Politik | salto Gespräch

“Schnauze voll von Parteienherrschaft”

Der Politologe Günther Pallaver spricht in Zeiten der Krise über den Wandel und die Mankos im Südtiroler Parteiensystem, die Landtagswahlen – und mögliche neue Allianzen.
Günther Pallaver
Foto: Salto.bz

Sein Buch kommt zum rechten Zeitpunkt. In “Südtirols Parteien” analysiert Günther Pallaver, wie sich das Südtiroler Parteinsystem seit 1948 verändert hat – der Hauptschwerpunkt liegt auf den Landtagswahlen, wie sie am 21. Oktober 2018 wieder anstehen.
Anlass genug, den Branzoller Politikwissenschaftler und Leiter des Instituts für Medien, Gesellschaft und Kommunikation  an der Universität Innsbruck, zum ausführlichen Gespräch zu bitten.

salto.bz: Herr Pallaver, mit welcher Erkenntnis können Sie aufwarten?

Günther Pallaver: Schaut man sich den Längsschnitt von der ersten Landtagswahl 1948 bis 2013 an, sieht man, dass es eine ganze Reihe an Änderungen gegeben hat – mit einer Kontinuität.

Nämlich?

Es gibt seit jeher geteilte Wahlarenen: eine deutsche, eine italienische und zwischenzeitlich eine ladinische. Diese Aufteilung längs einer ethnischen Bruchlinie ist die Kontinuität schlechthin, die das Parteiensystem in Südtirol seit dem Anschluss an Italien kennzeichnet.

Deutschsprachige Südtiroler wählen deutschsprachige Parteien, Italiener italienischsprachige?

Exakt. Mit den Grünen und ihren Vorgängerparteien – beginnend 1978 mit Alexander Langer und der Neuen Linken – gibt und gab es zwar eine interethnische Partei. Aber mit relativ geringen Prozentsätzen. Und abgesehen davon ergibt die Analyse des Wahlverhaltens ein eindeutiges Bild: Nur zwei Prozent der deutschsprachigen Wählerinnen und Wähler haben bei den Landtagswahlen 2013 eine italienische Partei gewählt und rund zehn Prozent der italienischsprachigen Wählerinnen und Wähler eine deutsche Partei, die Volkspartei. Die SVP ist unter den Parteien, die die Italiener wählen, mit anderen im Pool der drittstärksten Parteien.

Gibt es nur eine einzige Partei, die die ethnische Bruchlinie zu überwinden vermocht hat?

Eine Frage, die wir uns 2013 gestellt haben, war, ob die 5 Sterne Bewegung eine interethnische Partei sei. Aufgrund unserer Wahlanalyse kann man sie jedoch nicht als solche bezeichnen. Der übergroße Anteil an Wählerinnen und Wählern kommt nämlich aus dem italienischsprachigen Bevölkerungssegment – auch wenn der Spitzenkandidat ein Deutscher war. Bei den nächsten Landtagswahlen kann sich das natürlich ändern.

Parteien haben sich in sämtlichen Lebensbereichen eingenistet und haben in den Demokratien eine Parteienherrschaft errichtet.

Von der Konstante zum Wandel: Welche Veränderungen kennzeichnen das Südtiroler Parteiensystem ab 1948?

Die Anzahl der Parteien, die kandidieren und im Landtag vertreten sind, hat sich im Laufe der Jahrzehnte erhöht. Die Parteienfragmentierung hat zugenommen, sowohl im italienischen, aber besonders stark im deutschen Lager. Bis 1964 war die Volkspartei die einzige deutschsprachige Partei im Landtag, heute sind es weitere drei. Ab den 1970er Jahren hat der Wettbewerb zugenommen.

Von welcher Seite kommt die Konkurrenz für die SVP?

Das ist ein interessanter Aspekt. Die Tiroler Heimatpartei 1964 war eine liberale Partei. Ab dann öffnet sich das Parteienspektrum zunächst nach links: Egmont Jenny gründet 1966 die Soziale Fortschrittspartei, Hans Dietl folgt 1972 mit der Sozialdemokratischen Partei Südtirols. Zur gleichen Zeit wird die Partei der Unabhängigen gegründet. Die PDU ist ein Vorbote der populistischen Parteien gegen “die da oben” und vertritt den Mittelstand und die Kleinbauern und Kleinbürger. In einem dritten Moment bilden sich deutschnationale Parteien. Angefangen beim Wahlverband des Heimatbundes, dessen Spuren bis in die heutige Zeit zur Süd-Tiroler Freiheit führen. 1992 wird schließlich die Freiheitliche Partei gegründet. 1993 versuchen es auch die Ladiner mit der Sammelbewegung Ladins.

