Kultur | salto-Gespräch

Glücklichwerden by doing

Die Sprache in der Philosophie oder die Philosophie in der Sprache sind ihre Leidenschaft: Lene Morgenstern über Poetry Slam, Harmonie und die richtigen Fragen im Leben.
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Foto: Foto: Salto.bz

 

salto.bz: Auf Ihrer Facebook-Seite liest man: Wenn nun Südtirol eine trilinguale toll toll tolle Uni hat, aber eigentlich keine triligualen Oberschulen und auch keine bilingualen, sondern deutsche und italienische, muss man dann drei Oberschulen besuchen, um ready für ein Studium zu sein? Wer hat das geschrieben: Die Sprachkünstlerin Lene Morgenstern oder die Philosophie-Lehrerin Helene Maria Delazer?
Lene Morgenstern: Auf jeden Fall die Lene Morgenstern. Die andere ist sehr privat.

Und schreibt nicht auf Facebook? Aber sie unterrichtet zumindest an der Oberschule und kennt den Alltag der einsprachigen Südtiroler Schulen. Was also wollen Sie damit sagen: Brauchen wir dreisprachige Schulen, wenn wir eine dreisprachige Uni haben – oder lieber doch nur eine einsprachige Uni?
Ich will damit sagen, dass einsprachige Oberschulen eigentlich nicht eine ideale Voraussetzung für das Konzept einer mehrsprachigen Uni sind, logisch betrachtet. Tatsache ist, dass wir eine dreisprachige Uni haben möchten. Und, dass wir einsprachige Oberschulen haben. Ich finde es halt total schräg und schon auch typisch Südtirol, wenn wir uns auf der einen Seite so modern geben und von einer Öffnung gegenüber Europa sprechen und Freiheiten und Fortschritt haben wollen, auf der anderen Seite aber sollte dann aber doch bitte alles möglichst beim Alten blieben. Und das gleichzeitig. Das ist ein Widerspruch, und der ist mir wieder so richtig bewusst geworden, wie ich dieses Dreisprachigkeit-Plakat von der Uni gesehen habe. Das hat mich amüsiert und es hat mich dann „guguzzelt“, etwas dazu zu sagen, so wie halt immer.

Wie erleben Sie den Umgang mit Sprache in der Schulwelt?
Ich erlebe da sehr viel und vor allem einen fahrlässigen Umgang mit Sprache. Es stehen ganz viele Wünsche im Raum, die aber im Endeffekt unkoordiniert bleiben. Zum Beispiel stelle ich fest, dass Migrantinnen und Migranten sprachlich nicht wirklich aufgefangen werden. Und ich stelle fest, dass es in vielen Familien den Wunsch gibt, die andere Sprache, also Deutsch oder Italienisch, besser zu lernen und deshalb die Kinder in die Schule der anderen Sprachgruppe zu schicken. Und dann gibt es natürlich auch den pädagogischen Zeigefinger, dass zunächst die eigene Muttersprache gefestigt werden muss, damit der Mensch dann zumindest eine Sprache mal so richtig gut kann. Und dann gibt es auch noch so Projekte wie das CLIL, wo man mal kurz in einer anderen Sprache unterrichten soll und das auch dann, wenn man die gar nicht wirklich kann.

Doch CLIL bedeutet zumindest mal eine kleine Öffnung gegenüber der Mehrsprachigkeit. 
Ich sehe es eher so als Tünche. Nach dem Motto: Jetzt machen wir halt ein bissl was.

Was wäre die Alternative?
Da gibt es viele Expertinnen und Experten, die darauf Antworten haben, ich weiß nur, dass es ein Konzept braucht – und vielleicht wenigstens eine dreisprachige Schule? Why not? Das wär halt schon sehr cool und zeitgemäß und gefragt.

Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob Sie Mehrsprachigkeit als Chance sehen?
Man kann sie auch als Hindernis sehen. Ich selber sehe die Dinge prinzipiell lieber als Chance. Und die Fähigkeit, mehrere Sprachen gut zu beherrschen, ist eine Riesen-Chance. Auch weil man über die Sprache ein anderes Denken, andere Kulturen kennenlernt. Aber das Andere ist etwas, gegen das wir uns hier bei uns immer wieder sträuben. Auch wenn man die Dreisprachigkeit dann plötzlich, zack herauszaubern sollte....

