Gesellschaft | Zeitgeschichte

Wurzeln eines Übels

Erinnerungen und Reflexionen zwischen Trentiner Irredentismus, Faschismus und einem oft scheinheiligen Antifaschismus. Ein Text von Sandro Canestrini (1922-2019).
Sandro Canestrini
Foto: edition raetia
 
Es war der 30. März 1914, als im Teatro Maffei in Rovereto eine öffentliche Kundgebung stattfand. Thema der Veranstaltung: Die Trentiner Irredentisten fordern eine italienischsprachige Universität für Trient und Triest. Ein Zitat aus der Presse von damals: „Aufrührerische, feurige Reden hielten Dr. Pietro Pedrotti, der Student Luigi Canestrini, Dr. Giano Marzani, Dr. Antonio Piscel, Patrizio Bosetti; auch der Podestà Baron Valeriano Malfatti ergriff das Wort.“
Nach der Kundgebung bewegte sich, wie die Zeitung weiter berichtet, ein großer Protestzug Richtung Hauptplatz: „Patriotische Lieder werden gesungen, Hochrufe auf die italienische Universität und die Nation erklingen, Protestrufe werden ausgestoßen und steigen zu den Sternen empor … Der Präsident der Trentiner Hochschüler, Luigi Canestrini, löst die Kundgebung mit der Aufforderung an alle Bürger auf, nicht müde zu werden und den Glauben an die gerechte Sache nicht nur in einer Stunde der Begeisterung kundzutun, sondern stets für unser unsterbliches Recht zu kämpfen.“
Luigi Canestrini war mein Vater und ich erinnere mich bestens daran, wie er von grün-weiß-roten Fahnen erzählte, die plötzlich während der Protestveranstaltungen im Winde flatterten, von grün-weiß-roten Blumensträußen, die aus dem Fenster geworfen wurden und von unmissverständlichen Losungsworten. Ich erinnere mich der Aufgeregtheit, in der mir, dem neugierig lauschenden Kind, erzählt wurde, wie die beunruhigten Polizisten am Rande des Protestzugs sich abmühten und wie die Offiziere die Protestierenden immer wieder ermahnten, nicht zu übertreiben.
Will man diese Vorfälle verstehen, muss man daran erinnert werden, dass dies alles in einer österreichisch-ungarischen-Stadt getan, gesagt und geschrieben wurde, und zwar von Irredentisten kurz vor Kriegsausbruch. Diese nationalistischen Kundgebungen sind – soweit ich das mitbekommen habe – nur in den seltensten Fällen aufgelöst worden, auch hat es kaum Strafanzeigen gegeben. Man wollte den Schaden gering halten, normalerweise haben sich die politisch Verantwortlichen und die Polizei in Toleranz geübt und soweit wie möglich Verständnis gezeigt. Sie sprachen ja alle unsere Sprache, das war gesetzlich so vorgeschrieben und im Übrigen waren die meisten von ihnen ja selbst Trentiner. Der Objektivität halber muss gesagt werden, dass Luigi Canestrini, Cesare Battisti und Antonio Piscel nur von einer Minderheit der Intellektuellen und Handwerker unterstützt wurden. Praktisch niemand wollte etwas mit Ettore Tolomei zu tun haben, den Battisti voller Verachtung als Verrückten bezeichnete. Dann folgten der Krieg und die Annexion, die von diesen Personen so sehr herbeigesehnt worden war.
Dies ging so weit, dass Tolomei zum Abgeordneten aufstieg, während mein Vater am 2. Dezember 1926 vom Sicherheitsamt des Bezirkes ermahnt wurde, sich ordentlich aufzuführen und nicht weiter mit seiner politischen Haltung Anlass für Verweise zu geben.
Einige Jahre später bin dann ich zur Welt gekommen und meine geistige Nahrung bestand aus diesen Geschichten, aus dieser Art von Literatur, aus den Erinnerungen meines Vaters. Während Ettore Tolomei in der Zwischenzeit ein Erzfaschist geworden war, hing mein Vater noch den Idealen des Risorgimento nach und blieb weiterhin bei seiner antifaschistischen Einstellung.
