Kultur | Salto Weekend

Titanic, Teil 2

In memoriam Peter Oberdörfer: Der unveröffentlicht gebliebene Text „Titanic“ war Bestandteil eines geplanten Erzählbandes mit dem Titel „Supernova“.
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Foto: Foto: Sonja Steger

Heute Nachmittag. Er sah sie schon von weitem die Straße herunterkommen. Das war nicht gut, mitten im Dorf. Es wäre leichter gewesen an einem verborgenen Ort. Zwischen Büschen. Im Wald. Oder draußen im See, zu zweit allein. Als sie ihn gesehen hat, ist sie stehen geblieben. Er ist auf sie zugegangen und hat geredet, es tue ihm Leid, was vorhin im See passiert sei. Ehrlich.
„Wir müssen etwas tun.“
„Ja, und was?“
Und dann geschah, worüber man im Dorf noch lange reden wird. Der Wagnerbauer unten beim Brunnen, und die Leute an den Tischchen vor der Eisdiele Monika, und Frau Muhr, die vor ihrem Haus die Wäsche aufhängte, alle sahen sie den Charlie vor der Rita niederknien. Am nächsten Tag weiß es das ganze Dorf. Da kniet der Charlie vor der Rita wie auf einer Bühne, und die Liebeserklärung nimmt gar kein Ende. Rita zischte ihm zu, er solle auf der Stelle wieder aufstehen, er mache sich ja zum Gespött der ganzen Leute, nicht nur sich selbst, auch sie. Dann wandte sie sich ab und ließ ihn kniend zurück, mitten im Dorf.
„Wir müssen Hilfe holen, auf uns hört er ja nicht.“
„Und wen?“
„Seine Eltern?“
„Spinnst du?“
„Die Bullen.“
„Nein, nein, das machen wir unter uns aus.“
Steve und Auge haben geredet, ununterbrochen, wie immer, und Babsi, Babsi redet auch viel. Karl hat geschwiegen, er hat Saras Gesicht über dem Feuer beobachtet. Das Geflacker des Feuers hat ihr Gesicht verzerrt, manchmal war es, plötzlich, als blinzle sie, oder als ob sie grinse, dabei grinst Sara nie. Sara lächelt, manchmal, manchmal lächelt sie ihn an, aber das Gegrinse konnte nur eine Täuschung des Feuers sein. Er war sich auch ihres Blickes nie sicher, ob sie ihn anschaute, oder ob ihr Blick seinem auswich. Er ist aufgestanden und davongegangen, hinein ins Dunkle, ins Kühlere. Er ist zum See gegangen, dicht ans Wasser. Er hat sich erwartet, dass sie ihm folgen würde, wie vor drei Tagen bei Helli auf der Veranda. Gleichzeitig hat er es sich nicht erwartet. Beides, logisch, denn es ist immer beides möglich. Doch sie kam nicht. Manni ist aufgestanden, hat seine leere Bierflasche gegen die Wand von Frau Krupas Scheune geschleudert. Dann hat Manni ein neues Bier aufgemacht und sich wieder zu den anderen ans Feuer gesetzt. Die Freunde am Feuer haben gelacht. in einem weiten Bogen ist er zu Frau Krupas Scheune gegangen.
„Aber wir müssen doch etwas tun. Auf uns hört er ja nicht.“
„Ja, schon, aber ...“
„Wir müssen etwas tun, oder?“
„Ja.“
„Eben.“
Karl, ein alter Name. Alt wie ein Gote, oder wie ein Kirchenschiff. Oder wie ein Kammerdiener. Ein Kammerdiener?