Wir haben also einen Wettbewerb, der ursprünglich stärker linksorientiert ist. Die sozialdemokratischen Parteien gehen dann unter, weil die Volkspartei nicht tatenlos zuschaut und einen eigenen Arbeitnehmerflügel ins Leben ruft, der den linken Parteien allmählich das Wasser abgräbt. Aber dann öffnet sich auch der Wettbewerb nach rechts – und dort gelingt es der SVP nicht mehr, ihren rechten Flügel abzudecken. Heute ist der Wettbewerb nach rechts verschoben, weil es auf der linken Seite für die Volkspartei keine Konkurrenz gibt.

Wie verschiebt sich aufgrund der Konkurrenz von rechts der politische Diskurs?

Unter den Parteien Südtirols gab es sowohl auf italienisch- wie auf deutschsprachiger Seite lange Zeit stets nur Autonomieparteien. Der neofaschistische MSI war eine Anti-Autonomiepartei, mit der Forderung nach einer inneren Sezession: Zentralismus, Abbau der Autonomie, “Zurück zu Rom”. Selbst nach der Verabschiedung des Zweiten Autonomiestatuts schaffte es mit dem MSI 1973 nur eine Anti-Autonomiepartei in den Landtag.
Heute haben wir eine ziemlich andere Situation: Sezessionistische Parteien kommen auf rund 27 Prozent der Stimmen. Das kommt einer kopernikanischen Wende gleich! Zugleich verlieren die Zentrumsparteien an Konsens. Eine italienische Zentrumspartei, wie es die Democrazia Cristiana einmal war, gibt es heute überhaupt nicht mehr. Darin liegt mit ein Grund für das Unbehagen, das heute unter den Italienern verbreitet ist.

Können Sie das erklären?

Das politische System in Südtirol, beruhend auf dem Konkordanzmodell, baut auf der maximalen Einbindung aller Sprachgruppen auf. Auch die Regierung muss aufgrund der Stärke der im Landtag vertretenen Sprachgruppen zusammengesetzt werden. Hier aber tritt ein Systemproblem zutage: Das Konkordanzprinzip im Autonomiestatut gilt nicht nur für die Parteien, sondern sieht vor, dass diese Parteien auch die Zivilgesellschaft in den Entscheidungsprozessen maximal vertreten.

Es reicht also nicht, Vertreter irgendeiner italienischen Partei im Landtag in die Landesregierung zu holen, sondern es sollte bestenfalls jener sein, dessen Partei am meisten Stimmen erzielt hat?

So kann man es nicht sehen. Denn neben der Proporzlogik kommt auch die politische Logik hinzu. Aber der Erosionsprozess der italienischen Parteien und der Rückgang starker italienischer Parteien hat dazu geführt, dass heute nur noch rund 30 Prozent der italienischen Bevölkerung durch ihre Parteien in der Regierung vertreten sind.

Inwiefern?

Früher konnten DC und Sozialisten die meisten Wählerstimmen aus dem italienischen Lager bündeln. Als Regierungsparteien vertraten sie die Mehrheit der italienischen Wähler und Wählerinnen. Heute vertritt der PD, der 2013 noch 30 Prozent der italienischen Stimmen erhalten hat, als einzige italienische Regierungspartei nicht einmal ein Drittel der italienischsprachigen Wähler. Und das ist meiner Ansicht nach ein ganz wesentlicher Faktor für dieses Unbehagen der Italiener. Weil 70 Prozent Parteien wählen, die nicht in der Regierung vertreten sind und sich somit 70 Prozent der Italiener nicht mit den Entscheidungsprozessen identifizieren.

Die Menschenrechte stehen, für mich jedenfalls, über der Autonomie. Im Gegenteil, Autonomie ohne Menschenrechte ist gar nicht denkmöglich. Aber die Volkspartei stellt offenbar die Autonomie über alles.

