Politik | John Berger

Der Philosoph der allereinfachsten Dinge

Eine Begegnung mit dem Autor, Kritiker, Zeichner John Berger.
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John Berger kann vor Rückenschmerzen kaum sitzen noch gehen. Doch mag er keinen Wein eingeschenkt bekommen, bevor nicht alle anderen am Tisch versorgt sind. Es ist nicht Höflichkeit, nicht affektiert; es scheint vielmehr, als sei es ihm ganz unmöglich, seinen Wein zu genießen, wenn nicht alle anderen auch welchen bekommen.

So blitzt, für einen Augenblick, in seiner resoluten Aufmerksamkeit für alle Tischgenossen, für die Gleichheit ohne Unterschied von Alter oder Renommee, jene Einheit von Poetischem und Politischem auf, jenes Spiegeln des Weltumspannenden im Allerkleinsten, die auch sein Schreiben beleben.

John Berger ist Schriftsteller und Kunstkritiker, er zeichnet, schreibt Romane, Gedichte, politisch-philosophische Pamphlete, Theaterstücke, selbst mit seinen 88 Jahren. Wenn er schreibt, wird noch das Alltäglichste mit einer Innigkeit aufgeladen, dass es zu leuchten beginnt: Eine Operation am Grauen Star führt zu einem Buch über das Glück des Sehens, das Motorradfahren zur Meditation über das Zeichnen, jede Reise, Begegnung, jeder Verlust zu einem neuen Buch, einer Zeichnung, einem Essay.

Dabei verschwimmt die Grenze zwischen Kunst und Leben, und es ist unmöglich, sich auszumalen, wie John Berger Feierabend machen könnte vom John-Berger-Sein: Nein, er trinkt genau so, wie er schreibt, wie er beklagt, besingt und protestiert. Und er meint es ernst, wenn er vor dem öffentlichen Zwiegespräch mit seiner Übersetzerin Maria Nadotti sagt, nicht auf seine Äußerungen käme es an, sondern allein darauf, welche Gedanken sie in seinen Zuhörern bewirkten, was jene daraus machten. Es ist keine rhetorische Geste der Schmeichelei vor dem Publikum, sondern eine Spiegelung desselben radikalen Impulses, der ihn vor fast 40 Jahren vom Booker-Prize-Gewinner und Kunstkritiker zum Bergbauern werden ließ.

„Als ich zusammen mit dem Fotografen Jean Mohr beschloss, ein Buch über Arbeitsmigranten in Europa zu machen, über Portugiesen, Italiener“, erzählt Berger, „ging es vor allem darum, zuzuhören, was diese Männer erlebten, und dann zu versuchen einen Ausdruck dafür zu finden, was sie erlebt hatten, und warum sie dazu genötigt wurden, es zu erleben. Fast alle stammten aus Familien von Kleinbauern, und wenn sie über ihre Kindheit und ihre Jugend sprachen, verstand ich, dass das alles jenseits meiner Vorstellung war, so ein Leben, mit seinen ganz eigenen Nöten. Und plötzlich erschrak ich darüber, dass ich davon so gar nichts wusste. Zu jener Zeit lebte mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung als arme Kleinbauern, und ich hatte keine Ahnung davon. Also beschloss ich, etwas dagegen zu tun. Und nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, entschied ich mich, in die französischen Alpen zu ziehen, ziemlich hoch hinauf, zu hoch für die industrielle Landwirtschaft, in mitten von Bergbauernfamilien.“

Vielleicht ist dies Bergers Talent? Über die eigene Ignoranz derart zu erschrecken, und dann eine existenzielle Entscheidung daran zu knüpfen? Aus jenem Entschluss, das Leben der Einfachsten und Ärmsten zu teilen, verband sich auch ein ästhetischer Schwenk des Erzählens vom ‚ich’ der frühen Romane zur dritten Person: „Dort (in dem kleinen Dorf Quincy in Haute-Savoie, Anm. PE) gab es alte Leute, Männer und Frauen, unter denen ich zu leben begann, und die mir gegenüber aufgeschlossen waren, und denen ich zuhörte. So begann ich, mit der Stimme der anderen zu schreiben. Und seitdem habe ich das beibehalten. Aus dem Bewusstsein meines Unwissens, und dem Bedürfnis, etwas dagegen zu tun.“

Seitdem hat John Berger mit der Stimme eines streunenden Hundes erzählt (King, Hanser), eines Häftlings und seiner Geliebten (A und X, Hanser), mit der des Philosophen Spinoza (Bentos Skizzenbuch, Hanser) oder jener der savoyischen Bergbauern, unter denen er lebt (SauErde, S. Fischer).

