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Über „Woyzeck“ und seine Aktualität

Die Schauspielerin Alexa Brunner zieht Parallelen zwischen Büchners gesellschaftskritischem Stück Woyzeck und unserer Gesellschaft. Zu sehen ab 14. August in Neumarkt.
Binnen-I
Foto: Alexa Brunner

„Ein Mann wird von seinem sozialen Umfeld solange drangsaliert, bis ihn seine Verzweiflung zum Mörder macht.“ So kündigen die Freilichtspiele Südtiroler Unterland die Premiere von Georg Büchners weltweit bekanntem Sozialdrama „Woyzeck“ am 14. August in Neumarkt an. Die Thematik des Theaterstücks scheint Lichtjahre entfernt vom Leben einer jungen Schauspielerin. Und doch findet Alexa Brunner, die im Stück Woyzecks uneheliche Frau Marie interpretieren wird, erstaunliche Parallelen zwischen dem Thema gesellschaftlichen Unverständnisses und ihrer Generation. Mit Saltospricht die 26-jährige über das Gefühl von Verlorenheit, über Schuld, darüber, wie das Theater mit politischen Spaltungen umgeht, über die „Me too“-Debatte, und wie sie als Teil des Kollektivs Binnen-I den Menschen solche Themen näherbringen will.

 

salto.bz: Du hast gemeinsam mit vier Schauspielkolleginnen das Theaterkollektiv Binnen-I gegründet. Wie kam es dazu?

Alexa Brunner: Binnen-I ist aus einer Notwendigkeit heraus entstanden. Wir waren alle durch die Schauspielschule oder gemeinsamen Theaterprojekten gut befreundet, hatten ähnliche Einstellungen und trafen uns regelmäßig. Irgendwann kamen wir zu dem Punkt, wo wir uns fragten: Was machen wir jetzt eigentlich in Zukunft? Der einzige Weg, der Sinn machen würde, wäre es, ins Ausland zu gehen. Sofort. Nur so kannst du irgendwann Karriere machen und vom Schauspiel leben. Aber es geht in den großen Bühnen, und wenn du wirklich nach Oben kommen willst, neben dem Talent viel mehr um Äußerlichkeiten, und viel weniger um die eigentliche Berufung, um die es mir geht. Hier in Südtirol ist es viel familiärer, und daher kann man sich besser auf den Beruf einlassen. Das ist etwas sehr Besonderes und darauf wollte ich nicht verzichten. Außerdem fanden wir es sinnlos, den Ort, in dem wir uns gerade wohl fühlten, zu verlassen. So entschlossen wir uns, was Eigenes zu machen. 

Wir hatten Lust, Dingen eine Stimme zu geben, die Sinn ergeben, für die es sich lohnt, dass Leute hinkommen, und mit denen wir einen Beitrag leisten können. Was treibt unsere Generation? Was berührt uns? Wir wollen nicht brav (mit)spielen und „Künstler“ sein, dann aber zuhause sitzen und unzufrieden mit der Welt sein. Was ist denn ein Künstler? 

Welches sind die Thematiken, die Binnen-I in seinen Stücken aufgreift?

Eine Thematik, für die wir brennen, sind unsere Wurzeln und die Frage „wer bin ich“? Daher auch der Name Binnen-I? Es geht aber auch um unsere Generation, die teilweise so verloren ist in dieser Gesellschaft, um die ganze Technologie, darum, was echt ist und was nicht. Also alles was uns gerade bewegt. 

Junge Leute scheinen zunehmend verloren, depressiv, von Burnout geplagt. Woran liegt das, wo wir doch in unserer Gesellschaft alles haben?

Vielleicht weil es eben nicht die äußeren Dinge sind, die glücklich machen.

Doch verfügen wir nicht nur über materielle Güter, sondern auch politische Freiheiten, die es früher nicht gab. Liegt die Trauer der jungen Generation vielleicht daran, dass wir niemandem mehr die Schuld für unser Versagen zuschreiben können? Das baut ganz schön Druck auf...

Das ist ein ganz wichtiger Punkt, die Schuldzuweisung. Und darauf möchte ich auch bei Binnen-I aufmerksam machen. Wir sind selbst für uns verantwortlich, und selbst dafür zuständig, ob wir glücklich oder unglücklich sind. Man kann niemand anderem die Schuld mehr dafür geben. Nicht mehr der Religion, nicht mehr der Armut (zumindest bei uns), nicht mehr unseren Eltern, weil sie uns vorschreiben welchen Beruf wir ausüben sollen.
Und genau all diese Möglichkeiten und diese Freiheit führen auch dazu, dass man sich verlieren und schlussendlich passiv und unglücklich werden kann. Mit Binnen-I möchten wir den Leuten wieder etwas Positivität zurückgeben und ihnen sagen: Nehmt euer Leben in die Hand. Macht etwas. Es liegt an dir. Du kannst entscheiden, willst du lachen, willst du weinen.

