Gesellschaft | Flüchtlinge

Unbegleitet durch das Land

900 Flüchtlingskinder sind 2014 in Südtirol aufgegriffen worden, 300 davon ohne Begleitung. Ihre Zukunft? Ungewiss. Und die Probleme häufen sich.
bambino-piccolo-solo.jpg
Foto: Salto.bz

Insgesamt 900 minderjährige Flüchtlinge hat die Staatsanwaltschaft beim Jugendgericht Bozen im vergangenen Jahr in Südtirol gezählt – die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Aufgegriffen in Zügen, versteckt auf Güterwaggons, schlafend oder frierend in den Bahnhofsgebäuden. Viele im Schlepptau großer Gruppen, viele, die alleine unterwegs sind. MiSNA, “minori stranieri non accompagnati”, so der technische Begriff der italienischen Gesetzgebung für diese unbegleiteten Flüchtlingskinder. Ungefähr ein Drittel, nämlich 340 der 2014 registrierten Fälle waren ebendies: ohne Begleitung. Das jüngste Kind war 11 Jahre alt, im Gepäck nur ein Zugticket bis nach Deutschland.

Mit 435 registrierten Fällen kommt der Großteil der aufgegriffenen Flüchtlingskinder aus Syrien, gefolgt von Eritrea (161), Albanien (67), Somalia (50), Palästina (48), Afghanistan (30) und Nigeria (10).

Antonella Fava ist die Leiterin der Staatsanwaltschaft beim Jugendgericht in Bozen. Bereits Ende vergangenen Jahres hat sie auf die unerträgliche Situation der Flüchtlingskinder am Brenner aufmerksam gemacht und spricht über die Herausforderungen und die Schwierigkeiten, die sich für ihre Mitarbeiter ergeben, wenn junge Flüchtlinge ohne Begleitung aufgegriffen werden. “Häufig sprechen die Kinder und Jugendlichen keine europäische Sprache”, erzählt sie im Gespräch mit der Tageszeitung Alto Adige. “Auch der arabischen Sprachen, für die wir eventuell einen Übersetzer organisieren könnten, sind viele nicht mächtig.” Dazu kommen zahlreiche Fälle von Analphabetismus – die Kinder sind nicht in der Lage, ihren eigenen Namen zu schreiben.

Ein weiteres Problem: die genaue Feststellung des Alters. “In einigen Fällen haben wir uns an das Krankenhaus gewandt, um biometrische Messungen durchzuführen, mit denen das ungefähre Alter geschätzt werden kann”, berichtet Fava. Die allergrößte Schwierigkeit ist jedoch die Unterbringung der Flüchtlingskinder. Die Staatsanwältin spricht von einem “wahren Ausnahmezustand”. Zum einen fehlen die geeigneten Strukturen – laut Fava gibt es in Bozen maximal 14 Plätze, in denen junge unbegleitete Flüchtlinge untergebracht werden können. In Bayern nehmen sich mittlerweile Pflegefamilien der Minderjährigen an. Hierzulande hat es nur einen Extremfall gegeben, wo ein Kind einem Privaten anvertraut wurde, der sich dazu bereit erklärt hatte, weil es sonst keine Möglichkeit zur Unterbringung gegeben hätte. Nach einigen Tagen ist der Junge schließlich von einem Verwandten abgeholt worden.

Auf der anderen Seite verbietet das italienische Gesetz, dass die Kinder über einen längeren Zeitraum festgehalten werden können. Aufnahme, Sicherheit und Unterstützung sind zwar gesetzlich vorgeschrieben, doch sind die Kinder und Jugendlichen einmal ausgeruht und versorgt, dürfen sie nach 24 bis maximal 48 Stunden die Einrichtungen, in denen sie untergebracht wurden, verlassen. In einigen Fällen werden sie von Verwandten abgeholt, die in Norditalien leben. Was mit den anderen geschieht, ist ungewiss. “Es ist noch nie vorgekommen, dass jemand ein zweites Mal aufgegriffen wurde. Aber niemand weiß genau, was nach der Entlassung mit den Flüchtlingskindern passiert”, gesteht Fava. “Ich erwarte mir, dass diese Menschen nicht auf der Straße gelassen werden, und das sage ich in erster Linie als Bürgerin und nicht als Staatsanwältin.”