Nun liegt dies nicht etwa daran, dass Berger nicht ‚ich’ zu sagen vermag, oder sich in den Stimmen der anderen zu verstecken versucht. Natürlich ist es er, der den anderen seine Stimme leiht. Doch liegt ihm nichts ferner, als seine eigenen Befindlichkeiten zum Thema zu machen. Dies mag auch der Grund sein, dass Berger sich scheut, Interviews zu geben. Zu wenig präzise ist ihm das gesprochene Wort. Auf jede Frage antwortet er mit einem erzählerischen Schlenker, „a little story“, welche eben nicht: eine Antwort auf eine Frage gibt, sondern: einen Zusammenhang erleuchtet.

Etwa auf die Frage nach der Sprache als Heimat, nach der Muttersprache als Behausung für einen, der – in London geboren - sich heute als “nationslos“ bezeichnet: „Haben Sie bemerkt“, fragt er, „wenn Sie einen Baum betrachten, eine Birke, eine Eiche, ganz gleich welchen Baum, und dann eines seiner Blätter ansehen, haben Sie bemerkt, wie der Baum als ganzer versucht, in seiner Form jene des einzelnen Blattes nachzuahmen? Und wenn ich darüber nachdenke, dann möchte ich den Baum zeichnen, und der Zeichnung den Namen „Eichen-Baum-Text“ geben - Text, nicht Zeichnung. Denn es ist eine Frage der Botschaft, einer genetischen Botschaft in diesem Baum, und das gleiche gilt für fast alle Naturphänomene. Ich vermute also, dass es eine Verbindung gibt - allerdings müssen Sie das selbst herausfinden, weil ich nicht sicher bin, wie sie am besten ausgedrückt werden kann, - dass es eine Verbindung gibt, zwischen dieser Art von Text und Mutter-Sprache. Vielleicht ist das ganze Universum eine Mutter-Sprache."

Eine typisch Bergersche Miniatur, nicht esoterisch vernebelnd, sondern materialistisch-romantisch, der seismographischen Wahrnehmung verschrieben. Unzeitgemäß dazu, doch würde er dies zweifellos als Auszeichnung verstehen.

Genauso unzeitgemäß antwortet Berger auf die Frage, was er, der so viel über die Fotografie geschrieben habe, von der rasanten Vermehrung und Allgegenwärtigkeit digitaler Bilder halte, von dem Umstand, dass wir nun alle digitale Fotografen geworden sind. Noch einmal „a little story“: “Vor dreißig Jahren schrieb ich eine Serie von Liebesgedichten, und ich wollte, dass jedes Gedicht auch eine fotografische Entsprechung habe, ein Landschaftsbild. Also lernte ich zu, wie man eine Kamera bedient, und Fotos schießt. Ich machte meine Bilder, und veröffentlichte das Buch, und auch danach fuhr ich für etwa zweieinhalb Jahre fort, zu fotografieren. Doch auf einmal hörte ich auf, und verschenkte meine Kamera. Warum? Ich habe aufgehört, weil ich entdeckte, dass das Fotografieren mich davon abhielt, etwas lang genug zu betrachten. Ich betrachtete, und dann: „Klick“. Vielleicht wollte ich „Klick“ nicht. Vielleicht wollte ich noch eine Stunde länger betrachten. Und seither habe ich keine Kamera und ich fotografiere nicht mehr.“

Als Antidot zum Fotografieren dient Berger das Zeichnen: Es ist kein Beenden des Betrachtens, sondern sein Werkzeug, seine Steigerung. Und es ist ein Erkenntnisinstrument seiner Philosophie der allereinfachsten Dinge: des Kriechenpflaumenbaumes vor seinem Haus, einer Schwertlilie, einer Hand. Stufenlos erwächst Berger aus dem Sehen, dem Betrachten der Welt, eine Politik: Er sieht das Furchtbare in dieser Welt, und das Schöne darin; das Schreckliche, das Menschen anderen Menschen antun, und die Verhältnisse, die es ermöglichen. Trotzdem, oder genau deswegen, hält Berger an der Hoffnung fest, seiner politisch-poetischen Fassung von Hoffnung:

„Hoffnung ist wie die Flamme einer Kerze; sie ist in der Dunkelheit wichtiger denn bei Tag. Doch, so scheint mir, ist die Nahrung dieser Flamme nicht eine optimistische Sicht der Zukunft, ganz im Gegenteil: Zuerst und vor allem ist es die Treue zu den Toten, zu dem, worauf sie hofften, was sie erlitten, was sie erkämpft haben. Hoffnung ist verbunden mit dem Gefühl der Komplizenschaft mit anderen, unzähligen anderen: Mit den Lebenden, den noch Ungeborenen und den Toten, die alle gleichermaßen anwesend sind. Und es ist gerade die Gleichheit in dieser Anwesenheit, an der sich die Hoffnung entzündet.“