Was meiner Meinung nach auch ein Problem ist, sind die Medien, die dauernd negativ berichten. Natürlich schürt das Angst und Hass. Den Menschen gibt es das Gefühl, es gäbe einen Riss in der Gesellschaft. So wie das Zugunglück vor zwei Wochen, als zwei Menschen vor die Gleise gestoßen wurden. Warum war das eine Woche lang in den Medien? Sie könnten auch ganz anders berichten, was sind denn eigentlich die wichtigen Dinge? Man erzieht die Gesellschaft immer nach dem, was man ihnen an Gedankengut gibt. Auch im Theater wird diese Krise und Zerrissenheit widerspiegelt. Es handelt sich meist um sehr linkes Theater, das dann gegen die Rechten schimpft und darüber, was alles falsch läuft in der Welt. Und dann sitzen alle drin, total frustriert mit der Welt und den Rechten. Aber ich denke mir, was hat das alles für einen Sinn? Warum machen wir Theater für uns selbst? Wir wissen das ja alles schon. Warum machen wir nicht Theater für genau die anderen, die sollten wir doch erreichen, mit denen sollten wir reden. Diese rechts-links Zerrissenheit, die in den Medien wieder aktuell wird, gibt es die wirklich? Viele Journalisten sagen dann, „mit denen macht es keinen Sinn zu sprechen“, aber wenn wir nicht mal mehr miteinander reden, dann haben wir schon verloren. Die Sprache ist doch intelligenter wie der Mensch. Das will ich mit Binnen-I auch erreichen. Ich will nicht immer nur kritisieren. Ich will mit den Menschen gemeinsam lachen und Lösungen finden.

Wahrscheinlich ist es einfach zu anstrengend, sich auf Leute einzulassen, die eine ganz andere Meinung vertreten und man denkt sich „es ändert sich eh nichts“...

Genau wegen dieser Einstellung bin ich bei Georg Büchners Woyzeck an meine Grenzen gestoßen! Ich bin in der Hinsicht wohl eine Goethe-Anhängerin und bin überzeugt, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Andererseits hast du dann Büchner, der sagt: Nein, ein Mensch, der in bestimmte Umstände hineingeboren wird, der hat keine Chance anders zu handeln. Büchner glaubt, dass jeder, wenn er die gleichen Grundvoraussetzungen hat, das Gleiche erreichen könnte. 

 

 

Du verkörperst in Georg Büchners Stück „Woyzeck“ die uneheliche Frau des Hauptdarstellers, Marie, die ein uneheliches Kind mit ihm hat. Was war die größte Herausforderung in der Interpretation dieser Rolle?

Es ist immer noch eine Herausforderung. Das Stück kommt erst nächste Woche heraus, und die letzten zehn Tage sind am intensivsten. 

Georg Büchner war einer, der eine ganz klare Sicht auf die Gesellschaft hatte und sie dadurch entlarvt und kritisiert hat. Aber knallhart. Das gefällt mir. Vor allem kritisiert Büchner die Falschheit und Oberflächlichkeit der Gesellschaft. Er fordert, dass alle Menschen dieselben Voraussetzungen und Chancen erhalten. Denn wie soll Jemand, der nicht mal seine Grundbedürfnisse stillen kann, dem Imperativ von Kant folgen? Wenn du den Menschen indoktrinierst, dass Geld das einzige Ziel ist, um ein gutes Leben zu führen, und sie es dann nicht erreichen, kreierst du damit die „Schwachen“ der Gesellschaft. Diese gibt es aber nur, weil wir es nicht hinbekommen, diesen Menschen die gleichen Rechte zu geben, und somit gar keine Chance, aus ihrer Situation heraus zu kommen.