Wird sich die SVP aufgrund dieses Legitimationsmankos nach den nächsten Landtagswahlen nach einem neuen Koalitionspartner umschauen? Nach einer Partei, die mehr italienische Stimmen auf sich vereinen wird als der PD?

Da gibt es ein Problem, mit dem sich die SVP schon in der Vergangenheit konfrontiert gesehen hat. Zum einen konnte und kann sie nicht mit einer Partei koalieren, die der Autonomie kritisch bis ablehnend gegenüber steht. Als Partner braucht die SVP eine italienische Autonomiepartei. Und zum anderen braucht die SVP eine Partei, mit der sie einigermaßen einen ideologisch-politischen Konsens findet. Der PD hat diese beiden Dimensionen eines idealen Koalitionspartners erfüllt: autonomietreu und ideologisch nicht allzu weit entfernt.
Die Frage ist allerdings, ob die Volkspartei eventuell auch andere solche Parteien findet.

Teile der aktuellen SVP-Leitung drängen auf eine Abkehr vom PD und liebäugeln mit der Lega.

Es ist durchaus denkbar, dass die Volkspartei anstatt mit dem PD mit der Lega eine Koalition eingeht. Aber auch eine Koalition mit den 5 Stelle ist nicht ausgeschlossen. Die Volkspartei ist nämlich was das anbelangt sehr pragmatisch. Von Ideologie und Wertegemeinschaft ist sie in dieser Hinsicht längst abgerückt. Die SVP denkt rein zweckrational, utilitaristisch. Ganz nach dem italienischen Sprichwort: Francia o Spagna, purchè se magna. Und “magna” bedeutet für die SVP Autonomie.

Was sich diese Woche in Rom gezeigt hat: Die SVP-Parlamentarier haben sich bei der Vertrauensfrage zur Regierung von Giuseppe Conte der Stimme enthalten…

Beim Wahlverhalten der SVP bei Vertrauensabstimmungen im Parlament seit 1948 waren immer zwei Kriterien ausschlaggebend: Ob eine Regierung autonomiefreundlich ist und ob sie den Werten der Volkspartei halbwegs entspricht, ob sie also ideologisch kompatibel ist. Regierungen, die in den 1950er und 60er Jahren von außen von den Neofaschisten unterstützt wurden, hat die Volkspartei aus ideologischen Gründen abgelehnt und diesen das Vertrauen nicht ausgesprochen. Ebenso 1994 und danach, als Berlusconi eine Koalition mit Alleanza Nazionale, der Nachfolgepartei des neofaschistischen MSI, einging.

Derzeit gibt es keine charismatischen Persönlichkeiten in Südtirols Politik.

SVP-Obmann Philipp Achammer dürfte unlängst Ihre These der Wende der SVP von einer ideologisch geleiteten zu einer utilitaristisch denkenden Partei bestätigt haben. “Wir treffen keine Entscheidungen aus irgendwelchen ideologisch geprägten Motiven, so wie dies etwa der PD tut. Für uns zählt in erster Linie die Autonomie, und wir haben gute Gründe, warum wir uns der Stimme enthalten: Wenn eine Regierung zum Schutz der Autonomie bereit ist, dann wollen wir auch einen konstruktiven Dialog aufbauen.” Mit diesen Worten konterte Achammer diese Woche auf die Kritik des lokalen PD an der Enthaltung der SVP-Parlamentarier.

In diesem Sinne hat die SVP eine radikale Wende vollzogen. Früher galten für sie zwei Kriterien. Jetzt gilt nur mehr ein Kriterium: Ob die Regierung für den Ausbau der Autonomie etwas bringt. Davon hängt die Frage ab, ob die SVP einer Regierung zustimmt, sich enthält oder dagegen stimmt. Damit steht sie aber in einem eklatanten Widerspruch zu den Grundsätzen – steht in ihrem Grundsatzprogramm von 2016 doch: “Die SVP bekennt sich zum christlich-humanistischen Menschen- und Gesellschaftsbild und betrachtet dieses als verbindliche Grundlage ihrer wertvorstellungen und Ideale.”

Und somit?