Für einen Jungen meines Alters war es damals nicht leicht zu begreifen, wie aus derselben nationalen Befreiungsbewegung zwei so verschiedene Sichtweisen hervorgehen konnten, so grundverschiedene Arten, die Welt, das Leben, die Geschichte zu sehen und zu interpretieren. Dies ging so weit, dass Tolomei zum Abgeordneten aufstieg, während mein Vater am 2. Dezember 1926 vom Sicherheitsamt des Bezirkes ermahnt wurde, sich ordentlich aufzuführen und nicht weiter mit seiner politischen Haltung Anlass für Verweise zu geben. Sollte er sich weiterhin der nationalen Ordnung widersetzen, riskiere er eine formelle Verwarnung, was ungefähr so viel wie die Vorstufe zum berüchtigten „Confino“, zur Verbannung bedeutete.
 
Wiederum tauchte also der Begriff „nationale Ordnung“ auf. Was war geschehen mit dieser italienischen Nation, deretwegen man doch die österreichische Polizei herausgefordert hatte, während wenige Jahre später jene mit immer härteren Strafen rechnen mussten, die den Idealen von damals treu geblieben waren.
Dies waren Fragen, die nicht nur ich in meinem Inneren meinem Vater stellte; er selbst beschäftigte sich damit, wenn er manchmal in meiner Anwesenheit laute Selbstgespräche führte. Und ich bin sicher, dass ich ihn oft zwei Worte in unserem Dialekt sagen hörte: „Che monada“, was für ein Unsinn.
Diese zwei Worte haben damit zu tun, warum er ohne Verzug über die Grenze nach Verona gegangen war, um sich als Kriegsfreiwilliger zu melden, von wo aus er dann in Richtung Piave an die Front abkommandiert worden war, den Decknamen Luciano Caccia angenommen und den Tod in der Schlacht oder den Galgen in Kauf genommen hatte, wie es dann Cesare Battisti und anderen widerfuhr.
Sicher kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, wie die „monada“ nun genau zu verstehen war; ich glaube jedoch und bin zutiefst davon überzeugt, dass er niemals seine Vergangenheit vollständig verleugnen wollte; es haben da in der Trauer dieser Erinnerung mehrere Faktoren mitgespielt. Einmal, dass er erst nach dem Krieg erfahren hatte, dass im April 1915 im Rücken der Irredentisten, die im guten Glauben gekämpft hatten, der Geheimpakt von London geschlossen worden war, der das geschichtliche Unrecht der Annexion Südtirols besiegelte. So sah es mein Vater in Anlehnung an Battisti. Dazu kam die verwirrende Präpotenz, mit der sich die neuen Machthaber im befreiten oder besetzten Trentino aufführten. Und schließlich kam noch hinzu, dass sich das liberal-demokratische Ideal eines „gerechten Krieges“ zur Vereinigung der Nation als reine Illusion erwies – weggefegt und verhöhnt vom triumphierenden faschistischen Ungeist mit seinem nationalen Wahn. Vorbei die Zeit der demokratischen Intervention, vorbei Wilson mit seinen 14 Punkten, vorbei die Tage der Freiheit…
Ich hatte damals die Überzeugung gewonnen, dass der Wegweiser, einzig und allein die antifaschistische Gesinnung sein kann, die Ablehnung der Diktatur und auch jener, die seit jeher für Krieg und Vernichtung verantwortlich sind.
Ich würde sagen, endgültig vorbei, weshalb wir meinen Vater unter seinen Zypressen belassen, wo er seit vielen Jahren ruht und uns dem 18-jährigen Sohn zuwenden, für den sich 1940 die antifaschistische Erziehung als entscheidend erweisen sollte, um all die Widersprüche zu begreifen, mit denen so problematische Begriffe wie Vaterland, Nation, Nationalität, Kriegsbeute und mehr oder weniger heilige Grenzen beladen waren. Ich hatte damals die Überzeugung gewonnen, dass der Kompass, der Wegweiser, der mir hilft, den rechten Weg zu finden und die richtigen Entscheidungen zu treffen, einzig und allein die antifaschistische Gesinnung sein kann, die Ablehnung der Diktatur und mit ihr auch der Diktatur jener, die seit jeher für Krieg und Vernichtung verantwortlich sind.
