Gesellschaft | Zeitgeschichte

Die Akte Kohl

Der deutsche Ex-Bundeskanzler Helmuth Kohl wurde in den sechziger Jahren als Terroristen-Sympathisant in Südtirol beschattet. Eine Spurensuche im römischen Staatsarchiv.
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Foto: bundesarchiv
Es sind nur 20 Seiten, die in dem dünnen verstaubten Aktenordner liegen. Die Personalakte aus dem italienischen Innenministerium, „Divisione Affari Generali“, trägt rechts unten einen Stempel: Ein Quadrat mit den zwei Buchstaben AA. Diese Abkürzung steht für Alto Adige.
Ganz oben auf dem Bogen steht aber ein Name, der längst zur europäischen Zeitgeschichte gehört: Kohl Helmuth. Der heute 86jährige CDU-Politiker ist mit 16 Jahren Amtszeit der bis heute am längsten amtierende deutsche Bundeskanzler. Der Mann, der als Kanzler der Einheit in die Geschichte eingehen wird, hat seine politische Karriere in seiner Geburtsstadt Ludwigshafen begonnen. Ab 1963 war Helmuth Kohl, Fraktionsvorsitzender der CDU im Landtag von Rheinland-Pfalz.
In dieser Funktion findet sich der spätere deutsche Bundeskanzler dann auch in den Akten des römischen Innenministeriums wieder. Helmut Kohl wurde drei Jahre lang beobachtet und beschattet. Man ging davon aus, dass Kohl in Südtirol die „pangermanistischen Kräfte“ unterstützen könnte.
Der Autor dieser Zeilen grub den Kohl-Akt des Innenministeriums im vergangenen Sommer im zentralen Staatsarchiv in Rom aus. Es ist ein Fund, der es jetzt als Nachricht auch in die aktuelle Ausgabe des Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel geschafft hat.
 
 
Dass diese Akte erst jetzt aufgetaucht ist, hat einen ebenso spannenden, wie brisanten Hintergrund.
 

Via Appia

 
Mitte der 1990er Jahre ermittelt der Mailänder Untersuchungsrichter Guido Salvini zum Anschlag auf der Piazza Fontana am 12. Dezember 1969. Bei der Bombenexplosion am Hauptsitz der Banca Nazionale dell'Agricoltura in Mailand waren 17 Menschen getötet und weitere 88 schwer verletzt worden.
Ein Gutachter sichtet hierfür wochenlang Dokumente in der zentralen Polizeidirektion im römischen Innenministerium. Durch einen Zufall kommt heraus, dass Teile des Archivs schon vor Jahrzehnten in ein Lagerhaus in der Via Appia ausgelagert und dort vergessen worden sind.
Am 4. Oktober 1996 öffnet man dieses Archiv in der Via Appia. Es ist eine Sensation. Denn in dem Lagerhaus finden sich in hunderten Kartonen über 150.000 geheime Personen- und Sachakten des Innenministeriums.
Bereits 1948 war die „Divisone Affari Riservati“, besser bekannt nach dem Namen ihres operativen Arms, des „Ufficio Affari Riservati“ gegründet worden. Das bei der Generaldirektion für öffentliche Sicherheit in Rom angesiedelte Ufficio Affari Riservati ist eine Art Geheimdienstzentrale des italienischen Innenministeriums. Das Büro hat von Anfang an verdeckte Außenstellen in allen italienischen Provinzen.
Ein besonderes Augenmerk legt man dabei von Anfang an auf Südtirol. Mehrere Führungspersönlichkeiten des Ufficio Affari Riservati waren in den 1950 und 1960 Jahre in Südtirol tätig. Vor allem Silvano Russomanno, der in Meran, Innichen und Brixen Dienst tat, bevor der Staatspolizist 1960 in die Zentrale nach Rom versetzte wurde und dort eine eigene Südtirol-Abteilung einrichtete. Der perfekt Deutsch sprechende Russomanno ist es auch, der die Kontakte zu den Nachrichtendiensten in Österreich und Deutschland hält. Kontakte, die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zu regelmäßigen Treffen der Nachrichtendienste in der Schweiz und einer gemeinsamen Gangart gegenüber den Südtirolattentäter führen.
 
 
Ein größerer Teil der Akten, die man im Herbst 1996 in der Via Appia findet, stammen aus dem Archiv von Silvano Russomanno. Das gesamte Material wird von mehreren Staatsanwaltschaften beschlagnahmt und lagert auch heute noch unter Verschluss in einer römischen Polizeikaserne.
Im Laufe der Jahre sind aber Teile dieses Bestandes an das „Archivo Centrale dello Stato“ übergangen. Etwa der Bestand „Alto Adige – Fascicoli Personali“, der jetzt erstmal zur Einsicht im Staatsarchiv freigegeben wurde.
In diesem Bestand findet sich dann auch der Akt über den deutschen Alt-Bundeskanzler.
 