Die Lega tritt die Menschenwürde mit Füßen, das beginnt schon bei ihrer Sprache den Flüchlingen, Asylanten, Sinti und Roma gegenüber, früher auch gegenüber den Süditalienern und grundsätzlich gegen Faulpelze und Sozialschmarotzer. Die Menschenwürde aber ist Ausgangspunkt der Menschenrechte. Und die Menschenrechte stehen, für mich jedenfalls, über der Autonomie. Im Gegenteil, Autonomie ohne Menschenrechte ist gar nicht denkmöglich. Aber die Volkspartei stellt offenbar die Autonomie über alles, alles andere ist nachgeordnet. In diesem Punkt hat sich die frühere Volkspartei von der heutigen substantiell unterschieden.

Haben die Wähler Verständnis dafür, dass die SVP die Werte einer Regierung augenscheinlich hinter deren Nützlichkeit zurückstellt?

Auch innerhalb der Wählerinnen und Wähler hat sich einiges getan. Man kann es in etwa so beschreiben, dass wir jeden Tag ein kleines Stück der Menschenwürde abschneiden. Wir akzeptieren immer indifferenter, dass über Ausländer, über Sinti und Roma, über “Schmarotzer” und so weiter auf die übelste Art hergezogen wird. Wo Sprache Gewalt ausdrückt, sind wir von der personalen Gewalt nicht mehr weit entfernt. Das Tragische: Viele gewöhnen sich daran. Da steigt mir persönlich der Zorn hoch, weil Menschenwürde und Menschenrechte für mich etwas ganz Zentrales sind. Leider Gottes ist diese unheimlich utilitaristische, sozialegoistische Haltung in weiten Teilen der Zivilgesellschaft verbreitet. Weite Teile der Gesellschaft sind dem Unrecht gegenüber apatisch. Und das ist für mich eine schreckliche Entwicklung. Weil damit zentrale Werte, die eine Gesellschaft zusammenhalten und die die Grundlage der Demokratie bilden, abgehobelt werden. Das Wort Solidarität ist aus dem gesellschaftlichen Vokabular gestrichen worden. Und wir nehmen das ohne schlechtes Gewissen hin. Wie es der Schriftsteller Michael Köhlmeier unlängst gesagt hat: Uns ist die Empörung abhanden gekommen.

Es könnte sein, dass die italienischen Wähler bei den heurigen Landtagswahlen stärker motiviert sein werden, italienischen Parteien die Stimme zu geben, insbesondere Lega und 5 Stelle.

Sie sagen, den Parteien sind die Werte verloren gegangen…

Die Werte sind nicht verloren gegangen. Sie erodieren.

Wenn es immer seltener um Werte geht, worum geht es Parteien dann? Um Wählerstimmen?

Um Macht, oder anders ausgedrückt: um Wählerstimmen, um die Besetzung von öffentlichen Ämtern und um sachpolitische Erfolge. Macht ist grundsätzlich nichts Schlechtes und es ist legitim, dass jede Partei versucht, an die Macht zu kommen. Die Frage ist nur: Mit welchen Mitteln? Heute gibt es eine gewisse Schamlosigkeit. Die Parteien sind nicht mehr Werte-Parteien, also ideologische Parteien, sondern Allerwelts-Parteien, catch-all parties. Früher, als sie stark ideologisch bestimmt  waren, waren die Parteien angebotsorientiert, sie haben der Gesellschaft ein Angebot gemacht: Wir wollen A, B, C, D. Heute hingegen sind Parteien im Wesentlichen nachfrageorientiert. Sie hören zuerst ins Volk hinein und bieten dann an, wo die Nachfrage ist. Typisches Beispiel dafür ist Silvio Berlusconi, der sich fragt, was will das Volk, und das wird dann gemacht.

Ist den Parteien mit den Ideologien auch das Vertrauen der Menschen abhanden gekommen?

Die Parteien haben nicht nur in Südtirol, sondern europaweit ganz stark an Vertrauen eingebüßt. Dafür gibt es strukurelle Bedingungen, aber davon abgesehen sind sie natürlich selbst nicht völlig unschuldig. Der Vertrauensverlust hängt zum einen und selbstverständlich damit zusammen, dass sich Parteien Privilegien eingeräumt haben. Zum anderen aber auch mit ihrer Überfunktion. Sie haben sich in sämtlichen Lebensbereichen eingenistet und haben in den Demokratien eine Parteienherrschaft errichtet.
Parteien haben aber ganz bestimmte Funktionen. Dazu gehört nicht, sich überall einzumischen.

Sondern?

