Kultur | Storia dl alpinism

Alpingeschichte von Lungiarü

Die Bevölkerung von Lungiarü (dt. Campill) ist eng mit den Bergen verbunden. Die Berge sind Teil ihrer Identität.
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Foto: AVS

In Zusammenarbeit mit dem AVS

Text: Anna Pichler

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Die harte Arbeit an den steilen Hängen unterhalb von Peitlerkofel und Puezgruppe sorgte jahrhundertelang für das tägliche Brot. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts lockten Reiseberichte über die ­Dolomiten und die bürgerlich geprägten Alpenvereine die Touristen in die wilde Bergwelt, die bis dahin den ladinischen Sagengestalten vorbehalten war. Der AVS hat nun die Alpingeschichte von Lungiarü erforscht.

Umschlossen von den Gipfeln der Puez-, Geisler- und Peitlerkofelgruppe liegt das ladinische Bergsteigerdorf Lungiarü auf 1.398 Meter. Der höchste Punkt im Fraktionsgebiet ist die Piza de Pöz/Östliche Puezspitze (2.913 m). Hausberg ist für die rund 570 Personen im Dorf aber der Pütia/Peitlerkofel (2.875 m), der auch als Eckpfeiler der Dolomiten bezeichnet wird. Denn was viele nicht wissen: Er liegt nicht, wie oft irrtümlich geglaubt, in der Gemeinde Villnöss, sondern in der Gemeinde San Martin de Tor/St. Martin in Thurn, in der Fraktion Lungiarü. Ein Bergabenteuer am markanten „Peitler“ war auch für die großen Namen wie Reinhold Messner, Hans Kammerlander und Heini Holzer unverzichtbar.
 

Der Peitler, große Klasse!

Der Pütia ist freistehend und weitum sichtbar. Schon Johann Santner war 1884 fassungslos über die schöne Aussicht auf dem Gipfel: „Mir ist kein Berg von solcher Höhe bekannt, der so leicht besteigbar ist und eine so herr­liche Aussicht bietet.“ Auf seiner Berg­tour vermisste Santner einzig und allein eine Übernachtungsmöglichkeit. Das veranlasste ihn wohl dazu, einen Bauplatz nahe des Forcela de Munt de Furcia/Kreuzkofeljochs für den Bau der Schlüterhütte vorzuschlagen. Die Kosten für den Bau übernahm der Kaufmann Franz Schlüter aus Dresden.

Auch auf den auf einem Berg­bauern­hof in Ahornach im Tauferer Ahrntal aufgewachsenen Hans Kammerlander übten der Pütia und seine Nordwand schon als Kind eine besondere Faszination aus. So erinnert er sich in seinem Buch „Bergsüchtig“: „Manchmal saß ich hundert Meter von unserem Haus entfernt in der Wiese, kaute auf einem saftigen Grashalm und starrte mit dem Fernglas meines Vaters wie gebannt hinüber in die Nordwand des Peitlerkofels. Doch alles schien so unendlich weit entfernt, und ich glaubte auf einmal wieder: Dort muss die Welt zu Ende sein“. Als Kammerlander zum ersten Mal mit seinem Bruder Alois durch die Peitlerkofel-Nordwand zum Gipfel hinaufkletterte und stolz von dort zurück zum elterlichen Hof zurückblickte, hatten sich seine kind­lichen Befürchtungen allerdings in nichts aufgelöst. 1983 gelang ihm die 1. Solobegehung der Peitlerkofel-­Nord­wand über die Messner-Route. Diese direkte Nordwandroute im Mittel­teil der Wand hatte Reinhold Messner 1968 mit seinem Bruder ­Günther zwischen der alten Nordwandführe und der Schließler-Route im Schwierigkeitsgrad V+ eröffnet. ­Günther Messner lockte damals seinen Bruder mit einer Postkarte nach Hause, auf der er seine Begeisterung für die bevorstehende Tour äußerte: „Peitler, große Klasse – gut studiert – alles frei – ein Tag – erwarte dich Samstag.“ Als Erste über die 400 Meter und 45 Grad steile Ostwand des Pütia fuhren in knapp 15 Minuten am 28. März 1976 der Pionier des Steilwandskifahrens Heini Holzer und Sieglinde Walzl ab. Der Pütia hat seine Anziehungskraft für Kletternde bis heute nicht ­verloren, noch immer werden neue Routen erschlossen.
 

