Kultur | Salto Afternoon

Es lebe die Demokratie!

Das Staatstheater Kassel gab vergangene Woche ein Gastspiel ihrer preisgekrönten Inszenierung von Aischylos „Orestie“. Schwer verdaubares Theater. Aber nahrhaft.
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Foto: Foto: N Klinger

Fast genau 2500 Jahre ist es her, dass die Orestie von Aischylos in Athen uraufgeführt wurde. Dass der Stoff seit dieser Zeit unzählige Male aufgegriffen, in neue Gewänder verpackt und um viele Facetten erweitert wurde, unter anderem von Goethe, spricht wohl für die Zeitlosigkeit dieser Erzählung, die auch heute noch zu polarisieren weiß.

Wie einst Prometheus, nehmen die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand.

Geschildert wird eine lange Serie von Mord und Rache am Hofe von König Agamemnon (Bernd Hölscher), dem Herrscher von Mykene. Um für seine Flotte günstigen Wind zur Überfahrt nach Troja zu bekommen, opfert er, von einem Götterspruch geleitet, seine Tochter Iphigenie. Als der siegreiche König vom zehnjährigen Krieg in Troja zurückkehrt, erdolchen seine Ehefrau Klytaimnestra (Christina Weiser) und ihr Liebhaber Aigisthos (Uwe Steinbruch) ihn in der Wanne, aus Rache für die Opferung der Tochter und aus Groll gegenüber Kassandra (Caroline Dietrich), der schönen Prinzessin Trojas, die Agamemnon als Sklavin und Geliebte vom Feldzug nach Hause mitgebracht hat. Im Gegenzug erschlägt der Königssohn Orestes (Hagen Bähr) seine eigene Mutter und ihren Liebhaber, um den Mord am geliebten Vater zu rächen.

Das Stück, das genügend Stoff für neun Stunden Spielzeit liefert, wurde von Regisseurin Johanna Wehner auf zwei Stunden heruntergekürzt. Dabei sucht sie einen Spagat zwischen Antike und Moderne, der aber nur teilweise gelungen ist. Sprachlich richtet sich die Inszenierung an die Prosaübersetzung von Peter Stein, die aber aufgrund ihrer akribischen Textverbundenheit dem heutigen Publikum sehr schwer zugänglich ist. Die Verständlichkeit leidet auch teilweise unter der Wiedereinführung des antiken Chors, der mit den Protagonisten im Kollektiv interagiert. Besonders deutlich wird dies beim Mord an der Mutter, bei dem der Chor Orestes zur Tat ermutigt, ja geradezu anfeuert, um so die innere Zerrissenheit und das Dilemma des Protagonisten zu unterstreichen, dem moralischen Konflikt aber jede weitere Tiefe raubt. Die Gefühle werden fast totgebrüllt. Die Präzision des Chores und die schauspielerische Leistung, insbesondere die von Hagen Bähr, sind trotz allem hervorzuheben. Konterkariert werden diese antiken Elemente durch moderne, umgangssprachliche Ausdrücke und Objekte, die dem Zuschauer ständig, vielleicht manchmal sogar aufdringlich, die Aktualität des Themas vor Augen halten sollen.

Dieses Thema ist aber in der Tat ein spannendes. Während die augenscheinliche Problematik, also die eklatante Divergenz zwischen Rache und Gerechtigkeit, schnell klar ist, wird auch ein anderer, vielleicht noch wichtiger Aspekt herausgearbeitet: Inmitten einer scheinbar unlösbaren Spirale von Blut und Mord, von Schuld, Sühne und Verwirrung, ist es die Demokratie, die alldem ein Ende setzt. Nicht umsonst wird Orestes am Schluss des Stückes durch ein Gericht freigesprochen. Nicht umsonst wird durch eine Abstimmung in Athen, dem Geburtsort der Demokratie, der Kreislauf des Mordens durchbrochen. Das Schweigen und blinde Töten wird durch den Dialog ersetzt, es wird argumentiert, abgewogen und dann entschieden. Zentral ist hier auch die Rolle der Götter: Während sich am Beginn des Stückes die Menschen nach Göttern und gottähnlichen Königen sehnen, um selbst keine Verantwortung übernehmen zu müssen, und diese die Menschen immer wieder zur schrecklichen Taten verleiten, werden die Götter am Ende durch ein säkularisiertes Gericht entmachtet. Wie einst Prometheus, nehmen die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand. Dass das nicht einfach ist, wird besonders bei einer Szene deutlich. Die Protagonisten steigen behutsam eine Treppen hinunter, finden dabei aber keinen Halt und können sich kaum auf den Beinen halten: sie sind wie unsichere Kinder und müssen mit der neuen Freiheit und Verantwortung erstmal umzugehen lernen.