Eine zentrale Funktion ist die Rekrutierung von politischem Personal. Zudem haben sie eine Legitimationsfunktion: Macht muss legitimiert werden und in der Demokratie geht das über Wahlen, an denen die Parteien teilnehmen. Und Parteien haben eine Integrationsfunktion, indem sie Interessen in der Gesellschaft bündeln und ins politische System einbringen. Aber nirgends steht, dass sie zum Beispiel für die Auswahl des Verwaltungspersonals der RAI zuständig sind.
Neben der Überfunktion, die die Parteien ausüben, hat sich ihre Organisationsform geändert. Es gibt einen unheimlich starken Veränderungsprozess, der mit dem Ende unserer Industriegesellschaft zusammenhängt.

Und zwar wie?

Früher gab es die Massenproduktion am Fließband. Nach dieser Logik haben sich auch die Parteien als Massenparteien organisiert. An die Stelle des Industriekapitalismus ist heute der chaotische Finanzkapitalismus getreten. Das hat sich auf die Parteien unglaublich stark ausgewirkt: Den Massenparteien sind heute die Massen abhanden gekommen. Das hat die Parteien in eine fundamentale Krise gestürzt.
Auch in Südtirol haben die Parteien in den vergangenen 20, 30 Jahren einen äußerst starken Transformationsprozess erlebt. Die italienischsprachigen bedeutend mehr als die deutschsprachigen Parteien.

Hat das mit den Entwicklungen und Prozessen auf nationaler Ebene bzw. in den nationalen Parteien zu tun?

Natürlich. Die italienischen Parteien in Südtirol hängen mit nationalen politischen Entwicklungsprozessen zusammen. Interessanterweise haben sich die nationalen Parteien in Südtirol äußerst stark verdünnt. Früher gab es keine italienischen Landesparteien, sondern nur Ableger nationaler Parteien. Heute haben wir nur noch zwei nationale Parteien im Landtag: 5 Stelle und PD. Die anderen – Alto Adige nel Cuore und Team Autonomie – sind regionale Parteien.

Weite Teile der Gesellschaft sind dem Unrecht gegenüber apatisch. Und das ist für mich eine schreckliche Entwicklung.

Die deutschsprachigen Parteien bekommen die Krise vermutlich auch zu spüren?

Auch wenn es die nationalen Verflechtungen auf deutschsprachiger Seite nicht gibt, die Parteien befinden sich trotzdem in einer Krise. Die ehemaligen großen Apparats- und Massenparteien gehören der Vergangenheit an. Die SVP ist die letzte große Partei, die noch versucht, die alte Parteienlogik aufrecht zu erhalten. Aber man bedenke, dass die Volkspartei 1990 noch 80.000 Mitglieder hatte. Heute sind es rund 37.000. Dazu kommt, dass man die ehemaligen Stammwähler – diejenigen, die immer dieselbe Partei wählen, komme was wolle – inzwischen fast nur mehr mit der Lupe findet. Heute haben wir Wechselwähler, Last-Minute-Wähler, die erst im letzten Augenblick entscheiden, was sie wählen. Die Wählerschaft ist äußerst mobil geworden. Die Parteien tun sich heute unheimlich schwer, die Wähler an sich zu binden.

Stichwort Politikverdrossenheit?

Die Bevölkerung partizipiert politisch nicht weniger, sondern sie partizipiert anders. Neben den Mitgliedschaften in Parteien nehmen ja auch jene in Gewerkschaften ab. Aber zugleich engagieren sich viel mehr Menschen im informellen Bereich, etwa in Bürgerinitiativen.

Ist die Krise der Parteien ein Symptom einer Systemkrise, jener der repräsentativen Demokratie?

Die repräsentative Demokratie hat zuletzt gar einige Dellen abbekommen. Neben dem Vertrauen in Parteien hat die Zivilgesellschaft auch Vertrauen in die Institutionen verloren.
Und natürlich versuchen Parteien, aus dieser Krise herauszukommen.

Wie kann das gelingen?

Um sich zu regenerieren, sollten sie sich aus etlichen gesellschaftlichen Bereichen zurückziehen. Die Parteien haben die Gesellschaft kolonisiert, es ist eine nicht zu rechtfertigende Parteienherrschaft entstanden. Das hat negative Auswirkungen und ist ein Grund, weshalb viele von den Parteien die Schnauze voll haben. Der repräsentativen Demokratie kann auch der Ausbau der direkten und deliberativen Demokratie helfen, nicht als völliger Ersatz der repräsentativen Demokratie, aber als starke Ergänzung und Korrektiv.

