Politik | "Dekret der Würde"

Notwendiger Schritt gegen prekäre Arbeit

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird von der SVP immer wieder betont. Mit prekärer Arbeit ist diese kaum zu erreichen. Dennoch kein Ja zum "Dekret der Würde".
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In Italien hat die Zahl der prekär Beschäftigten Ende 2017 einen neuen Höchststand erreicht, nämlich 2,9 Millionen, das bedeutet drei Mal so viele „Prekäre“ wie 1997. Eines haben diese Arbeitsverhältnisse gemeinsam: sie sind befristet. Gut drei Viertel dieser Verträge dauern weniger als ein Jahr. In Italien leben 2,2 Millionen Arbeitnehmerhaushalte mit fast 5 Millionen Mitgliedern in Armut, obwohl mindestens ein Familienmitglied beschäftigt ist (working poor). 35,5% der befristet Beschäftigten sind solche working poor.

Wer etwas gegen dieses Phänomen unternehmen will, muss die Befristung und die extremen Niedriglöhne einschränken. Zu einem gesetzlichen Mindestlohn hat sich die Regierungsmehrheit noch nicht durchgerungen, doch auf Drängen und Initiative des M5S soeben das „decreto dignità“ durchgesetzt. Hier einige der Kernpunkte dieses Dekrets der Würde, das vorgestern vom Senat verabschiedet worden ist:

  • Die Befristung von Verträgen muss künftig sachlich begründet werden. Sie dürfen maximal 24 Monate dauern, andernfalls werden sie automatisch in unbefristete umgewandelt.
  • Befristete Verträge ohne Begründung werden auf 12 Monate beschränkt. Man kann einen solchen Vertrag höchsten vier Mal verlängern. Maximal 30% aller Arbeitsverhältnisse eines Betriebs dürfen befristet sein.
  • Der Bonus für Unternehmen, die unter 35-Jährige einstellen und dabei 50% der Sozialabgaben sparen, bleibt bis 2020 aufrecht.
  • Der Anwendungsbereich der Presto-Lohngutscheine für Gelegenheitsarbeit wird erweitert, auch auf Landwirtschaft, Gastgewerbe und Lokalkörperschaften. Die Zahlungsmodalitäten über die Postämter werden erleichtert.
  • Die nicht gerechtfertigte Entlassung durch den Arbeitgeber wird verteuert, vor allem auch für kleinere Unternehmen.
  • Unternehmen, die vom Staat subventioniert worden sind und ihren Standort ins Ausland verlagern, zahlen eine Sanktion im Ausmaß von 2 bis 4 Mal den Betrag der Subvention.

Das ist nicht alles denkbar Sinnvolle, doch immerhin. Natürlich kann die Zahl der unbefristeten und stabilen Arbeitsverhältnisse nicht allein durch die Einschränkung der prekären Arbeit erreicht werden. Aber dass Befristung begründet werden muss, ist kein revolutionärer Akt, genauso wenig, dass die Befristung zeitlich begrenzt werden muss. Die von der SVP angemahnten steuerlichen Anreize bleiben auch aufrecht (50% Sozialabgaben-Erlass). Lohngutscheine können in Kleinbetrieben der für Südtirol wichtigen Branchen Landwirtschaft und Tourismus für Arbeitsverhältnisse bis zu 10 Tagen Dauer verwendet werden. Dennoch sind die hiesigen Arbeitgeber skeptisch. „Die Südtiroler Unternehmen haben 2017 7.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Wir wollen diesen Trend fortsetzen“, kommentierte etwa Unternehmerpräsident Giudiceandrea das neue Dekret, „Sollte das Dekret der Würde in dieser Form genehmigt werden, wird dies allerdings schwierig.“ Warum eigentlich?

Die Zahl der Arbeitsplätze in Südtirol wächst nämlich, aber befristete Verträge kommen bei uns auch dort stark zum Einsatz, wo sie nichts zu suchen haben, wo also der Grund nicht Produktionsspitzen oder Witterungsverhältnisse sind. 28% der Arbeitnehmer Südtirols waren im Jahresschnitt 2017 nur befristet angestellt – im Jahr 1998 hatte der Anteil noch bei 18% gelegen. Sogar die 6.500 Stellen an Beschäftigungszuwachs im Jahr 2017 bestehen zu 80% aus befristeten Arbeitsverträgen und nur zu 20% aus Festanstellungen (Quelle: Stefan Perini). Diese zusätzlichen Arbeitsplätze entstanden vor allem im Tourismus, allerdings überwiegend mit saisonalen Arbeitsverträgen, die vom „Dekret der Würde“ gar nicht betroffen sind. Nur 47% der Beschäftigten im Gastgewerbe Südtirols haben einen unbefristeten Vertrag. Zudem erlaubt das Dekret der Würde den Einsatz der Lohngutscheine auch in Gastbetrieben, allerdings nur jenen mit maximal 8 Beschäftigten. An dieser Flexibilität auf dem hiesigen Arbeitsmarkt ändert das neue Dekret somit nichts, doch ändert es etwas an der rechtlichen Qualität mancher Anstellung.

Im Parlament haben sich die SVP-Vertreter dennoch enthalten, vor allem weil die Regelung der Lohngutscheine völlig unzureichend sei, so die Fraktionssprecherin R. Gebhard. Sie stößt sich auch daran, dass die Befristung von Arbeitsverträgen künftig begründet werden muss und maximal 24 Monate umfassen darf. Die SVP hätte das gerne alles noch flexibler. Doch die von den SVP-Frauen sonst oft betonte Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat Gebhard dabei vergessen. Mit befristeten Verträgen und Lohngutscheinen lässt sich kaum eine Familie gründen. Jene Branchen mit befristeten oder prekären Arbeitsverhältnissen sind auch jene mit den meisten „working poor“ (armutsgefährdet trotz Arbeitsplatz). Zudem ist im Tourismus und in der Landwirtschaft nicht nur die Befristung stark verbreitet, auch kollektivvertraglich vorgesehene Rechte werden oft missachtet und Überstunden nicht gezahlt. In Südtirol wurden Beschäftigte sogar gezwungen, vorab auf ihr Vorrangsrecht in der nachfolgenden Saison zu verzichten. Für mehr Würde in den Arbeitsverhältnissen gäbe es also noch allerhand zu tun. Dieses Dekret ist ein erster, notwendiger Schritt gegen prekäre Arbeitsverhältnisse. Während sich die SVP dazu enthält, ist von den SVP-Arbeitnehmern gar nichts zu hören.