesen. Das ist eine Herausforderung, aber auch ein Spiel, in dem man unbekannte Laute mit dem eigenen Mund formen und erraten, den Schwüngen eines fremden Alphabets mit Augen und Fingern folgen und sich anhand der Nachbargedichte in der Kette selbst ausmalen kann, worum es in dem Text vielleicht geht. In diesem Sinne ist der Band eine großartige Übung im Umgang mit dem Fremden und Unverständlichen. Und schlussendlich ist Lyrik – in welcher Sprache auch immer – nie einfach und eindeutig, genauso wenig wie die Wirklichkeit, und in diesem Sinne schließe ich mich Roberto Simanowskis Plädoyer in der NZZ für das Lesen von Gedichten als Waffe gegen die Eindeutigkeitsillusion der Populisten an. Der Erscheinungszeitpunkt von „Lyrischer Wille“ so kurz vor den Südtiroler Landtagswahlen hätte also kaum besser ausgesucht werden können. Vielleicht legen wir das Buch ja dem einen oder der anderen auf den Nachttisch.