Kräfte wie der Movimento 5 Stelle, der sich selbst als postideologisch und Anti-Establishment-Bewegung präsentiert, der das Parteiensystem sprengen und die Parteienherrschaft beenden will, erfahren großen Zulauf. Wie glaubwürdig ist die Erzählung der 5 Stelle, dass man eine Alternative sein will, wenn man jetzt mit der Lega – die älteste Partei, die aktuell im Parlament vertreten ist – regiert?

Was die Wählerschaft betrifft, sind die 5 Stelle eine sehr heterogene Partei. Sie haben einige durchaus nachvollziehbare Forderungen, die in Richtung Rückbau der Parteien und ihrer Herrschaft gehen. Andererseits gibt es auch viele, insbesondere personelle Kontinuitäten, die in die Geschichte der “alten” Parteien hineinreichen. Nichtsdestotrotz habe ich größte ideologische Vorbehalte. Die 5 Stelle legitimieren eine Partei – die Lega –, die die Menschenwürde mit Füßen tritt. Natürlich werden die 5 Stelle sagen, wir sind nicht wie die Lega. Aber mit der Regierungskoalition und dem gemeinsamen Koalitionsvertrag legitimieren sie deren Politik. Und so weit sind die 5 Stelle von der Lega offenbar gar nicht entfernt, wenn wir uns ansehen, in welcher Fraktion sie im Europäischen Parlament sitzen. In der “Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie” finden wir die rechtspopulistische Brexit- und Anti-EU-Partei UKIP, rassistische Parteien wie die Schwedendemokraten, die AfD und andere mehr. Niemand hat die 5 Stelle gezwungen, in diese Fraktion zu treten. Dazu ein weiteres italienisches Sprichwort: Dimmi con chi vai e ti dirò chi sei.

Wo Sprache Gewalt ausdrückt, sind wir von der personalen Gewalt nicht mehr weit entfernt.

In Ihrem Buch sprechen Sie die zunehmende Personalisierung der Politik an. Sehen Sie die in Südtirol?

Bei der Personalisierung müssen wir drei Ebenen unterscheiden: die Personalisierung der Wahlkämpfe, die Personalisierung des Wählerverhaltens und die Personalisierung der Berichterstattung. Südtirols Parteien sind stark durch diese Personalisierung geprägt, ganz klar. Parteien orientieren sich stark an Persönlichkeiten, weil Persönlichkeiten im übertragenen Sinne Inhalte vertreten. Die Inhalte einer Partei verdichten sich in einer Person – Vertrauenswürdigkeit, Durchsetzungsvermögen, Ehrlichkeit und so weiter. Die Bevölkerung orientiert sich unter anderem auch an diesen Werten und somit an diesen Persönlichkeiten.

Empfindet man einen Politiker zum Beispiel als vertrauenswürdig, nimmt man auch seine Partei als vertrauenswürdig wahr?

Genau. Oft haben starke Persönlichkeiten sogar noch höhere Vertrauenswerte als ihre eigenen Parteien.

Sehen Sie in Südtirol heute starke politische Leader?

Bis vor kurzer Zeit gab es eine äußerst starke Personalisierung mit charismatischen Persönlichkeiten: Luis Durnwalder mit seinen 100.000 Vorzugsstimmen, die er zu Spitzenzeiten erhalten hat; oder Eva Klotz, Alexander Langer. Ihre Nachfolger haben nicht mehr dieses Charisma, derzeit gibt es keine charismatischen Persönlichkeiten in Südtirols Politik. Insofern ist auch der Personalisierungsbonus weniger geworden. Was aber nicht heißt, dass die Parteien nicht auf die Personalisierung setzen, das werden sie auf alle Fälle. Allen voran die 5 Stelle mit Paul Köllensperger, der sehr hohe Sympathiewerte hat. Und natürlich auch die Volkspartei mit Arno Kompatscher, ebenso das Dreigespann der Süd-Tiroler Freiheit und die Freiheitlichen.

Dass es heute keine italienische Zentrumspartei mehr gibt, ist mit ein Grund für das Unbehagen, das unter den Italienern verbreitet ist.