Für den Arbeitsmarkt?
Auch – und eben für die dreisprachige Uni. Traraaa!!! Doch dreisprachig für wen? Für die Studierenden aus Deutschland, um Attraktivität darzustellen oder wie?

Wie sehr wird eine Sprachkünstlerin von einer mehrsprachigen Umgebung inspiriert?
Ich denke schon, dass dies auch einen Einfluss hatte. Obwohl es in meiner Generation noch nicht so üblich war, dass man in beide Sprachen hinein schnuppern konnte. Vor allem, wenn man aus einer doch eindeutig deutschsprachigen Familie stammt wie ich. Mein Vater hat zwar ladinische Wurzeln und meine Mutter hat, wenn man da mal weiter zurückschaut, italienische, doch bei uns zu Hause wurde nur Dialekt gesprochen. Mit elf Jahren bin ich dann aber ins kalte Wasser geworfen worden...

"Poetry Slam ist ein Sein-und Schein-Format. Man lernt dabei unglaublich viel über Textvermittlung, Bühnenpräsenz und wie man sich dem Publikum verkauft."

Wie?
Ich habe Geige gespielt und die Mittelschule am Konservatorium besucht damals. Und mein Geigenlehrer dort stammte aus Neapel und konnte kein Wort Deutsch oder Dialekt. Wir haben uns dann über Musik und mit Händen und Füßen verständigt und vor allem über diese italienische Emotionalität. Das war so der erste intensive Zugang zum Italienischen, das Wahrnehmen von etwas Anderen. Das hat mich sicher stark geprägt. Im ersten Moment macht es ja auch Angst. Aber dann wird es toll, weil es einfach eine irrsinnige Horizonterweiterung ist.

Künstlerisch toben Sie sich aber nur auf Deutsch aus?
Nein, ich habe schon auch immer wieder etwas auf Italienisch gemacht, wenn es sich ergeben hat. Das Schöne ist ja, dass Italiener es total schätzen und bewundern, wenn Menschen Fremdsprachen beherrschen. Das hat man heuer auch wieder gesehen, als die junge Slammerin Eeva Aichner die italienischen U20-Poetry Slam-Meisterschaften gewonnen hat. Sie hat auf Italienisch performed, aber mit deutscher Übersetzung. Und das war für mich wieder so eine Bestätigung, dass die Italiener in der Hinsicht (und in der Kunst!) sehr wohl von ihrem nationalistischen Denken Abstand nehmen können. Weil sie eben voll bewundern, wenn jemand mehrsprachig ist. In Italien kann man deshalb als Südtirolerin ruhig auftreten.

Sie selbst sind im Jahr 2011 in den Poetry Slam eingestiegen und sind heute der Dreh- und Angelpunkt der lokalen Szene.
Ja, die aktive Zeit des Wettbewerbs ist für mich im Raum Südtirol vorbei. Heute ist nicht aller Tage Abend, aber im Moment organisiere ich hier die Szene, betreue sie, motiviere, baue Slams aus, vermittle Leute, veranstalte Lesungen…

Doch das Terrain der Sprachkunst haben Sie nicht verlassen?
Nein, nein, ich habe mich nur in eine andere Richtung weiterentwickelt. Ich mache noch Philo-Slam, Philosophie-Poeme, auch für Radio Deutschlandfunk Kultur. Ich schreibe viel, ich habe Auftritte. Und neuerdings geht es stark in eine musikalische Richtung. In Kürze kommt mein Debut-Album heraus...

Als Geigerin?
Nein, nein. Ich mache Spoken PI PA PO-P. Das ist Musik mit Fidirallal! Das ist mein Genre, es hat sich so langsam entwickelt. Eine Art Sprechgesang mit Musik. Ich habe bei meinen Lesungen immer versucht, Musiker dazu zu nehmen und habe jede Gelegenheit genutzt, um auf der Bühne mit ihnen zu improvisieren. Das ist etwas, das mir total taugt. Und so bin immer mehr in die musikalische Richtung gegangen.