Bleich, trostlos und furchterregend

Die Bergkulisse um das Bergsteigerdorf Lungiarü dominiert der Zwischenkofelkamm mit den Gipfeln Crëp ­dales Dodesc/Zwölferkofel, Piza de Antersasc/Zwischenkofel, Piz Somplunt und Capuziner. Er umschließt das Val d‘Antesasc/Zwischenkofeltal im Norden, im Süden erheben sich die ­Gherdenacia und die Puez-Hochfläche, die einer Mondlandschaft gleichen. Die englischen Wissenschaftler und Entdeckungsreisenden Josiah Gilbert und George Cheetham Churchill beschrieben in ihrem Entdeckungsbericht „The Dolomite Mountains“ 1864 das Gebiet der Gherdenacia als „ein einziges Bild der Trostlosigkeit“ und weiter: „Ringsum ist sie von hohen ­Buckeln umgeben, und in der Mitte erheben sich kegelförmige Türme wie Aschenhügel um die Mündung eines erloschenen Kraters. Die weißen, sturmgebleichten Felsen sehen in ihrer Einsamkeit furchterregend aus.“ Trotz dieser nicht gerade schmeichelhaften Beschreibung weckte dieser Reise­bericht das Interesse die „bleichen Berge“ – die Dolomiten – zu besuchen, zu besteigen und darüber zu berichten. Heinrich Wilhelm Meuser aus München beispielsweise dokumentierte seine Erstbesteigungen in der Puezgruppe in den Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpen­vereins (DuOeV): Am 4. September 1886 bestieg er unter der Führung des Grödner Bergführers Johann Baptist Vinatzer, die Piza de Pöz/Östliche Puez­spitze (2.913 m) und am 5. September 1887 den Piz Duleda (2.909 m) von Süden mithilfe von Luigi Bernard aus Campitello di Fassa. Aufgrund der steigenden Nachfrage waren einheimische Bergführer gefragt. In den 1890er-­Jahren gab es einige Gader­taler Bergführer, darunter Josef Adang aus Badia/Abtei, die damals noch im Grödner Bergführerverein organisiert waren.
 

Der Professor und die Sektion ­Ladinia

Der organisierte Zugang zur Bergwelt wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch die Gründung von Alpenvereins­sektionen gefördert. Gründervater der Sektion Ladinia im DuOeAV am 14. Oktober 1886 war der Professor und Gadertaler Heimatforscher Jan Batista Alton. Die Sektion zählte zu den ersten 10 Alpenvereinssektionen in Südtirol. Ihr Arbeitsgebiet betraf das gesamte Val Badia/Gadertal und ­Fodom/Buchenstein (gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zu Tirol, heute Provinz Belluno). Im Ausschuss waren keine Bauern vertreten, sondern ein Professor, ein Arzt und 3 Gastwirte. Im ersten Jahr der Tätigkeit 1887 wurden bereits viele Arbeiten verrichtet: das Aufstellen von ungefähr 100 Wegschildern, das Anlegen und Instandhalten von zahlreichen Wegen, z. B. auf den Pütia oder auf die Puez-Hochfläche, und von Markierungen, der Bau der Ütia de Pöz/Puezhütte und die Vorarbeiten für den Bau einer Hütte am Col di Lana. Jan Batista Alton (1845 – 1900) aus ­Calfosch/Kolfuschg beschäftigte sich viel mit dem Studium der ladinischen Sprache und Kultur. Stark mit seiner Heimat verbunden verteidigte er aus tiefstem Herzen die ladinischen Ortsnamen vor der rapiden Verdeutschung durch deutsche und österreichische Alpinisten. Er dozierte als Professor an der Universität Wien romanische Sprachen und sammelte als Direktor des k. u. k. Gymnasiums in Rovereto ­ladinische Sagen und Lieder. Der begeisterte Bergsteiger leitete die Geschicke der Sektion bis 1900, als er in Rovereto wegen Geldangelegenheiten ermordet wurde. Der Mordfall erregte zur damaligen Zeit einiges Aufsehen.
 

Nicht so abseits wie der Nordpol

Heute kaum vorstellbar, war das Val Badia zur Zeit der Gründung der Sek­tion Ladinia noch kaum touristisch erschlossen. Erst 36 Jahre nach dem Einzug des Fremdenverkehrs in Gröden, welcher durch den Bau der Straße von Waidbruck und Anschluss an die Eisen­bahnlinie Verona – Bozen – Innsbruck voran­getrieben worden war, setzte auch im Gadertal durch die Fertig­stellung der „Enneberger Konkurrenz ­Straße“ 1892 der Tourismus ein. In ­Lungiarü allerdings sollte die touristische Entwicklung noch etwas dauern, nur vereinzelt suchten leidenschaftliche Bergsteiger eine Übernachtungsmöglichkeit im abgelegenen Bergdorf. Einer davon war Vinzenz Goller, der um 1900 eine Bergfahrt verbunden mit einer Gamsjagd ins Campiller Tal unternahm. Damals gab es in Lungiarü nur ein Gasthaus, das in seinen Augen sehr primitiv und nicht auf anspruchsvolle Sommergäste eingerichtet war. Allerdings glichen die niederen Preise, die vielgestaltige Bergwelt, die duftenden Almwiesen und prächtigen Wälder ­diesen Umstand aus. Bei einer zweiten Reise 25 Jahre später war das Gasthaus bereits erweitert und ein zweites Gebäude dazu gebaut worden, laut Goller eine „schmucke Villa“ mit „behaglichen, guteingerichteten Fremdenzimmern“, „alle Räume in Lärchen- und Zirbenholz getäfelt“. Die neue Herberge versorgte der Gastwirt ­Jakob Clara mit einem eigenen Elektrizitätswerk. Goller zitierte in seinem Reisebericht in der Österreichischen ­Illustrierten Zeitung 1926 den geschäftstüchtigen Gastwirt folgendermaßen: „Man wird auch einmal Campill entdecken, es liegt nicht so abseits wie der Nordpol. Wenn die Leute einmal erfahren, dass man um wenig Geld hier behaglich leben kann, werden sie auch zu uns heraufkommen.“ Sein Neffe Marino Clara erzählt, dass Jakob anscheinend noch ein weiteres Gasthaus und ein Skigebiet errichten wollte. Als seine Kreditgeber, meist Bauern aus dem Dorf, von seinen Plänen erfuhren, wurden sie skeptisch und forderten das Geld schnell zurück. Finanziell ­ruiniert und zahlungsunfähig verließ ­Jakob Clara schließlich Lungiarü. Hätte Jakob Clara damals seine Pläne verwirklichen können, hätte sich Lungiarü wahrscheinlich früher touristisch ent­wickelt und womöglich auch in eine andere Richtung.
 