Es sind noch knapp fünf Monate bis zu den Landtagswahlen. Wenn Sie heute eine Prognose wagen, wie fällt die aus?

Bei der Wahlbeteiligung könnte sich etwas ändern. Die hat in Südtirol in den vergangenen Jahren stark abgenommen, bei den Landtagswahlen betrug sie zuletzt 77,7 Prozent.

Was könnte sich heuer ändern?

Wichtig beim Wahlverhalten ist folgendes: Ungefähr 80 Prozent der deutschsprachigen Wähler gehen zur Wahl, aber nur rund 60 Prozent der italienischsprachigen. Die geringere Wahlbeteiligung der Italiener bringt den deutschsprachigen Parteien Vorteile. Die zehn Prozent italienische Stimme für die Volkspartei  machen in etwa ein halbes Mandat aus. Und die geringere Wahlbeteiligung der Italiener hat dazu geführt, dass ein italienisches Mandat zu den deutschsprachigen Parteien gewandert ist, die Italiener damit eine geringere Präsenz im Landtag aufweisen.
Es könnte sein – das ist meine These –, dass die italienischen Wähler dieses Mal stärker motiviert sein werden, italienischen Parteien die Stimme zu geben. Und zwar Parteien, die en vogue sind, die oben auf der Welle surfen, insbesondere Lega und 5 Stelle. Darum könnte die Wahlbeteiligung insgesamt wieder etwas zunehmen, vor allem die der italienischen Wählerschaft.

Abgesehen davon ist die große Frage, ob die SVP wieder die absolute Mehrheit schafft.

Das ist eine offene Frage, die von vielen Faktoren abhängt: der Wahlbeteiligung; davon, wie viele Italiener die SVP wählen; wie die heute noch Unentschlossenen wählen usw. Es sind zu viele unbekannte Variablen da, um die Frage, ob die Volkspartei die Absolute schaffen wird, heute zu prognostizieren. Was wir sagen können, ist, dass es ein neues Angebot geben wird, vor allem in der italienischen Parteienlandschaft.

Welches?

Es wird sehr wahrscheinlich wieder den Versuch geben, eine lokale italienische Zentrumspartei auf die Füße zu stellen, möglicherweise kommt es zur Bildung von neuen Parteibündnissen, insbesondere im rechten Lager. Auf der deutschsprachigen Seite werden wir hingegen wieder die “alten” Parteien haben, die jetzt schon im Landtag vertreten sind. Ich kann mir kaum vorstellen, dass da noch etwas Neues dazukommt – weil es dafür keinen Wählermarkt gibt.

Insgesamt also nicht viel Neues?

Es ist noch ein bisschen zu früh, um eine seriöse Prognose abzugeben. Das, was ich sicher sagen kann: Insbesondere auf italienischer Seite wird es ein anderes Angebot als bisher geben; auf deutscher Seite wird es keine Umwälzungen geben; und Lega und 5 Stelle werden sicherlich an Konsens zunehmen – dafür braucht es keine Umfrage, um das feststellen zu können.

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alfred frei So., 10.06.2018 - 11:19

Eine lästige Fliege schwirrt durch den ersten Teil des Salto Gesprächs. Die interethnischen Erfahrungswerte eines PCI/KPI und des PSI/SPI werden mit einem gezielten Handschlag beseitigt. Obwohl ihr Beitrag zu einer friedlichen Autonomielösung sicher nicht unbedeutend war. Warum wohl Herr Pallaver ?

So., 10.06.2018 - 11:19 Permalink
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Karl Trojer So., 10.06.2018 - 12:30