Der Poetry Slam ist in den Achtziger Jahren in den USA aufgekommen, hat sich dann seit den Neunzigern in Deutschland und auch in Italien verbreitet. Mittlerweile hat auch Südtirol eine sehr aktive Szene...
Ja, nach drei Anläufen haben wir seit etwa fünf Jahren auch hier eine relativ bekannte Szene. Es passiert wirklich einiges.

Was hat Sie daran fasziniert?
Das gibt es Vieles. Zum Beispiel die Würze in der Kürze. Man hat beim Slammen ja nur wenige Minuten pro Text. Das Slammen hat mich wirklich sehr geprägt. Ich war eine Quereinsteigerin, die sich total darin verfangen hat, weil es mich so begeistert hat. Ich hatte ja schon etwas Bühnenerfahrung, aus meiner Zeit am Konservatorium. Aber das war schon lange her und sehr rigide gewesen und es war zunächst eine Riesenüberwindung, wieder auf die Bühne zu gehen. Doch das ist schon das Meine, absolut, das ist einfach mein Weg.

Fünf Minuten Zeit hat jede Slammerin, jeder Slammer, um einen eigenen Text vor Publikum zu performen. Was ist der Kick dran?
Es ist ein Kraftakt, bei dem unmittelbar etwas zurückkommt. Mit dem Voting bekommt man ein direktes Feedback – von den Juroren, also in Südtirol meist dem Publikum, das dir auf Tafeln oder mit sonstigen Utensilien sofort zu verstehen gibt, was Sache ist. Wenn es gut ist, überkommt dich ein Schwall von Liebe und Wärme und Applaus, und wenn es nicht gut ist, bekommst du eben zurück: Hey, das geht so nicht, nicht in dem Kontext, nicht heute oder nicht auf die Art, wie du es performed hast. Man lernt dabei unglaublich viel über Textvermittlung, Bühnenpräsenz und wie man sich dem Publikum verkauft. Poetry Slam ist ein Sein-und Schein-Format.

Was meinen Sie damit?
Du kannst in Richtung Sein arbeiten und das performen, was du bist und denkst und fühlst oder in Richtung Schein, also das performen, was die Leute hören wollen. Nach dem Motto: Das bin ich oder wie verkaufe ich mich. Und das ist eine Riesenherausforderung und total spannend. Auch für das Publikum, weil so viel Lockerheit in dem Format ist, und weil es vor allem (im Sein) authentisch ist.

Und Authentizität ist auch Teil des Erfolgs?
Es ist immer wieder erstaunlich, wie die Leute sofort erkennen, was gut ist. Ich moderiere ja seit ein paar Jahren schon die Poetry Slams und habe da so einige Erfahrung. Es gibt ganz selten einmal einen Moment, wo ich mir denke, das hätte ich jetzt aber anders wahrgenommen als das Publikum reagiert hat. Es ist ohnehin immer eine Sache des Augenblicks, es ist meist nichts Bleibendes, nicht Literatur forever, mit Anspruch und so. Es ist ein Geschenk für den Moment, das für Emotionen sorgt, für ein kleines bisschen Glück oder für Tiefgang. Es ist ein Austausch, es entsteht junge Literatur, es kommt dadurch etwas in Gang. Und das ist letztlich gut für alle, denn dann lesen Leute wieder mehr, dann interessieren sie sich für Texte und gehen auch auf andere Lesungen.

Und was macht dieses Performen mit den SlammerInnen selbst, was hat es mit Lene Morgenstern gemacht?
Wahrscheinlich führt es einen schon näher zu sich selbst. Klarerweise ist es das aber auch etwas, wovor man Angst hat. Zumindest meine Generation ist ja keine Feed-back Generation. Wann hat man denn mal Feedback bekommen?

 

Am Ende des Schuljahres, mit dem Zeugnis.
Eben. Und dann versteht man womöglich die Welt nicht mehr, weil man selber alles ganz anders wahrgenommen hatte. Wahrscheinlich sollten wir viel mehr miteinander sprechen … und auch nicht nur über das, was gut und schlecht ist…

Sondern?
Über Inhalte: Was wolltest Du damit sagen? Könnte man es nicht auch anders sehen? Da würde doch auch dies noch dazu passen…In jedem Fall verschaffen Dir diese Auftritte Sicherheit, vor allem, wenn die Rechnung aufgeht. Ich sehe schon auch, was es mit Menschen macht, die nie weiterkommen oder nur bis zu einem gewissen Punkt. Die sind dann irgendwann frustriert. Doch in jedem Spiel und in jedem Wettbewerb braucht es Sieger und Verlierer. Und die Verlierer, die spielen eine ganz große Rolle darin. Denn ohne sie gäbe es die anderen, die Sieger, nicht.