Von Fundstücken und ­Persönlichkeiten

Ungefähr in diese Anfangszeit des Tourismus in Lungiarü datieren lässt sich eine Reklamemarke, die bei der Recherche zur Alpingeschichte zufällig im Archiv des Deutschen Alpenvereins entdeckt wurde. Dem Archiv war der Name dieses Ortes in den Dolomiten bis dahin nicht bekannt. Für Anna Pichler, Projektkoordinatorin der Initiative Bergsteigerdörfer im AVS, war auf den ersten Blick klar, dass das unverwechselbare Panorama das ladinische Bergsteigerdorf zeigte. Damit konnte das Fundstück richtig benannt werden. Die Recherchen führten sogar bis nach Schottland zum Ladies Scottish Climbing Club, der dem AVS Fotos von einer ihrer Begründerinnen, Mabel Inglis Clark, zur Verfügung stellte: Die Schottin ist eine von mehreren Frauen, die Erstbesteigungen in der Puez­gruppe durchführten. Sie bestieg 1913 die Südostkante der Östlichen Cir­spitze im III. Schwierigkeitsgrad. Nach einer weiteren Schottin Una May ­Cameron ist die Cameron-Führe (V und V+) an der Südwand der Großen Cirspitze (2.592 m) benannt.

Schmunzelnd erinnert sich heute die Südtiroler Bergsteigerin Sieglinde Walzl an die erste Winterbegehung der Südwand des Sas Ciampac (2.672 m) im V. Schwierigkeitsgrad gemeinsam mit Hans Pescoller und Heini Holzer: „Beim Ersteigen des Geschweiften ­Kamins am 26.12.1971 mussten wir zum Gipfel hin ein Loch auspickeln, um durchzukommen. Als der etwas kor­pulentere Hans Pescoller an der Reihe war durchs Loch zu steigen, sagte ­Heini zu mir: ‚Ich ziehe vorne und du schiebst hinten.‘“ 1973, erneut mit Hans Pescoller und Heini Holzer, ­gelang es Sieglinde Walzl, den Col Plö Alt die Nordwand des Gardenacia-Massivs erstzubesteigen (IV. Grad), die Pescoller-Holzer-Walzl-Führe.

Hans Pescoller († 2017) stammte aus Lungiarü und war passionierter Bergsteiger, Fotograf und Autor u.a. vom Kultbuch „Die kleine Bergsteiger-Fibel“ (siehe ­Bergeerleben 1/2022). Viele seiner wunderbaren Naturfotos stellte seine Familie dem AVS zur Veröffent­lichung zur Verfügung. Er war Mitglied der Hochtouristengruppe (HG) Bruneck und ist Mitbegründer der AVS-Ortsstelle Wengen. Vor allem als junger Mann hat er einige Berge in Lungiarü erstbestiegen.

Auch heute ist das Puezgebiet noch alpines Neuland, die Alpingeschichte wird weitergeschrieben: Lorenz Clara und Terence Mischí, beide aus Lungiarü, eröffneten 2018 eine neue Linie ausschließlich mit Normalhaken durch die Nord-Ost-Wand der Piza de ­Antersasc / Zwischenkofel, benannt Strisk 150 (V+).
 

Alpingeschichte und kulturelle Identität

Die „Alpingeschichte kurz und bündig – Lungiarü“ ist Teil einer interna­tionalen Buchreihe der Bergsteiger­dörfer und wurde von Giuliana Clara aus ­Lungiarü verfasst. Die Publikation, herausgegeben von AVS und AVS-­Sektion Ladinia, wurde durch die finanzielle Unterstützung des Amtes für Sprachminderheiten, der Autonomen Region Trentino-Südtirol, ermöglicht. Das Buchprojekt trägt zur Vermittlung und Verbreitung der Kenntnisse über die Sprachminderheit der Dolomiten­täler bei und pflegt, festigt und för­dert die angestammte kulturelle ­Identität ganz im Sinne der „Deklara­tion Bevölkerung und Kultur“ der Alpen­konvention und der Satzungen des AVS.

Gleichzeitig wurde ein Stück Alpingeschichte erforscht und den Ein­heimischen und Gästen von Lungiarü zugänglich gemacht.