Und Marie ist eben genau aus dieser unteren Schicht, gemeinsam mit Woyzeck. Und sie sind beide Opfer dieser ungleichen Gesellschaft. Das muss man sich mal vorstellen, sie haben ein uneheliches Kind, können nicht heiraten. Woyzeck versucht verzweifelt die Familie finanziell zu erhalten, und nimmt dafür jede nur erdenkliche Arbeit an. Er isst sogar nur mehr Erbsen als Versuchskaninchen für einen Arzt der ihn als Experiment statt als Mensch wahrnimmt und wird dadurch komplett verrückt! Und sie sitzt zu Hause mit diesem Kind, verstehst du, und wartet, und kann absolut nichts machen! Als Frau zu dieser Zeit sowieso gar nicht. Und irgendwann betrügt sie ihn. Aber ihr wird es vorgeworfen, niemand versteht es. Man kann jetzt sagen, jede Frau greift zu, wenn sie etwas Besseres kriegen kann, was Viele behaupten. Dann denkt man aber gründlicher über das Stück nach, so kann man auch sagen, hm, vielleicht musste sie es auch tun, um Geld zu bekommen? Weil sie gesehen hat, ihr Mann opfert sich auf, also will sie das auch? Oder man erkennt, dass sie einfach einem puren menschlichen Bedürfnis nachgeht, das ihr Mann nicht erfüllen kann, weil er sich in diesem Wahn befindet, weil er vor lauter Arbeit keine Zeit für seine Familie hat. Er schaut ja nicht mal mehr das Kind an. Sie hat ja überhaupt kein Leben mehr mit ihm! Aus diesem Grund machen sich beide am Ende gegenseitig kaputt und handeln so, wie sie handeln. 

Es ist auf jeden Fall ein sehr komplexes Thema, über das man viel reden muss. Genau das was dahinter steckt, unter der Oberfläche, will Büchner bewusst aus den Figuren heraus kitzeln. Aus diesem Grund stellt er die Oberschicht nur mit Masken dar, und die Armen als wirkliche Menschen. Denn laut Büchner haben nur sie echte Werte, während die restliche Gesellschaft ohne Moral ist und keinen Wert darstellt. Woyzeck hat es übrigens tatsächlich gegeben. Büchner orientiert sich an diesen wahren Fall. Schon damals haben die Ärzte dafür gekämpft, dass er als psychisch krank eingestuft wird, und in Behandlung gehen kann, anstatt verurteilt zu werden. Das Urteil war aber klar: Woyzeck ist ein Mörder. Büchner hingegen sagt: Woyzeck ist kein Mörder, die Gesellschaft ist ein Mörder. Wie gesagt, es ist ein sehr kritisches Stück. Aber eben sehr aktuell! Es macht schon Sinn, es jetzt zu spielen. 

Wie würdest Du also Büchners Kritik auf die heutige Gesellschaft anwenden?

Da kommen wir wieder zum Thema, das wir zuvor besprochen haben, dass so viele Menschen unglücklich sind bei uns, trotz des Wohlstands. Ist es der Materialismus, der uns unglücklich macht? Ich denke, wir kommen heute nicht mehr aus dieser unteren Schicht. Diese Rolle übernehmen heute wohl Globalisierungsverlierer, Ausländer, oder Drogenabhängige?

Interessante Parallelen zum Vorwurf, Ausländer seien alle kriminell? Dass also Umstände Menschen dazu treiben?

Genau, da kann man sicher viel vom Stück lernen. Und auch bei Drogenabhängigen, finde ich, sollte man sich die Frage stellen: Warum gibt es sie? Warum fühlen sich manche Menschen in unserer Gesellschaft nicht wohl? Wir haben wohl eine Vorstellung von einer idealisierten Welt, ich weiß nicht... aber ich höre trotzdem nicht auf zu träumen. 

Ein weiteres aktuelles Thema: Frauen im Theater-business. Binnen-I ist ja auch ein Frauenkollektiv und der Name erinnert nicht nur an die Frage nach unserer Identität, sondern ebenso an die „gendergerechte“ Sprache. Ist Gleichheit zwischen Mann und Frau ein Thema bei euch?

Es ist interessant, dass es mehr weibliche Schauspielerinnen wie Schauspieler gibt, aber viel mehr Männer- wie Frauenstücke. Wir von Binnen-I sind der Überzeugung, dass Theater, aber auch zwischenmenschliche Beziehungen, nur funktionieren können, wenn männlich und weiblich gleich viel wert sind, und sich gegenseitig ergänzen. Wenn wir unsere Welt anschauen, finde ich, könnten wir etwas mehr Ausgleich gut gebrauchen. 

Was hältst Du von der Metoo- Debatte? Ist diese auch in Südtiroler Theaterkreisen relevant? 

Es ist ein relevantes Thema, ja. Es ist überall ein Thema, in jedem kleinen Geschäft, in jeder Firma. Es geht einfach um die Wahrnehmung oder um das Verständnis darüber, wie Männer sich Frauen gegenüber verhalten. Ob sie in einer Situation sind, ihre Macht ausspielen zu können, oder wie sie damit umgehen. Es ist ein gesellschaftliches Thema, das sehr aktuell ist. 

Alexa, Danke für das Gespräch.

 

Wer Neugierig geworden ist, kann das Stück Woyzeck ab 14. Augustbis zum 4. September bei den Freilichtspielen in Neumarkt besuchen. Reservierungen und Information unter 0471/812128, oder per E-Mail an [email protected].