Die Verlierer selbst werden das wohl oft anders empfinden?
Sicher. Doch: Nicht zu gewinnen, heißt immerhin noch, dass man trotzdem mit dabei war. Und dass etwas von dem, was man gemacht hat, womöglich auch gut war (Feedback!) Man könnte halt noch daran feilen (Feedback!) Oder warten, bis einem das Publikum auch so versteht. Es gibt Leute, die nehmen das ganz locker und mit Humor. Das ist auch die beste Haltung, weil sonst knickt es dich.

Was natürlich auch passieren kann, wenn ich mich exponiere und keine Anerkennung  dafür bekomme.
Ja, doch was machen die Profis? Die gehen mit demselben Text zum nächsten Slam und verbessern ihn aber vorher. Das ist Arbeit. Es kann ja nicht gleich jeder schon von oben starten, man muss die Treppchen dann halt auch mal erst hochgehen.

Wie schaut Südtirols Poetry-Slam-Szene aus, tummeln sich da vor allem junge Leute?
Jedes Land hat so seine Eigenheiten. Und in Südtirol würde ich einerseits sagen, dass im Gegensatz zu Deutschland und Österreich, wo es viel Comedy und Kabarett gibt, eher ernstere Textsorten überwiegen, auch Politisches. Und vom Alter her gibt es jetzt tatsächlich viele neue junge Leute. Doch das zudem Schöne und Typische hier ist, dass man nicht nur, wie zum Beispiel in Österreich, vor allem die Altersgruppe zwischen 20 und 35 hat. In Südtirol gibt es auch ein Poeten und Poetinnen, die junggeblieben, aber älter sind…

Over 60?
Over 70, auch eher schon in Richtung 80. Und es gibt immer wieder NeueinsteigerInnen over 40. Das ist Südtirol und dieser Mix macht viel aus. Wir sind eine kleine Szene und haben einen starken Zusammenhalt, schätzen uns sehr gegenseitig. Also die Konkurrenz ist eigentlich nicht so spürbar wie in anderen Ländern. Hier wird niemand ausgeschlossen, man schaut eher, dass man zusammen etwas erreicht und alle reinholt.

Gibt es eine Verbindung von der Slam- zur Literaturszene?
Ja, die gibt es schon. Man kann mittlerweile sagen, dass die Literatur den Poetry Slam wahrgenommen hat seit einigen Jahren und Autorinnen und Autoren aus der Szene für Lesungen rekrutiert. Mich freut das sehr, dass Slam heute eine Rolle spielt. Slam ist aus dem Südtiroler Kulturbetrieb nicht mehr wegzudenken, er ist ein Magnet. Für Leute, die mal was zu sagen haben, aber auch für das Publikum. Also wir sind voll, beim Finale der Landesmeisterschaften kämpft man um die Sitzplätze. Poetry Slam gefällt und ist gefällig. Und wer als SlammerIn startet, muss ja nicht immer SlammerIn bleiben, das wissen wir alle. Es ist eine Startrampe, ein Ausprobier- und Connecting-Pool, ein Experimentierfeld, wo man viel sehen und hören kann. Es geht schon vor allem darum, sich ausprobieren zu dürfen.

Und jeder kriegt die Chance dazu?
Jeder kriegt die Chance. Und dann muss halt jede und jeder schauen, was sie daraus macht.

Im Leben der Lene Morgenstern gibt es noch einen weiteren Bereich, aus dem sie etwas gemacht hat – die Philosophie. Die unterrichten Sie nicht nur, Sie machen kleine Vortragsreihen, habe sich wie gesagt in Richtung Philo-Slam weiterentwickelt...
Ja, ich habe Philosophie studiert, ich lese sehr viel Philosophie und bin in dem Genre auch tätig. Die Sprache in der Philosophie oder die Philosophie in der Sprache: Das ist das Feld, das mich interessiert, wo ich aber auch hineinwachsen musste. Denn Philosophie ist ja sehr komplex, wenn man nur Fachbegriffe verklickert.