„Aber wenn du raufkletterst, wie stellst du dir das vor?“
„Ich sage, holen wir eine Leiter.“
„Wir brauchen keine Leiter, ich klettere hinten rauf. Wenn ich oben bin, hört er auf mich.“
Drüben am anderen Seeufer, der alte Friedhof. Er fuhr wochenlang jeden Tag auf seiner Vespa hinüber. Dieser Grabstein aus einem groben Stein. Auf dem Grabstein ein Schwarzweißfoto. Wegen dieses Fotos ist er wochenlang hinübergefahren, wegen dieses Gesichts. Das Gesicht einer jungen Frau, eines Mädchens, in Schwarzweiß, darunter steht Franziska Lerch, 1947–1964. Nirgendwo sonst, nirgendwo, nirgendwo sonst spürt er das, was er spürt, wenn er das Gesicht von Franziska Lerch ansieht.
„Und wenn er erschrickt?“
„Wo kriegen wir jetzt eine Leiter her?“
„Das dauert alles zu lang.“
„Ich sage nochmal, eine Leiter. Von hinten, von hinten rauf und ...“
„Charlie, bitte!“
Du und die Rita? Unmöglich, haben sie alle gesagt. Mit Steve hat er darüber geredet: Vergiss es. Mit Auge: Keine gute Idee. Mit Helli: Echt? Und mit Babsi: Pervers. Und mit Hummel: Du und die Rita? Komm! Aber er hat sich nicht beirren lassen. Er und Rita seien a) nicht Bruder und Schwester. Nicht wirklich. Und b) Rita sei einfach göttlich. Ja, er meine das vollkommen ernst, göttlich. Okay? Jedem, mit dem er redete, sagte er, ihm falle nichts ein, absolut nichts an ihr, was er nicht möge.
„Charlie, du nervst!“
„Hörst du Charlie, wenn du nicht runterkletterst, dann kommen wir rauf und werfen dich eigenhändig vom Dach.“
Am Abend am See. Die anderen waren wieder schwimmen gegangen, er war mit ihr allein am Feuer geblieben. Gut, sagte er, sie müsse jetzt entscheiden. Er liebe sie, das stehe fest. Und zwar richtig, also mit allem Drumunddran. Nicht nur so wie früher. Nicht nur gern haben und so. Sie müsse das jetzt auf der Stelle entscheiden. Wenn sie wirklich, wirklich wolle, ganz ehrlich, dass er sie in Ruhe lasse, dann werde er das ab sofort und für immer tun. Als die anderen vom Schwimmen zurückkamen, knutschten Rita und er.
„Charlie!“
„Vergiss es, der sagt nix.“
„Charlie, wir rufen jetzt die Polizei.“
„Und die Feuerwehr!“
„Und die Rettung!“
Letzten Winter im Schnee. Sie waren auf dem Weg durch das Dorf nach Hause, und er hat Steve erzählt – keine Ahnung, warum er es ausgerechnet Steve erzählt hat, nicht einmal der Rita hat er es erzählt, und jetzt Steve, vielleicht lag es am Schnee –, er sieht die Uniformen der Männer und ihre Gewehre. Es ist früh am Morgen, die Luft glasklar, kühl ist es, im Schnee gingen sie, es war gut im Schnee zusammen zu gehen, das wird es gewesen sein, was ihn übermütig gemacht hat, und so verrückt redselig. Er sieht die Gesichter der Männer, hat er gesagt, zu Steve im Schneetreiben, die Münder sieht er, hat er gesagt, die Nasen, die Augen, er geht Gesicht für Gesicht durch in seiner Fantasie. Er stellt sich vor, hat er gesagt, dort zu stehen, und zu wissen, dass in wenigen Minuten alles vorbei ist. Der eine der Männer hat eine Warze auf der Wange, der andere hat einen Schnurrbart, einer von ihnen trägt eine Brille. Die Brille funkelt im Morgenlicht, ein wichtiges Detail. Ein wichtiges Detail, dieses Funkeln der Brille des Soldaten im Morgenlicht, hat er Steve erzählt. Er hat erzählt, er sieht die Landschaft, hügelig, ein Haus neben einem Teich. Ein altes Haus, ein Bauernhof, ein grobe Steinmauer, er steht davor. Ein Hahn kräht, immer kräht ein Hahn. Und er hört eine Kuh in einem Stall, kurz bevor der Befehl geschrien wird und die Männer die Gewehre anlegen. Er konzentriert sich vollkommen auf den Augenblick, bevor die Schüsse fallen. Wie das ist, der Augenblick, wenn du getroffen wirst. Das versucht er zu spüren, hat er Steve erzählt, letzten Winter im Schneetreiben, und Steve, also der hat echt komisch dreingeschaut.
