Gesellschaft | oft unfreiwillig

Vertreibt mein Handy Menschen?

Antworten auf Fragen, die zum Thema Flucht und Migration nicht viele stellen, hat Alexander Nitz gesucht. Entstanden sind 15 Geschichten, wie es sie tausendfach gibt.
Weg, nur Weg
Foto: Salto.bz

Der Schokoriegel ist schon fast in Barbaras Mund. Da fragt Eva Sophie: “Weißt du, dass die Haselnüsse für diesen Riegel von Kindern wie uns gepflückt werden?” Barbara ist die Lust auf Schokolade vergangen. Sie greift zum Milchglas. “Die Milch kommt von den Kühen unserer Bauern”, weiß Eva Sophie. “Aber das Futter für die Kühe ist oft Soja – und dafür wird viel Urwald gerodet.” Ist Eva Sophie eine Spielverderberin, wie ihr Mohamed vorwirft?

 

Kinder stellen ihren Eltern oft unangenehme Fragen. Auf die es manchmal ebenso unangenehme Antworten gibt. Diese Erfahrung hat auch Alexander Nitz gemacht. Als seine Tochter Eva Sophie eine neue Klassenkameradin aus dem Kongo bekommt, fragt sie ihren Vater: Warum ist das afrikanische Mädchen von zuhause weggegangen? Er antwortet ihr: “Das hat auch mit uns zu tun.”

Flucht und Migration dominieren und entscheiden Wahlkämpfe, beherrschen Stammtische, polarisieren und erregen Gemüter. Einige, wie Eva Sophie, fragen sich, woher die Menschen, die nach Europa kommen, stammen, was sie aus ihrem Land weggeführt haben mag. Manche gehen dem “Warum?” nach. “Aber kaum jemand wagt die Frage: Was haben Flucht und Migration mit uns zu tun?” Diese Feststellung hat man im Haus der Solidarität in Brixen gemacht – dort, wo sich Menschen unterschiedlichster Herkunft, die sich in nicht einfachen Lebenslagen befinden, begegnen. In einem Buch sucht Alexander Nitz, Mitbegründer des Haus der Solidarität und Mitglied der HdS-Leitung, nach Antworten auf die unbequemen Fragen: Vertreibt mein Handy Menschen aus ihrer Heimat? Flüchten Personen, weil ich Schokolade nasche? Kurzum: (Was) Haben Flüchtlinge mit uns zu tun?

Die Idee zu dem Buch sei ihm schon vor einigen Jahren gekommen, berichtet Nitz: Während der Flüchtlingswelle 2015 und 2016 war er in vielen Gemeinden eingeladen, um von den Erfahrungen, die das HdS mit Menschen aus anderen Kulturen gemacht hat, zu erzählen. “Dabei habe ich gemerkt, dass es große Ängste gibt und zum Teil sehr vereinfacht und zugespitzt argumentiert wurde. Dabei ist Flucht und Migration eine große Frage.”

 

15 Geschichten, wie es sie tausendfach gibt

 

In 15 Geschichten versucht Nitz, Antworten zu liefern. Darauf, was die Konsumgewohnheiten der westlichen Gesellschaften, die Subventionspolitik der Europäischen Union für die Landwirtschaft, die wirtschaftlichen Interessen westlicher Konzerne im Süden der Welt anrichten.

“Die Gründe für die Flucht sind meist offensichtlich: Krieg, Katastrophen, karge Armut”, sagt Andreas Penn, Vorsitzender des HdS. “Dabei ist klar: Der Entschluss der Flüchtlinge, ‘Weg, nur weg!’ ist oft kein freiwilliger. Wir tragen mit unserem Konsumverhalten und unseren Lebensgewohnheiten dazu bei und verscheuchen sie dann mit einem lauten ‘Weg, nur weg!’.”

“Weg, nur Weg”, so der Titel des Buches, das am Mittwoch Vormittag im Kapuzinergarten in Bozen präsentiert wurde. “Nicht ‘Weg, nur weg’ – denn es geht nicht nur ums Weggehen, sondern auch um Wege: Fluchtwege, Auswege, Lebenswege. Und ums Unterwegssein”, erklärt Autor Nitz. Zu den 15 Geschichten inspiriert haben ihn die Gäste des Hauses der Solidarität.
Da ist der Tomatenbauer aus Ghana, der sich auf den Weg nach Europa gemacht hat, weil die EU ihre Tomaten subventioniert und billig auf den ghanaischen Markt schwemmt, sodass er selbst keine Lebensgrundlage mehr hat.
Da ist der nigerianische Ölarbeiter, der fliehen muss, weil er den Namen eines Drahtziehers, der hinter der Ölpiraterie im Lande steckt – im Buch heißt er Alhaj Bako – verrät – und in Europa Arbeit als Tankwart findet.

“…weg von meiner Heimat, aber zurück zum Geruch von Öl und Benzin in dieser Tankstelle. Was, wenn dies hier womöglich das Öl von Alhaj Bako ist?”

 

“Die Geschichten sind teilweise fiktiv, aber nicht erfunden. Es sind Geschichten, wie sie die Bewohner des Hauses der Solidarität erlebt haben oder erlebt haben könnten. Sie beruhen auf Tatsachen und geschehen so tausendfach jeden Tag”, erklärt Nitz.

 

Für Klein und Groß

 

Das Buch, das von der Kinderbuch-Illustratorin Evi Gasser illustriert wurde, richtet sich an Kinder ab acht Jahren. “Aber es ist nicht nur zum Vorlesen gedacht, sondern auch Erwachsene können sich darin informieren, wie eng alles auf der Welt verknüpft ist”, lädt Nitz auch die Großen zum Lesen ein. Eine Einladung, die Geschichten hinter den Gesichtern zu sehen, die allzu oft fremd anmuten, zu sehen, die neuen Mitbürger kennenzulernen und zu erkennen, “da steht kein Schwarzer vor mir, sondern Mohamed” – das soll “Weg, nur Weg” sein, wünscht sich Nitz.

Das Buch ist ab sofort in Buchhandlungen und Geschäften mit Büchersortiment, in Weltläden in ganz Südtirol und bei den Verkäufern der Straßenzeitung zebra. erhältlich. Ein Drittel des Verkaufspreises von 14,90 Euro behalten die Straßenverküfer, zwei Drittel gehen an das HdS, so wie der gesamte Reinerlös des Verkaufs. Produziert wurde es dank zahlreicher Sponsoren und großteils ehrenamtlicher Hilfe – und völlig klimapositiv. “Das bedeutet, dass zehn Prozent mehr Emissionen kompensiert werden als für die Produktion angefallen sind”, weiß Eva Sophie.