Sehr kopflastig....
Nicht, wenn man die Essenz herausholt. Nicht, wenn man mit den Gedanken spielt. Das ist dann schon toll dann und es wird mit der Zeit auch immer leichter und hat dann einen Reiz. Die Philosophie lehrt uns, das Wesentliche zu sehen, das Fazit, das Drumherum, die Ordnung, das Chaos, die Struktur, die Widersprüche, den Kern, die Floskeln, die Logik, das Unlogische, die Voraussetzungen, die Fehlschlüsse, das Vermeintliche und den Hauch von Ahnung von Wahrheit und das sind halt Sachen, die mir total gut gefallen, ob im Alltag oder in Bezug auf die politische Situation…

"Ich habe viel gesehen, gehört, gemacht, ich konnte vergleichen, alles hat sich relativiert."

Wie stellt sich Italiens innenpolitische Situation aus philosophischer Sicht dar?
Da könnten wir auch die Astrologie befragen, allerdings ist die keine Wissenschaft. Nun, wir leben in einer Demokratie und da sollten wir imstande sein, die sich gegenüberstehende Ansichten auszudiskutieren und zu respektieren und nicht sofort restriktiv immer sofort dagegen zu sein. Und dabei dürfen wir allerdings das Denken nie vergessen. Nachlaufen oder weglaufen ist ganz einfach, aber nicht gut, auch, wenn das jetzt schwer fällt in diesem Moment. Das ist jetzt mal die Stimme des Volkes, ok, hier liegt momentan der Fokus…

Also zum Beispiel bei den Themen oder Versprechen des Movimento 5 stelle.
Ja, ich würde jetzt einfach mal schauen, was sie wirklich schaffen. Ich unterscheide zwischen luftigen Versprechen und realer Umsetzung. „Ploderer“ finde ich auf dem politischen Parkett nicht gut, die sollen zum Slam kommen. Also der Movimento ist ja ein ganz lustiger Verein, aber Politik ist eine ernste Angelegenheit und jetzt soll sich der mal beweisen. Jetzt kommt die eigentliche Arbeit. Und da gilt es nun aufmerksam zu verfolgen, was passiert. Die Lösungen klingen oft so einfach, die Realität ist dann wesentlich komplexer. Ich würde Philosophen in der Regierung bevorzugen. Gerade in Italien.

Warum, was kann die Philosophie?
Meinem Leben hat die Philosophie vor allem Struktur verpasst. Ich bin ein großer Freigeist, ich schwirre durch viele Welten und die haben mich vielleicht kreativ gemacht und das hat mich von klein auf sehr stark geprägt. Und da brauchst du Struktur. Ich meine, auch Böden bieten Halt. Im Außen. Der innere Boden, das ist die Philosophie. Vielleicht mir besonders, weil ich zu wenig andere Strukturen wie eine richtig feste Familienstruktur hatte. Wobei dir die Philosophie zunächst einmal den Boden unter den Füßen komplett wegreißt.

Warum?
Weil man draufkommt, dass das mit der Wahrheit eigentlich ein heikles Thema ist, sprich, es sie eigentlich gar nicht so eindeutig gibt bzw. die Frage auftaucht, ob es sie gibt. Und dazu gibt es verschiedene, interessante Theorien, bei denen unterm Strich rauskommt, dass du dich eigentlich auf nichts verlassen kannst außer vielleicht darauf, dass 2 plus 2 in der Summe 4 ergibt. Immerhin. Aber mehr ist im Grund nicht drin. Und wenn man dann lernt, damit zurecht zu kommen, dass der Boden weg ist und wenn du diesen Freiraum annimmst, dann entdeckst du, dass er ganz viel Platz zum Experimentieren mit Theorien bietet und diese Möglichkeit, die gibt dann Halt.

