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Politik | M5S

Grillos Flop in Brüssel

Der gescheiterte Fraktionswechsel im EU-Parlament stürzt die Fünfsterne-Bewegung in neue Turbulenzen.

Mag durchaus sein - wie Repubblica-Kommentator Stefano Folli vermutet - dass der gescheiterte Fraktionswechsel im EU-Parlament die "bisher schwerste politische Niederlage für Beppe Grillo war - ein Waterloo." Doch die Brüsseler Pirouette wirft vor allem ein erneutes Schlaglicht auf Grillos unberechenbare politische Strategie. Der dilettantische Flop wirft viele Fragen auf, wie aus den aufgebrachten Stellungnahmen der Basis auf der M5S-Webseite unschwer erkennbar ist.

Die eigentliche Anomalie: der gescheiterte Coup in Brüssel war von zwei Selbsternannten beschlossen worden: vom Gründer Beppe Grillo und vom Mailänder Unternehmer (und Sohn des Mitbegründers) Davide Casaleggio. Die bei 38-prozentiger Beteiligung eher mässige Zustimmung der Basis wurde im Schnellverfahren eingeholt. Würden in einer anderen Partei zwei Nichtgewählte derart dominant den politischen Kurs bestimmen, würde der Protest aus der Bewegung sicher kaum auf sich warten lassen. Etliche Parlamentarier kritisierten die Rochade in Brüssel als "Nacht und Nebel-Aktion": "E' prima di tutto il metodo che non va. Questa non è democrazia", ärgert sich der Abgeordnete Marco Zanni.

"Chi va via, deve pagare la penale di 250.000 Euro."

Der Europarlamentarier Dario Tamburrano lässt seiner Wut freien Lauf: "Hanno preparato un accordo schifoso sulla testa di noi portavoce europei facendo piombare la domenica mattina una votazione farlocca, prendendo per i fondelli noi, decine di migliaia di iscritti e milioni di elettori." Mehrere Abgeordnete wollen aus Protest zurücktreten. Doch Grillo droht: "Chi va via, deve pagare la penale di 250.000 Euro." Dennoch hat Marco Affronte am Mittwoch die M5S-Fraktion verlassen - in Richtung Grüne. Auch Daniela Aiuto ewill der Bewegung den Rücken kehren.

M5S in Brüssel ohne Einfluss

Doch das Geschehen im EU-Parlament wirft zusätzliche Fragen auf: warum wollte die betont EU-feindliche Fünfsterne-Bewegung ausgerechnet in die liberale Fraktion wechseln, jene der vielgeschmähten "Banker und EU-Bonzen"? Der Grund scheint klar: die 17 M5S-Parlamentarier waren es offenbar leid, in der Fraktion des militanten britischen Antieuropäers Nigel Farage zur politischen Bedeutungslosigkeit verbannt zu sein.  Denn die Zugehörigkeit zu einer grösseren Fraktion entscheidet in Brüssel über erhebliche Geldmittel, über wichtige Ämter und die Zahl der Mitarbeiter.

Die M5S-Abgeordneten beteiligten sich im abgelaufenen Jahr fleissig an 88 Prozent aller Abstimmungen - dennoch blieben sie bedeutungslos und ohne konkreten Einfluss. Die mit dem liberalen Fraktionschef Guy Verhofstadt ausgehandelte Vereinbarung sollte das nun ändern. Doch der Belgier, der das Amt des EU-Parlamentspräsidenten anvisiert, scheiterte unerwartet am Widerstand aus der eigenen Fraktion und bescherte sich damit selbst eine folgenschwere politische Niederlage.

"Abbiamo fatto tremare il sistema"

Grillo hatte wie gewohnt wenig Mühe, das Debakel in einen Erfolg umzudeuten: "L'establishment ha deciso di fermare l'ingresso del Movimento 5 Stelle nel terzo gruppo più grande del Parlamento Europeo. Questa posizione ci avrebbe consentito di rendere molto più efficace la realizzazione del nostro programma. Tutte le forze possibili si sono mosse contro di noi. Abbiamo fatto tremare il sistema come mai prima." 
Das Zittern ging freilich eher durch die Bewegung selbst als durchs establishment. Auf der M5S-Webseite gab es neben lauer Zustimmung ungewohnt harsche Kritik. Der Brüsseler Fraktionssprecher und Casaleggio-Vertraute David Borrelli, der die Vereinbarung ausgehandelt hatte, wurde zum Sündenbock gestempelt.

Das Fussvolk äusserte Verärgerung über angeblich zensurierte Beiträge und den Abstimmungsmodus: "Io mi sto stancando di queste votazioni guidate, in questo caso ci avete fatto votare senza dire che avevate già imbastito un accordo. Quindi dovevate rendere pubblico i punti dell'accordo e dare più tempo per informarsi," klagt Fausto Cappucci aus Modena. Doch der Coup in Brüssel sollte auch der Ablenkung von der innenpolitischen Szene dienen. Ein Erfolg in der EU-Hauptstadt hätte das lästige und seit Juli dauernde Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit von Rom nach Brüssel gelenkt: von Virginia Raggi, der ein Verhör durch den Staatsanwalt droht, auf einen bemerkenswerten aussenpolitischen Erfolg im EU-Parlament.