„Wenn du in zwei Minuten nicht herunterkommst, holen wir die ganzen Idioten her, okay?“
„Den Semmele Willi.“
„Und den Partl, den Fritz.“
„Und die Gerda. Willst du die Gerda hier haben?“
„Und die Gretl?“
„Okay?“
„Charlie, die Gretl!“
Seit sie Kinder sind, kommen sie zu Frau Kupas Scheune, zum Schwimmen, zum Spielen. Frau Krupa hat hier einen Garten. Er roch das Basilikum, und das Rosmarin, auch die Rosen. Ist noch keine halbe Stunde her. Seine Freunde am Feuer haben gelacht. Die Stimmen von Steve und Auge, von Manni, von Babsi, und der Geruch des Rauchs, wie Geselchtes. Und auf einmal hat er sich auf den Zaun von Frau Krupas Garten geschwungen, und er hat, auf dem Zaun balancierend den Balken unter dem Dach der Scheune mit beiden Händen gepackt. Und er hat sich vom Zaun abgestoßen und die Beine hochgeschwungen, wie ein Stabhochspringer. Er hat das eine Bein über die Dachkante geklemmt. Es war gut, hier so zu hängen, gut, den Rücken nach unten, die Beine höher als der Kopf. Er hat seine Freunde kopfüber am Feuer sitzen gesehen, darüber den Mond. Zwischen den Büschen hat der See geglänzt wie Vinyl. Und er hat gedacht, es wäre schön, wenn es jetzt zu schneien beginnen würde.
„Wir rufen deine Eltern an!“
„Hörst du?“
„Okay, du hast es so gewollt.“
„Wir rufen die jetzt an, die Bullen, die Feuerwehr, die Rettung, den Pfarrer, deine Eltern, alle.“
„Hört auf, dann springt er erst recht!“
„Wenn du nicht sofort runterkommst, ist hier in zehn Minuten die Hölle los.“
„Nein, hör zu Charlie, die reden nur, wir holen niemand. Du hast Zeit, okay?“
Seine Freunde, vorhin, kopfüber am Lagerfeuer und darunter der Mond und diese Gerüche aus dem Garten von Frau Krupa, und der Geruch vom Lagerfeuer. Wie Geselchtes. Er hat eine Hand vom Balken gelöst und die Dachkante gepackt, die andere Hand ist hinterher geschossen und dann hat er sich hinaufgezogen. Er ist auf den Scheitel des Dachs geklettert und nach vorn gerobbt bis an den Rand. Dicht an der Kante, hat er sich aufgerichtet.