Ein Dank dem Günther Pallaver für diese umfassende Darstellung der Parteien- und Wählersituation." Wo Sprache Gewalt ausdrückt, sind wir von der personalen Gewalt nicht mehr weit entfernt" Dieser Satz trifft, nach meinem Verständnis von politischer Kommunikation, ins Zentrum. Als Hauptursachen aber für die derzeitigen politischen Zustände in den westlichen Demokratien scheinen mir a) der "chaotische Finanzkapitalismus" begleitet vom Konsumzwang, und b) das fremdbestimmte Verständnis von Menschenwürde mit Angst als Folge zu sein. Dem Finanzpiratentum müsste und könnte, zumindest seitens der EU, ein Riegel vorgeschoben werden, indem jede Finanztransaktion mit mimdestens 1,5% besteuert wird, und diese Transaktionen nicht weiter im milli-Sekundentakt sondern erst nach einer Wartezeit von mindestens 3 Tagen durchgeführt werden dürfen. Das derzeitige "freie" Finanzmarkt zerstört die Realwirtschaft, führt in neue "Finanzkrisen" und fährt die Volkswirtschaften gegen die Wand (Verlierer bleiben die Kleinen, Gewinner die großen Gauner). Der Konsumzwang beruht auf unerfüllter Lebenssehnsucht, die mit "immer mehr haben müssen" beworben wird, Wobei für ein guten Leben doch nur recht wenig ausreichen würde : ausreichende Ernährung, ein "daheim" und gute zwischenmenshcliche Beziehungen. Dass Menschenwürde fremdbestimmt vermittelt wird, hängt m.E. damit zusammen, dass uns bereits als Kleinkinder vermittelt wird, wir seien "würdig" wenn wir gelobt, und "unwürdig" wenn wir getadelt werden. Eine derart verstandene Menschenwürde hat Misstrauen, Angst, Aggression zur Folge und führt zu absurden Sicherheits-Forderungen und dazu sich von anderen abzugrenzen, zum Sich-Einmauern, zur Ablehnung alles Fremden. Dabei sind primäre Voraussetzung für ein lebenswertes Miteinander der gegenseitige Respekt und die Wertschätzung der Verschiedenheiten. Direkte Demokratie ist der zweiter Pfeiler einer jeden echten Demokratie und Parteien, die dies verstehen, werden dazugewinnen, jene die z.B. das im Landtag aufliegende Gesetzt zur Direkten Demokratie beschneiden und vertagen, werden an Zustimmung verlieren.

So., 10.06.2018 - 12:30 Permalink
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Profil für Benutzer 19 amet
19 amet So., 10.06.2018 - 21:42

Die Regierung greift nicht ein um den Bürger vor sich selbst zu schützen, so dumm ist er nicht. Sie greift ein um ihn vor der Dummheit Anderer zu schützen, die glauben irgendwelche ideologisierten Trottel hätten die Weisheit betreffend das Impfen
gepachtet. Und wie üblich kommen Sie wieder mit einem ihrer Märchen. Fragen Sie einen Koch welche Temperaturen beim frittieren notwendig sind. Wenn Sie schon so cool über die Eu posaunen möchten dann halten Sie sich doch an die Wahrheit. Es gibt genug Verordnungen die überflüssig sind. Vorher forschen, dann schreiben.

So., 10.06.2018 - 21:42 Permalink
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Profil für Benutzer Manfred Klotz
Manfred Klotz Mo., 11.06.2018 - 07:52

Na ja Oliver, das mit der Temperatur von Frittierfett hat schon gesundheitliche Gründe. Auch die vielfach belächelte Gurkenverordnung (die es nicht mehr gibt) hatte eigentlich praktische Gründe, daher wollte sie mehr als die Hälfte der Mitgliedsstaaten gar nicht abschaffen.

Mo., 11.06.2018 - 07:52 Permalink
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Profil für Benutzer Manfred Klotz
Manfred Klotz Mo., 11.06.2018 - 17:19

Wenn wissenschaftlich erwiesen ist, dass Acrylamid krebserregend oder sehr wahrscheinlich krebserregend ist, dann ist das keine Legitimation regulierend einzugreifen? Glaubst du wirklich irgendeine Frittenbude würde von sich aus etwas tun? Woraus leitest du dann die Legitimation für eine gesetzliche Regelung ab, wenn nicht von Erfahrungen bzw. Notwendigkeiten?
Von der Einhaltung bestimmter Temperaturen beim Frittieren profitiert keine Industrie und ist auch keiner benachteiligt.

Mo., 11.06.2018 - 17:19 Permalink
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Profil für Benutzer Hermann Rochholz
Hermann Rochholz Di., 12.06.2018 - 22:53

Antwort auf von Manfred Klotz

Unsinn... Genau NICHTS ist wissenschaftlich erwiesen.
Alle Biertrinker, Caro-Cafe-Trinker und Lebkuchenesser wären dann schon längst an Krebs gestorben.
Die Notwendigkeit des Eingreifens besteht drin, zu tun, als ob man etwas tut.

Apatisch- was für'n Tisch? Maaah!

Di., 12.06.2018 - 22:53 Permalink