Der Kohl-Freund

 
Was aber hat Helmuth Kohl in den 1960er Jahren in Südtirol wirklich getan? Und warum interessiert sich das italienische Innenministerium dafür?
Der junge Helmut Kohl gerät indirekt in den Fokus der italienischen Sicherheitsbehörden. Ausgangspunkt sind eine Leserbrief und ein Artikel des „Alto Adige“ im Herbst 1964.
Nach den Vorfällen im Pustertaler Weiler Tesselberg im September 1964, wo Carabinieri-Einheiten völlig verrückt spielten und ein ganzes Dorf in kriegsähnliche Geiselhaft nahmen, schreibt ein gewisser Hans Karl Gerlach einen sehr kritischen Leserbrief an die Frankfurter Allgemeinde Zeitung. Der damals 43jährige Akademiker Gerlach ist Angestellter des Gesundheitsamtes in Ludwigshafen, in der dortigen CDU politisch engagiert und ein enger Südtirol Freund. Als Mitglied des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins ist er immer wieder auch in Südtirol, wo er – wie die Quästur Bozen ermittelt – auch Kontakte zu jungen Südtirolern hat.
Wenige Wochen nach dem FAZ-Leserbrief erscheint im „Alto Adige“ ein Artikel der Hans Karl Gerlach als „bekannten Nazi“ darstellt und als einen ehemaligen Mitarbeiter einer geheimen SS-Sabotage-Einheit, der sich jetzt in der Südtirol-Frage gegen Italien engagiert.
Der Alto-Adige-Artikel, wahrscheinlich von Polizei- und Geheimdienstkreisen lanciert, ist in Wirklichkeit aber völlig erfunden. Hans Karl Gerlach ist ein überzeugter Antifaschist und war 1941 nach Australien ausgewandert. Im Dezember 1964 wehrt sich Gerlach in einem Brief an den Alto Adige gegen diese Diffamierung.
Gleichzeitig kommt es aber auch zu einer diplomatischen Verstimmung. Denn der CDU-Bundestagsabgeordnete Gerhard Fritz protestiert in einem offiziellen Schreiben an Bundesaußenminister Gerhard Schröder und an die italienische Botschaft in Bonn gegen die Diffamierung seines Parteifreundes.
Diese Vorgänge landen alle deckungsgleich sowohl in Gerlachs Personalakt der ebenfalls heute im Staatsarchiv liegt, wie auch im Akt von Helmut Kohl.
 

Verdächtiger Alpenverein

 


Helmuth Kohl ist eng mit Hans Karl Gerlach befreundet. Man kennt sich aus der CDU-Jugendorganisation „Jungen Union“. Gemeinsam interessieren sich die beiden Politiker aus Rheinland-Pfalz auch für Südtirol.
Im November 1995 erscheint in den von Hans Dietl herausgegebenen „Südtiroler Nachrichten“ eine kleine Notiz, die umgehend die Aufmerksamkeit der italienischen Sicherheitskräfte hervorruft.
Über Gerlach und CDU-Kreise wurden Südtiroler Studenten Sommerjobs in Betrieben in Rheinland-Pfalz vermittelt. Im Artikel wird geschildert, dass diese Südtiroler Studenten dabei bei einer CDU-Wahlveranstaltung in Ludwigshafen dem deutschen Kanzler Ludwig Erhard vorgestellt wurden und sie ihm sogar die Hand schütteln durften. Als Organisatoren dieses Treffens werden Helmuth Kohl und Hans Karl Gerlach genannt.
Das römische Innenministerium will spätestens jetzt alles über Gerlach und Kohl wissen, was es gibt. In einem Schreiben vom 14. Jänner 1966 heißt es:
Die Quästur Bozen wird angewiesen alle Erkenntnisse über Hans Karl Gerlach umgehend zu übermitteln, sowie über Dr. Helmuth Kohl, der im Artikel als Spitzenexponent der CDU-Jugendbewegung mit einer besonderen Beziehung zu Südtirol dargestellt wird.“
Wenig später werden die Hotelaufenthalte Gerlachs in Bozen im Sommer 1963 und 1964 nach Rom übermittelt. Sowie die Information, dass beide dem Alpenverein angehören und immer wieder in Südtirol weilen, wo sie sich mit jungen Südtirolern treffen.
Das „Ufficio Affari Riservati“ fragt auch beim italienischen Auslandsgeheimdienst SIFAR an. Die schriftliche Antwort in den Akten: „Es liegt bei uns nichts vor“.
 

Kohl in Seis

 
Anfang März 1966 übermittelt das italienische Generalkonsulat in München, dann neue Erkenntnisse nach Rom. In der bayrischen Landeshauptstadt geht man davon aus, dass Helmuth Kohl der gefährlichere der beiden CDU-Exponenten ist. Im Bericht heißt es:
 
Obwohl Dr. Gerlach Sympathie für die Südtiroler deutscher Muttersprache zeigt, will er sich nicht offen für die anti-italienische Sache engagieren, während Dr. Helmuth Kohl dieser Bewegung weit wohlwollender zu sein scheint.“
 
Die Anweisung aus dem Innenministerium ist klar: Jeder Aufenthalt von Helmuth Kohl und Hans Karl Gerlach in Südtirol ist umgehend zu melden. So berichtet der Bozener Quästor Feruccio Allitto Bonanno im Jänner 1966 an das „Ufficio Affari Riservati“, dass Helmuth Kohl bereits vom 27. bis zum 29. Juni 1962 im Hotel „Razzes“ in Seis übernachtet habe.
 
 
Bonannos Nachfolger als Bozner Quästor, Edoardo D´ Anchise bestätigt noch im April 1967, dass sowohl Hans Karl Gerlach wie auch Helmuth Kohl unter Beobachtung stehen. Im Schreiben nach Rom heißt es:
 
Wir versichern, dass gegenüber den genannten Ausländern, sollte sie wieder nach Südtirol oder Italien kommen, gewissenhafte Überwachungsmaßnahmen eingeleitet werden, um ihre Aktivitäten und Kontakte zu verfolgen.
 
Der Akt Kohl endet im August 1967.
Zu diesem Zeitpunkt leuchtet der politische Stern des späteren Bundeskanzlers bereits weit über Ludwigshafen hinaus. Im März 1966 wurde Helmuth Kohl Landesvorsitzender der CDU von Rheinland-Pfalz. 1969 dann Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Vize-Chef der CDU.
Spätestens damit dürfte sein Personalakt in einen anderen weit geheimeren Bereich gewandert sein.