„Alle werden sie kommen, darauf kannst du wetten.“
„Das ganze Dorf, kennst sie ja.“
„Nein, verdammt, hört auf damit!“
„Charlie, Mensch, du nervst.“
„Okay, basta, ich wähle jetzt die Nummer von den Bullen, hörst du?“
„Lass das!“
Ob sie sich draußen am See treffen können, hat Rita am Telefon gesagt. Das ist jetzt dreiundzwanzig Tage her. Dreiundzwanzig Tage und vier Stunden. Bald fünf. Er war vor ihr am See. Sie hatte am Telefon gesagt, sie habe mit ihm zu reden. Das war beunruhigend. Und dieser Dunst, es war schwül, windstill. Er blickte die Straße hinab, immer auf den Punkt, wo sie auftauchen musste. Endlich sah er sie, ein Mensch auf einem Rad, noch zu weit entfernt, um sie zu erkennen, aber das konnte nur sie sein, das musste sie sein. Sie ging aus dem Sattel, wegen der Steigung, und dann erschrak er. Es war wie ein Stich, er zuckte zusammen. Das Mädchen auf dem Fahrrad war blond. Rita war nicht blond. Ihre Haare waren dunkel. Immer schon. Als Kind schon. Dunkel. Brünett sagt man zu dieser Haarfarbe. Und das Mädchen, das auf dem Fahrrad näherkam, war blond. Das war verrückt. Denn es war Rita, er erkannte sie, auch wenn sie sich blond stellte, er sah es, an der Art, wie sie aus dem Sattel stieg, wie sie in die Pedale trat, wie sie den Kopf hin und her drehte, nur ganz leicht, keine Pendelbewegung, nur ein leichtes Hinundher mit der Anstrengung des Aufwärtsfahrens, und leicht gesenkt, der Kopf, auf ihre Art, auf Rita-Art. Und dann erkannte er auch ihr Gesicht. Rita, blond. Einige Augenblicke lang war alles in Bewegung, die Fixierungen lösten sich aus der Verankerung, Massen verschoben sich, auf einmal wurde alles weicher, wie Laub, das durcheinanderstiebt, und dann kam es zur Ruhe. Einigermaßen. Das Gesicht war immer noch das Gesicht von Rita, und wie sie vom Rad stieg, und wie sie das Rad an den Zaun lehnte, war auch Rita. Und wie sie sich zu ihm umdrehte, wie sie ihn ansah, das war immer noch Rita, seine Rita. He, sagte sie. He, sagte er. Hübsch, sagte er, und wies mit seinem Kinn in ihre Richtung. Die Haare, sagte er dann, sieht gut aus. Danke, sagte sie, und es kam ihm seltsam vor, dieses Danke, distanziert irgendwie, wie unter Fremden. Es verändere sie schon, sagte er, es verändere sie eigentlich total, aber schön, schön. Rita wandte den Blick von ihm ab, sie schaute auf den See hinaus, als sie sagte, sie werde nach Sizilien fahren. Morgen. Auch er wandte den Blick ab und schaute auf den See hinaus. Mit Werner werde sie fahren, sagte sie. Er wusste, welchen Werner sie meinte. Es tue ihr Leid, sie sollten reden, aber später, wenn sie wieder aus Sizilien zurück sei. Das mit ihnen beiden, das hätte doch nie gut gehen können, auf die Dauer. Sie wolle es wieder wie früher, wie Bruder und Schwester. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, dann schwang sie sich auf ihr Rad und fuhr davon.
„Charlie?“
„Das langweilt allmählich, okay?“
„Ich hab die Nummer von der Rettung eingespeichert.“
„Die Rettung? Wieso die Rettung?“
Er summt eine Melodie, sehr leise, es ist verblüffend, zu summen jetzt, aber es fühlt sich gut an. Er hat Lust auf Schwarzwälder Kirschtorte. Er hat Lust auf Schnee. Er singt jetzt laut. Und sie hören ihn, alle acht schauen überrascht zu ihm herauf. Und Steve, als erster Steve, beginnt zu lachen. Und dann lacht auch Manni. Und nach und nach lachen alle, weil sie erkannt haben, was er da singt, und das ist mal wieder typisch Charlie: Er singt das Lied aus dem Film Titanic. Alle lachen, nur Sara nicht, Sara nicht. Und dann hört er auf zu singen. Und dann hören sie auf zu lachen. Das Feuer knackt.

 

© Peter Oberdörfer
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Edition Raetia. Leider wurde der geplante Band mit dem Titel  „Supernova“ nie verwirklicht. Die vorliegende Fassung von „Titanic“ wurde für diese Veröffentlichung lektoriert.