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Lass uns spielen

Was heißt hier Identität? Ein verspielter Gastbeitrag von Barbara Ivančić aus der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Kulturelemente.
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Foto: Salto.bz

Italienischsprachige Kinder fangen ihre Rollenspiele gerne mit der sprachlichen Formel Facciamo che io ero an. Damit weisen sie sich bestimmte Rollen zu und legen die Spielregeln fest: Facciamo che io ero la regina e tu il principe, zum Beispiel, ‚Lass uns Königin und Prinz spielen‘. Das Verb essere, ‚sein’, mit dem man sich eine neue Identität verschafft, kommt dabei jedoch nicht im Präsens vor, sondern im Imperfekt bzw. Präteritum (ero), als würde man im Deutschen sagen: Lass uns so tun, als ob ich die Königin war und du der Prinz. Grammatikbücher bezeichnen diese besondere sprachliche Struktur als imperfetto ludico, ‚spielerisches Imperfekt’, oder auch als imperfetto onirico, ‚Traumimperfekt’, weil sie auch bei Traumbeschreibungen vorkommt.

„Wer bin ich? / Das ist die Frage, die andere stellen. / Ich bin meine Sprache. / Und die ist viele.”
(Ilija Trojanow)

Auch im Deutschen gibt es übrigens etwas Vergleichbares: Das so genannte epische Präteritum, bei dem die Tempusform seine Vergangenheitsbedeutung verliert und ähnlich wie das spielerische Imperfekt zur Herstellung einer fiktionalen Gegenwart dient. Neue Spielräume werden also erschaffen, indem man von den üblichen Sprachnormen abweicht bzw. sie auf den Kopf stellt. Ein ernstes Spiel. Sehr ernst muss auch der Triestiner Schriftsteller Scipio Slataper gewesen sein, als er in den ersten Zeilen seines 1912 erschienenen Buches Mein Karst, in dem er die kulturelle Vielschichtigkeit der Stadt Triest ausgehend von seiner eigenen Biographie beschreibt, dreifach auf die Wendung Vorrei dirvi, ‚ich möchte euch sagen’, zurückgriff: Dreifach wie die dreifache – italienisch-slawisch-deutsche – Seele seiner Herkunftsstadt. Anstatt seine nationale Identität als ausschließlich italienisch zu bezeichnen, möchte er uns sagen, dass er im Karst, dem Grenzgebiet um Triest, geboren ist. Oder in Kroatien. Oder in Mähren. Aber keine der drei Behauptungen würde der Wahrheit entsprechen, denn er wurde eben in Triest geboren. „Um die Komplexität seiner Identität auszudrücken“, schreibt Claudio Magris, „ist er gezwungen, zu der Waffe zu greifen, welcher sich laut der alten Griechen die Dichter oft bedienen, nämlich zur Lüge. Doch bisweilen sind Lügen – oder besser, wie in diesem Falle, Metaphern – die einzige Weise, etwas auszudrücken, das ohne Verfälschung nicht bestimmt werden kann, auf das nur immer angespielt und verwiesen werden kann, indem man nämlich [...] die Worte im ‚uneigentlichen’ Sinne verwendet.“ (Magris 2013, 222)