M5S sinkt in Meinungsumfragen

Der gescheiterte Fraktionswechsel vertieft die bestehenden Risse in der Bewegung, die bereits im Fall Raggi deutlich zutage getreten sind:  zwischen Falken und Tauben, zwischen ala movimentista und governativa, zwischen Puristen wie Nicola Morra ("Meglio soli che male accompagnati") und ehrgeizigen Pragmatikern wie Luigi Di Maio.

Indessen hat die M5S-Mannschaft in Brüssel nach entsprechenden Verhandlungen den Gang nach Canossa angetreten und ist in Farages Anti-EU-Fraktion zurückgekehrt. Die Bedingungen diktierte der britische EU-Gegner: "Wer verrät, muss büssen."  Der Ko-Präsident der Fraktion Borrelli musste zurücktreten, die Bewegung auf mehrere Kommissionsposten verzichten. Grillo musste eine Referendumsinitiative gegen den Euro versprechen, die zweifellos für neue Polemiken sorgen wird.

Die wachsenden Widersprüche  und der Fall Raggi haben dazu geführt, dass die Fünfsterne-Bewegung in den Meinungumfragen in wenigen Wochen um vier Punkte auf 27,5 Prozent gefallen ist - deutlich hinter den krisengebeutelten PD (31,4). Der Brüsseler Scherbenhaufen könnte diesen Wert weiter nach unten drücken. Er hat einmal mehr die Schwachpunkte der Fünfsternebewegung offengelegt. Grillo und vor allem Casaleggio gehen aus der Affäre deutlich geschwächt hervor. Vor allem aber wirft der Eklat um den Fraktionswechsel die Frage nach der Zukunft einer Bewegung auf, deren Gründer Renzi mit dem Duce vergleicht, Berlusconi mit Hitler, der Prodi als Alzheimer verunglimpft und auf seiner Webseite die provozierende Frage stellt: "Che fareste in auto con la Boldrini?".

Nach der Zukunft einer Bewegung, deren Bürgermeister mit Ausnahme Turins kaum glänzen und eher durch Ermittlungsbescheide in die Schlagzeilen geraten. Die Fünfsterne-Bewegung, die fast 40 Parlamentarier durch Ausschluss oder Abgang verloren hat, kann vier Jahre nach den Wahlen auf eine einzige überzeugende Vorzeigepolitikerin in Spitzenposition verweisen: die Turiner Bürgermeisterin Chiara Appendino, die nicht zufällig auf ihre Autonomie grossen Wert legt und die von Grillos Vaffa-Rhetorik Lichtjahre  entfernt ist.  Dennoch leistet sich die Fünfsterne-Bewegung den Luxus, ihren ersten Bürgermeister Federico Pizzarotti in Parma auszuschliessen, der Grillo von Beginn an nicht zu Gesicht stand. 

Sicher liesse sich die Frage nach der Zukunft der Cinque Stelle auch origineller formulieren: "Wie ist es um das Realitätsempfinden einer Bewegung bestellt, die einen Abgeordeten wie Carlo Sibilia zum Fraktionssprecher wählt, der fest davon überzeugt ist, dass die Mondlandung nie stattgefunden hat?" Oder auch faktischer: der M5S könnte ohne fibrillazione permanente in die Zukunft blicken, hätte er überall so unaufgeregte und vernünftige Volksvertreter wie im Südtiroler Landtag.

 

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Christian Mair Do., 12.01.2017 - 10:37

Ist der M5S Europas Hoffnung fuer einen Ausweg aus Austeritaet und Neoliberalimus? Warum ist es falsch die Grillini als Rechtspopulisten einzustufen? Hier eine interessante Aussenansicht als Wegweiser in der Filterblase bzw. dem sich nach dem Verfassungsreferendum fortsetzenden Populimus der Mitte (there is no alternative). Mumelter selbst gibt zu, dass er erst im Schlusssatz zum Faktischen kommt.
"This creates the possibility of a scenario where an influential eurocritical left-wing Mediterranean bloc could emerge in its place, making up a force difficult to ignore and representing a potential challenge to the neo-liberal dogma dictating the EU’s agenda. Of course, being that uncertainty is the characteristic of our times, any prediction needs necessarily be highly speculative in kind. However, dismissing a priori the potential contribution of a M5S government in making Europe more democratic would certainly be a mistake."
https://www.opendemocracy.net/can-europe-make-it/enea-desideri/five-sta…

Do., 12.01.2017 - 10:37 Permalink