Diesen Halt bräuchten heute wohl viele Menschen, in den Freiräumen des 21. Jahrhunderts....
Das merke ich auch. Aber warum fehlt er ihnen? Viele Menschen haben einfach eine ganz bestimmte Treppe genommen, zum Beispiel jene der einen fixen Arbeit zur einst versprochenen Rente, die am Ende der Treppe dann irgendwo wartet. Doch wenn solch eine Treppe dann plötzlich endet oder zusammenbricht, dann ist der Halt eben komplett weg.

Und es brechen viele Treppen zusammen, in unserer digitalen und globalen Welt, in der wir auf vielen Kanälen parallel kommunizieren und uns ständig selbst optimieren sollen.
Ja, und die Philosophie ist das GPS durch den Dschungle. Zum Beispiel, indem sie die richtigen Fragen stellt. Dann gehst du immerhin schon mal in die richtige Richtung. Da fällt mir Rilke ein, der schrieb auch von den Fragen, die man liebhaben sollte.

Haben Sie ein Beispiel?
Was ist ein gutes, sinnerfülltes Leben? Das ist eine richtig große Frage mit ganz vielen Unterfragen zur Gesellschaft, zur Ernährung, zum Umgang mit digitalen Geräten, will ich Familie, was ist die Liebe, soll ich mich bei der Arbeit selbstverwirklichen dürfen sollen müssen und brauche ich jetzt schon ein Studium der Joghurtkulturen, um einen simplen Einkauf auf die Reihe zu kriegen... Das alles fällt da hinein. Ich glaube, solche Fragen stellen sich viele in unserer Gesellschaft und das heißt nicht nur, dass in unserer Gesellschaft etwas fehlt, das heißt doch auch, dass es unserer Gesellschaft gut geht.

Weil zumindest große Teile der Gesellschaft alle Grundbedürfnisse befriedigt haben und sich nun zum Sinn, zur Selbstverwirklichung weiterarbeiten, wie es Maslow in seiner bekannten Bedürfnispyramide vorgezeichnet hat?
Ja, genau. Da steht dann ganz oben die Philosophie. Und die Religion. Die Transzendez.

Ein Luxus der Wohlstandsgesellschaft, der aber auch fordert.
Ja, das ist aber eine Frage der Perspektive. Man kann diese Suche nach der Selbstverwirklichung, nach dem Sinn, als lästig ansehen, weil das Arbeit ist und weil man sich dann denken kann: Muss das wirklich sein? Auf der anderen Seite ist es die Möglichkeit glücklich zu werden, by doing. Und das ist dann doch was ganz anderes, als wenn dir ein Buch oder der Pfarrer oder deine Mutter sagen, was du in deinem Leben zu machen hast. Früher wurde man wo reingeboren und konnte nicht raus und nicht rauf. Da war der Weg des Lebens von vornherein abgesteckt, hier gehst du lang, dann kommst du in den Himmel . Die Rahmenbedingungen waren sehr klar, aber Freiräume gab es eben auch nicht.

Für uns sind die Freiräume dagegen so groß, dass auch die Gefahr besteht, sich darin zu verlieren.
Ja, die ganzen Möglichkeiten, die wir heute haben, können schon verwirrend sein. Aber ich sehe da die andere Seite: Das ist doch eine Riesen-Chance, wenn wir uns in die eine oder die andere Ecke begeben können. In so viele Richtungen hin. Das Problem ist nicht die Weite, das Problem ist die Einsamkeit, denn wer sich freischwimmt, verlässt natürlich den engen Bereich, verliert die fixen Leute, die ja auch Halt geben. Statt dessen kommen dann wieder Leute , die du nicht kennst. Oder du schwimmst in eine Richtung, wo es überhaupt niemanden mehr gibt. Nur mehr Bücher. Die gibt es immer, es gibt ja sie so viele tolle Denkerinnen und Denker. Man bräuchte mehrere Leben, um die alle zu entdecken.

Und wohin schwimmt die nächste Generation, wie erleben Sie Ihre SchülerInnen bei solchen Fragen?
Ich bin da total positiv überrascht. Die schwimmen oft gerne in die Tiefe. Vielleicht sehe ich das jetzt so, weil man ab einem bestimmten Alter dann ja überhaupt erst daran denken darf, irgendwas zu sagen zu haben, was das Lehren betrifft und also, weitergedacht, auch daran denken kann, dass man Schülerinnen und Schüler hat, die einem überhaupt mal zuhören könnten.