 
Die Erfahrung im Widerstand habe ich gelebt als Befreiungsbewegung im ursprünglichen Sinn der Freiheit für alle, von der niemand ausgeschlossen wird, und zwar im Namen jener Prinzipientreue, die in aller Tiefe durchlebt werden muss, wenn man an sie glaubt. Dann nach jener rasch auflodernden Liebe für den Partito d’Azione, jener faszinierenden Bewegung, die schon aufhörte zu bestehen, kaum dass sie entstanden war, folgte die kämpferische Parteinahme für die Kommunisten. Sie habe ich gelebt im Sinne der Überwindung der Grenzen, der Völkerfreundschaft und der Ablehnung von Gewalt und Krieg.
Was eine sachgerechte Verteidigung hätte sein sollen, verwandelte sich unter dem Eindruck der historischen und juridischen Vertiefung der gesamten Problematik in ein tiefes Verständnis für die Südtiroler Befreiungsbewegung.
Doch fast zwangsläufig musste es früher oder später zum Zusammenstoß zwischen der sklerotischen politischen Bürokratie auf der einen und den jugendlichen Idealen auf der anderen Seite kommen. Die Gelegenheit dazu bot sich, als 1961 in einer heißen und schönen Nacht in Südtirol die Hochspannungsmasten gleich dutzendweise in die Luft flogen. Als viele der verhafteten Südtiroler in der Hoffnung auf eine sachgerechte Verteidigung mich zu ihrem Anwalt erkoren, da kam es bei mir zum großen Qualitätssprung. Was eine sachgerechte Verteidigung hätte sein sollen, verwandelte sich unter dem Eindruck der historischen und juridischen Vertiefung der gesamten Problematik in ein tiefes Verständnis für die Südtiroler Befreiungsbewegung. Denn es handelte sich doch um eine Befreiungsbewegung im eigentlichen Sinn des Wortes mit den besten Eigenschaften, die man einem solchen Begriff abgewinnen kann.
Dazu zähle ich die praktizierte Gewaltfreiheit gegenüber Personen, das Bestehen auf das Recht, im eigenen Land respektiert zu werden, die Rebellion gegen die Lüge, den Betrug und die Versuche des römischen Zentralismus, den Pariser Vertrag zu umgehen. Die rücksichtslose Italianisierung der 20ger Jahre wurde gerade damals in Historikerkreisen und unter demokratisch gesinnten Wissenschaftlern endlich verstärkt diskutiert. Ich glaube, Paolo Alatri war hier der maßgebende Lehrer für uns alle. Und so kamen all die großen Ungerechtigkeiten und Schweinereien und das infame Werke Tolomeis ans Tageslicht: die erzwungenen Namensänderungen, die Übersetzungen und Pseudoübersetzungen der Ortsnamen, das Verbot die eigene Sprache zu sprechen, die Namensänderungen auf den Grabsteinen… All das eben, was bis dahin nur im Flüsterton ausgesprochen worden war, wurde nun publik und durch historische Forschungen untermauert.
Der kommunistische Führungsstab von Bozen, den ich als korrektes Parteimitglied über meinen Verteidigungsauftrag informiert hatte, wehrte wie eine Mauer ab. Man schickte sogar zwei Gesandte des Zentralkomitees zu mir, aber ich war glücklich, nun auch davon frei zu sein. Und das auch um den Preis einer verhinderten Wiederkandidatur für den Regionalrat und einer ausufernden Verleumdungskampagne mir gegenüber, die in einem gewissen Sinne einer faschistischen Logik entsprach, auch wenn sie von erklärten Antifaschistischen vorangetrieben wurde. Man warf mir vor, in antiitalienischer Funktion als eine Art Geheimagent Österreichs zu fungieren. Um es mit Salvemini zu sagen: Die nationalistischen Zikaden zirpten unaufhörlich weiter und der Verstand musste ihnen den Vortritt lassen. Kurzum, ich war ein Feind des Vaterlandes.