Uneigentlich wie die Tempusverwendung in facciamo che io ero. Vielleicht hätte Slataper spielend auch ungehemmt gesagt: „Facciamo che io ero aus dem Karst, oder aus Kroatien, oder aus Mähren“? Ob er das so auch mal ausgedrückt hat? Kann man die Identitätsfrage eigentlich anders als mit spielerischer Ernsthaftigkeit – anders als mit facciamo che io ero – aufgreifen? So wie es das Mädchen tut, das der aus Belgrad stammende, in Portugal lebende Schriftsteller und Übersetzer Dejan Tiago Stankovi im Titel seines Odakle sam bila, više nisam (2012) indirekt zitiert: ‚Ich komme nicht mehr, von wo ich herkam’. Den Satz hat er bei einem Gerichtsverhör in Lissabon aufgeschnappt; ein Zigeunermädchen aus dem ehemaligen Jugoslawien antwortete so auf die Frage des Richters nach ihrer Herkunft. Identität, das spürt das Mädchen wohl, lässt sich nur als Negation bestimmen. Was bleibt, ist der Spielraum des facciamo che io ero und die Sprache, mit der wir diesen Raum erschaffen. „Wer bin ich? / Das ist die Frage, die andere stellen. / Ich bin meine Sprache. / Und die ist viele.”, schreibt Ilija Trojanow in seinem Buch Nach der Flucht (2017, 124). Dabei ergänzt er Verse des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish durch das Bild des Ichs als viele Sprachen: Identität als Plural, der in der Sprache wurzelt. Trojanow bezieht sich nicht nur auf mehrsprachige Menschen wie er selbst einer ist, sondern auf den Umgang mit Sprache im Allgemeinen. Wenn man sich der Sprache öffnet und mit Achtsamkeit hineinhört, erlebt man nämlich in jeder Sprache Vielfalt, Fremdheit, Andersartigkeit: „Es leben die meisten in der Vielsprachigkeit, selbst wenn sie einsprachig agieren.” (Trojanow 2017, 110)


Wer in der Region des ehemaligen Jugoslawiens aufgewachsen ist, kennt dieses Gefühl sehr wohl. Das Serbokroatische, die damals offizielle Sprache des Landes, war nämlich eine plurizentrische Sprache, d.h. eine Sprache, die über mehrere Zentren verfügte, die – im Unterschied zu vielen anderen plurizentrischen Sprachen – sich alle in ein und demselben Land befanden. Plural im Singular. Marica Bodroži beschreibt dieses prägende Erlebnis der Vielfalt in der Sprache in ihrem Buch Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern (2007): „Und aus was genau bestand eigentlich meine erste Sprache? War sie nicht immer schon etwas Hybrides, etwas durch und durch Unvollkommenes, aus Kreuzungen und Ahnungen bestehendes Gemisch aus dem dalmatinischen Dialekt, der Sehnsucht nach einem hochkroatischen Sprachfluidum, wie es die Leute in der Hauptstadt um sich herum verbreiteten, aus herzegovinischen Wortendungen, Redensarten von hier, Redensarten von dort, eine Art, mit den Wörtern zu lachen, eine andere, mit ihnen zu schweigen, verschwiegen zu bleiben, wie es die Gebirgsgegend nahelegt; zudem hieß das Ganze Serbokroatisch, hielt größere Räume offen, verschiedene Wörter für Zug gab es, und wenn es das Glück gab, dann weil es viele Wörter für eine Sache gab.“ (Bodroži 2007, 96-97)

Kein Wunder, dass der Zerfall des Landes mit der Zerstörung dieser Vielfalt einherging. In Jugoslawien wie anderswo. Die Geschichte hat uns schon zu oft gezeigt, dass es „zum guten Ton der Identität [gehört], einsprachig zu sein”, wie es Zafer Senocak in seinem neulich erschienenen Essay Das Fremde, das in jedem wohnt (2018, 19) schreibt. Die Behauptung eines ausschließenden Identitätsbegriffs braucht ein Wort für eine Sache – keine Varianten, keine Nuancen, keine Zweifel, keinen ‚uneigentlichen’ Sinn. Mehrsprachigkeit – in verschiedenen Sprachen und in einer Sprache – fördert das Gegenteil: den Austausch, die Ambivalenz, das Übersetzen, das Erkunden eines Spielraums, der uns zu uns selbst führt: „Das Hineinhören in die Sprachen wird irgendwann zum Hineinhören in den Körper.“ (Senocak 2018, 68) Facciamo che io ero una ballerina.

Salto in Zusammenarbeit mit Kulturelemente