Ab wann?
Ab 40  Jahren - mit Schopenhauer gesprochen. Ich erlebe es schon so, man beginnt, die Welt besser einordnen zu können. Vorher ist man viel stärker hin- und hergeworfen. Und man ist wohl auch anders hormongesteuert, obwohl das Schopenhauer jetzt nicht gesagt hat.

Aber Lene Morgenstern kann ja ergänzen....
Na gut. Ich finde es in jedem Fall spannend, jetzt eine andere Rolle zu übernehmen, einfach auch einmal etwas weitergeben zu können. Da einen  Knopf aufmachen, dort ein Geländer zu bauen. Und die jungen Leute, die erlebe ich dabei häufig als total bedürftige Geschöpfe, die ganz große Lust haben, eine innere Fülle zu erreichen. Vielleicht waren wir auch so, ich kann mich nicht konkret erinnern.

Woran erinnern Sie sich?
Daran, dass wir vieles nicht durften und uns frei kämpfen mussten. Das ist ein anderer Weg. Jetzt ist dagegen so viel schon da und es gilt, die Orientierung zu finden. Und innen drinnen, das ist oft diese große Leere. Deshalb suchen diese jungen Menschen so sehr nach Inhalt und sie sind so dankbar für Tiefgang. Und das ist schon schön zu sehen, denn es reicht ein Anstoß und dann machen die schon weiter.

 

Wo unterrichten Sie?
Im Sozialwissenschaftlichen Gymnasium Bozen. Und wenn man die Schule dort besucht, war man im Durchschnitt mit den Eltern noch nicht in zehn Museen, ist noch nicht weit gereist, hat womöglich keine guten Zeitschriften und gutes Radio zu Hause. Manchmal hat man noch nicht mal ein Buch zu Ende gelesen. Viele kommen aus einfachen Verhältnissen. Und sind so bedürftig nach Tiefgang. Die nehmen Philosophie mit großen Augen auf. Nicht alle, aber mehr als man meinen möchte. Und da denke ich mir schon oft: Die next generation, die weiß schon was zählt, was wichtig ist. Und das, obwohl sie auch ganz andere und oberflächlichere Auswahlmöglichkeiten hat.

Wie am Handy spielen und chatten?
Lieber diskutieren sie.

Und solche Diskussionen halten Sie nach wie vor an der Schule? Sie unterrichten ja mittlerweile nicht mehr kontinuierlich jedes Jahr. Ein interessantes Modell, das sich auch für andere Berufe anbieten würde übrigens.
Ich finde das Innehalten extrem wichtig. Was mich an der Schule hält, ist eben dieses Gefühl, in einer Altersklasse zu sein, der ich etwas geben kann. Ich kann jetzt mit Ruhe und Lebenserfahrung erklären, das hätte ich mit 25 nicht geschafft und auch nicht mit 30.

Warum nicht?
Da war ich eine junge Mama, überfordert, selbst sehr stark suchend. Suchend bin ich immer noch, aber es ist anders geworden. Ich kenne inzwischen den Weg, auf dem ich gehe. Und ich habe gerade im Moment das Gefühl: Schau,  ich bin eigentlich wo angekommen. Und ich sehe inzwischen, was zurückkommt und das ist dann wunderschön. Ich habe nur ein mittleres Problem mit dem System, das treibt mich immer wieder mal von der Schule weg.

Was konkret treibt Sie das weg?
Das System verlangt immer mehr Zeit von dir, ich habe keine Ahnung, wie das die anderen hinbekommen, manche haben drei Kinder! Ich bewundere das. Mit Sorge. Die Ansprüche sind so groß geworden, was man alles machen sollte, die Bürokratie, die Digitalisierung, was man da neuerdings alles müsste, das ist schon kurios. Ich kriege da viel Inspiration für meine Texte. Aber ich bemerke auch die vielen unglücklichen Menschen im System Schule. Ich habe da das große Glück, nicht dazuzugehören.

Sie haben gar nie zu den Unglücklichen gezählt?
Ich glaube, ich habe mich kurz bevor ich da reingefallen bin, in die Kunst gerettet. Aber ich weiß, wie es sich anfühlt. Wenn das Wasserglas halb leer aussieht. Oder ganz leer. Wenn nichts mehr passt.

