Kultur | Salto weekend

Was ist sehenswürdig?

Bolzanism Museum will die Bozner Peripherie beleben – durch Labs, Architekturführungen und theatralisch inszenierte Walks. Ein Gastbeitrag aus "Kulturelemente" 161-2021.
Bolzanism
Foto: Fanni Fazekas

von Deborah Nischler

Es ist ein Samstagvormittag im September, der Bus vom Bozner Bahnhof nach „Manhattan“ ist praktisch leer. Ebenso die Sassaristraße, wo der Bus hält. Erst im Innenhof, wo der Treffpunkt für den Walk ist, stehen vereinzelt Leute herum. Unter ihnen ein unerwartetes, bekanntes Gesicht: Landeshauptmann Arno Kompatscher, fast inkognito mit stylischer Sonnenbrille. Er möchte wissen, wie die Walks ankommen, wer daran teilnimmt. Alessandro Busana vom Architekturstudio Campomarzio und Valentina Cramerotti von der Cooperativa 19 erklären, es seien hauptsächlich Leute aus dem Stadtzentrum, aber auch Bewohner*innen aus dem Viertel selber, die etwas über die anderen Wohnblöcke erfahren möchten. Interessant sei, dass viele Personen seit Jahrzehnten in Bozen leben, aber durch die Bolzanism Walks zum ersten Mal überhaupt in das Viertel gekommen sind. Wie das Projekt denn entstanden sei? Cramerotti erklärt, der Ausgangspunkt sei die Architektur gewesen, dann hätten sie das Gespräch mit den Bewohner:innen gesucht, denn ihre Geschichten machten das Ganze erst interessant. Busana ergänzt, die Vision vieler Bewohner*innen zum Leben im Viertel sei überraschend zukunftsorientiert gewesen. Einsatz Kompatscher: „Nur die Politiker blicken immer in die Vergangenheit.“

 

 

Irgendwann ist das recht heterogene Grüppchen vollzählig, Kompatscher überlässt die Bühne den zwei Guides mit ihrer theatralischen Performance. Da ist einmal Architektin Nr. 1 in seriösem Outfit in Schwarzweiß, eventuelle Zweifel über ihren Berufsstand räumt sie umgehend durch das Herausziehen ihrer Brille aus. Ein betont umständlicher Vortrag darüber, was ein Viertel ist und warum wir uns zuerst mit Formen beschäftigen müssen, bevor wir unsere Tour beginnen können, wird von Architektin Nr. 2 gecrasht. Die etwas wichtigtuerische De Giorgi Giorgia aus Mailand stellt recht schnell klar, wer in der Architektur der Feind ist: das spielende Kind im Freien natürlich. Danach battlen sich die beiden, wer bei Vitruvs Architekturlehre von Firmitas (Festigkeit), Utilitas (Nützlichkeit) und Venustas (Schönheit) besser aufgepasst hat, am Ende wird Schlaumeierin De Giorgi in die megafunktionale Schachtelwohnung eingesperrt, die sie mit Kreide auf den Boden gezeichnet hat. Weil wir immerhin beim Manhattan Walk sind, es also ums vertikale Bauen geht, fährt unsere umständliche Architektin Nr. 1 mit einem Vortrag über die Entstehung des Hochhauses in der Welt und in Italien fort, wiederum unterbrochen von De Giorgi, die sich eigenmächtig aus ihrer Schachtelwohnung befreit.

Weiter geht es zu den Case INA in der Sassaristraße inkl. der Torre von Armando Ronca – oder wie ihn De Giorgi nennt – „l’Armando“ und „Ronchi“. Nach einem jargonmäßigen „Ciao pistola!“ an den Ronchi platzt Architektin Nr. 1 endgültig der Kragen und sie fordert etwas Würde für den großen Ronca, der immerhin den Rationalismus nach Bozen gebracht habe. Und schon sind wir mitten in der Südtiroler Zeitgeschichte mit faschistischen Präfekten vs. Balkongeranien, Silvius Magnago und terroristischen Feuerwerken in den 1960er-Jahren. Einmal quetscht sich ein Auto durch unser Grüppchen im Kondominiumhof durch, später ein junges Paar mit Kinderwagen und ein Mann in Shorts und Adiletten, der wohl kurz Zigaretten holen war. De Giorgi schlüpft hier in eine andere Rolle und mimt den Zeitzeugen, der die komplexe gesellschaftliche Lage damals schildert: das schwierige Zusammenleben der Sprachgruppen nach dem Faschismus, die Armut besonders in der ländlichen Bevölkerung, das Fehlen von Arbeitsplätzen und Sozialwohnungen, die Angst vor einer militärischen Invasion nach der Feuernacht und der Wunsch nach Frieden. In der Gruppe ist es ruhig geworden, alle sind gerührt und nachdenklich, doch dann – haut uns De Giorgi eine Watsche rein und legt, ganz Mailänder Architektin, fröhlich los mit dem Thema Immobilienspekulationen.

 

 

Das Besondere am Walk sind die Bewohner*innen, die geplant oder auch ganz spontan mitreden. Der alte Herr, der behauptet, in Roncas Torre würde seit einem Monat ein Huhn leben, eine Frau, die ihm prompt zustimmt: „Ich warte auf frische Eier.“ Besonders schön die spontane Einlage einer älteren Frau vor dem Wohnkomplex Giorno e Notte. Während ein Herr von seiner Kindheit hier erzählt und Architektin Nr. 1 über den Komplex schwärmt, grätscht sie, eine der wenigen, die seit jeher hier lebt, dazwischen: „Also, die Wohnungen sind ja völlig falsch gebaut worden.“

Viel los ist nicht in Manhattan, weder beim Wohnkomplex Centro Europa 77, noch bei Zoeggelers legendären betonierten „Pifferi“, wo lakonisch ein paar verblasste Italienfahnen aus den Fenstern hängen. Auf der Straße einzelne Menschen mit Samstagvormittag-Accessoires: Rollator, Einkaufstasche, Hund.

Berührend wird es nochmal vor dem letzten Bauernhaus der Siedlung, das fast gemütlich eingekuschelt aussieht zwischen den modernen Wohnkomplexen. Hier erzählt De Giorgi Giorgia als Bauer mit blauem Schurz von einer Welt, die es nicht mehr gibt. Letzte Etappe: Streets In The Air, eine Flaniermeile auf Säulen, hoch über dem Durchzugsverkehr Richtung Stadtzentrum. Für anderthalb Stunden haben wir vergessen, dass sich das wahre und wichtige Leben dort abspielt. Wir haben Häuserfassaden studiert, an denen wir normalerweise blind oder noch wahrscheinlicher gar nicht vorbeigehen würden. Wir sind stehengeblieben in Innenhöfen von Megakondominien, in denen wir nie etwas zu tun haben werden. Und wir haben uns Menschen angesehen und angehört, die wir sonst nicht bemerken würden. Vielleicht ist das „echte“ Bozen gar nicht in der Altstadt, sondern in Manhattan?

salto.bz in Zusammenarbeit mit Kulturelemente.