 
Einige, die objektiv sein wollten und sich aufgeklärt gaben, flüsterten mir ins Ohr, ja die Rebellion in Südtirol sei eine gerechte Sache, man habe sich aber mit den Bomben und den Hochspannungsmasten in den Mitteln vergriffen. Es war mir ein Leichtes, darauf zu antworten, dass gerade sie aus demselben Grund dann von tausend Straßen und Plätzen Italiens den Namen von Guglielmo Oberdan tilgen müssten, der ja auch mit Bomben Politik gemacht hat und in den Straßen von Triest Tote auf dem Gewissen hatte. Was für eine historische Objektivität ist das, wenn Oberdan als Held verehrt wird und die Südtiroler des Terrorismus angeklagt werden?
Der Mailänder Prozess hatte eine Vorgeschichte, ein Vorspiel, das vielen Menschen guten Glaubens die Augen hätte öffnen müssen. Leider ist das nur zum Teil geschehen. Ich komme auf den Carabinieri-Prozess in Trient zu sprechen, in dem ungefähr ein Dutzend Carabinieri unterschiedlichen Grades nach einer streng geführten Untersuchung angeklagt waren, jene Häftlinge schwer misshandelt zu haben, die im Verdacht standen, mit den Anschlägen zu tun zu haben. Der Untersuchungsrichter hat in der Anklageschrift eine mehr als klare Sprache gegenüber jenen Militärs gesprochen, „die bewusst das Gesetz verletzt haben, dessen Sklaven sie hätten sein sollen“.
Welchen Standpunkt hätte nun der Rechtsanwalt Sandro Canestrini einnehmen sollen, der Sohn des Luigi, des Freidenkers und Antifaschisten? Den einzig möglichen: den Verteidigungsauftrag der Opfer anzunehmen und in einem langen, dramatischen und leidvollen Prozess die Verurteilung der Carabinieri zu verlangen, die das Gesetz verletzt hatten, dessen Sklaven sie hätten sein müssen.
Für die Freiheit aller einzustehen, auch für die Freiheit jener, die zufällig nicht so denken wie du.
Ich möchte unterstreichen, dass ich in diesen Prozessen für mich persönlich sehr wichtige berufliche, politische und moralische Erfahrungen machen konnte. Ich hätte die Opfer in den Prozessen von Vajont und Stava, die Opfer unternehmerischer und industrieller Spekulation geworden waren, nicht verteidigen können, wenn ich nicht vorher mit Herz und Verstand die Rechte der ethnischen Minderheit verteidigt hätte, die in ihrem Land die Mehrheit darstellt; ich hätte nicht die Wehrdienst- und Kriegssteuerverweigerer verteidigen können, wenn ich vorher nicht begriffen hätte, wie sich der Zentralismus als Feind der Tiroler Autonomie auch im Gewand des Militarismus präsentiert. Und so hätte ich auch nicht die Zivilparteien im Prozess gegen die Nazi-Schlächter von der Risiera di San Sabba in Triest vertreten können, wenn ich nicht zuvor gelernt hätte, zwischen dem Nazismus und dem deutschen Volk zu unterscheiden. Auch wäre ich nicht nach Palermo gegangen, um die Opfer der Mafia zu verteidigen, wenn mir nicht schon vorher klar geworden wäre, wie ein Netz unausgesprochener wirtschaftlicher und politischer Interessen dieses unglückliche Land umzingelt und gefangen hält.
Die Ehrlichkeit zu sich selbst, der ehrliche Umgang mit der eigenen Geschichte und der aller anderen; die Überzeugung, dass Demokratie vor allem eines bedeutet: für die Freiheit aller einzustehen, auch für die Freiheit jener, die zufällig nicht so denken wie du; dass die Wahrheit geduldig ist, dass sie keine Schleichwege duldet und sich im Alltäglichen bestätigen muss – das habe ich von den Südtiroler Freunden gelernt.