Was besonders schade ist, wenn man an die Bedürfnisse denkt, die Sie vorhin beschrieben haben...
Schlechte Laune ist ein Verbrechen. Anderen die eigenen Befindlichkeiten in den Lebengarten zu stellen, das ist nicht ok. Und im Arbeitsbereich ist es unprofessionell. Deshalb ist es für mich schon wichtig, hier einen positiven Beitrag zu leisten. Was ich, so sagt man, recht gut kann, ist motivieren. Ich fordere auch. Das ist im Grunde also angewandte Philosophie, das Unterrichten. Wenn ich damit etwas bewirken kann. So wie auf der Bühne oder noch mehr, weil in der Schule das Publikum in einem delikaten Alter ist. Aber ich möchte nicht nur unterrichten, das ist mir zu wenig, dann drehe ich mich zu viel im Kreis oder im Quadrat und dann wäre ich mir selber nicht treu.

"Ich finde es halt total schräg und schon auch typisch Südtirol, wenn wir uns auf der einen Seite so modern geben und von einer Öffnung gegenüber Europa sprechen und Freiheiten und Fortschritt haben wollen, auf der anderen Seite aber sollte dann aber doch bitte alles möglichst beim Alten blieben."

Wäre es nicht ohnehin schön, wenn viele Lehrende auch in anderen Welten arbeiten – und dann diese Erfahrungen in die Klassen einbringen?
Wahrscheinlich. Schön wäre zumindest, wenn so etwas anerkannt werden würde. Denn es ist gar nicht so einfach, zwei Welten zu kombinieren.

Vor einigen Jahren haben Sie in einem Interview gemeint: In Südtirol hält mich nichts mehr. Gehört das Weggehenwollen auch zur Suche nach einem guten Leben?
Doch, ja, ich muss immer wieder mal raus aus Südtirol. Es ist aber ein Unterschied, ob man gehen muss oder gehen darf. Ich bin jetzt versöhnt mit Südtirol. Mich hält vor allem die Natur. Und auch ein gewisses Heimatgefühl, das ich aber mitnehmen könnte, weil es in mir drinnen ist. Ich könnte auch woanders leben, weil ich viel woanders mache. Aber vorerst weiß ich einfach, dass ich regelmäßig raus muss. Und ich habe zum Glück die tolle Möglichkeit das auch zu tun. Der Weg, den ich eingeschlagen habe, ist auch relativ unabhängig davon, wo ich mich geografisch aufhalte. Ich kann den hier oder einem anderen Land weitergehen, da geht es mehr um eine innere Entwicklung.

War die notwendig, um sich mit Südtirol zu versöhnen?
Ja, das war wohl notwendig so. Zur Versöhnung hat vor allem die Kunst beigetragen. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass das eine Therapie war, aber vergleichbar ist das schon. Ich habe viel gesehen, gehört, gemacht, ich konnte vergleichen, alles hat sich relativiert. Jedes Problem, das wir von verschiedenen Seiten betrachten können, relativiert sich. Man darf eben nicht stehen bleiben und immer auf dem einen, kleinen Punkt verharren. Ich habe es so oft erlebt: Wenn man weitergeht und die alten Türen zumacht, dann gehen neue auf.

Doch dafür braucht es auch Mut. Und ein bewusstes Rangehen.
Bei mir war es vor allem die bewusste Entscheidung, in Harmonie leben zu wollen. Ich habe entschieden: Ich will weg von der Disharmonie, da ist vielleicht die Musikalität durchgesickert, keine Ahnung, mir ist die Harmonie halt echt wichtig. Und ich weiß, dass man aus Disharmonie Harmonie herzustellen kann. Dafür muss ich nur an ein paar Tönen rumschrauben.

Wie macht man das?
Wohin geht es, möchte ich fragen. Ich habe mich von vielen Menschen und Angewohnheiten verabschiedet, auch schmerzhaft. So ist es mir gelungen, Harmonie zu erstellen, mit Tönen von Menschen und Orten, mit denen es eben klappt. So ungefähr. Wie gesagt: Schopenhauer  - ab 40! Und dann aber nicht stehen bleiben, da ist noch so viel mehr!