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Freiheit unterm Hut

Zwei Jahre ist Johannes schon unterwegs, ohne Handy, ohne Auto und fast ohne Geld. Der 26-jährige Vinschger Fliesenleger ist auf der Walz.
Auf der Walz
Foto: Anna Mayr

Zwei Jahre ist Johannes schon unterwegs, ohne Handy, ohne Auto und fast ohne Geld. Was so mancher Backpacker über Online-Plattformen wie Couchsurfing und BlaBlaCar versucht, macht der junge Südtiroler strikt nach den Regeln einer jahrhundertealten Handwerkstradition: Johannes ist auf der Walz. Mit jedem metallenen Klirren, den sein Wanderstock auf dem Kopfsteinpflaster verursacht, lenkt der junge Mann neue Blicke auf sich. Immer wieder bleiben Menschen am Straßenrand stehen und immer wieder drängt sich die Linse einer Kamera in sein Sichtfeld. Wäre Johannes vor etwa fünfhundert Jahren durch die Laubengasse in Bozen gelaufen, wäre er wohl kaum beachtet worden. Dann wären sein verschnörkelter Wanderstock, sein Filzhut und seine schnürelsamtene Kluft im mittelalterlichen Getümmel nicht weiter aufgefallen. Heute hingegen erregt sein Äußeres oft mehr Aufsehen, als Johannes recht ist. Dennoch gehört das altertümliche Gewandt zu seiner bisher zweijährigen Wanderschaft einfach dazu. Genauso wie das Verbot, sich seinem Heimatort Schleis bei Mals auf mehr als 50 Kilometer zu nähern, ein Handy zu besitzen oder auch nur einen Cent für Transport und Unterkunft auszugeben. Selbst seine Freund*innen und Familie hört er deshalb nur ab und zu übers Telefon oder trifft sie eher zufällig an einer Straßenecke. All dies entspricht den strikten Regeln des „Freien Begegnungsschachts“, dem Johannes angehört. Der Schacht ist einer von sieben Gesellenvereinigungen in Deutschland, der noch den alten Brauch der Walz fördert und junge Handwerksgesell*innen zu einer mehrjährigen Wanderschaft verpflichtet. Unter den etwa siebenhundert Handwerker*innen, die derzeit unterwegs sind, ist Johannes der einzige Südtiroler. Auch er hat es sich zur Aufgabe gemacht, im vorgeschriebenen Zeitrau m von drei Jahren und einem Tag in den verschiedensten Handwerksbetrieben und an den verschiedensten Orten so viel Berufs- und Lebenserfahrung wie nur möglich zu sammeln. Die Grundregeln: Nie länger als drei Monate in einem Betrieb bleiben und das Honorar nur für Nahrungsmittel und das Nötigste ausgeben.

Da die Handwerker*innen auf der Walz besonders Wert auf Gleichheit legen, hat der 26-jährige Vinschger für die Dauer seiner Wanderschaft sogar seinen Nachnamen abgelegt – um Vorurteile aufgrund von Nationalität oder Kultur zu vermeiden. Niemand von den Gesell*innen soll aufgrund von Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder Herkunft diskriminiert werden. Anfangs begleitete Johannes für einige Zeit eine erfahrene Wandergesellin. Diese weihte den 26-jährigen Vinschger in das Regelwerk der Gesellenvereinigung ein und half ihm, seine erste Arbeitsstelle als freireisender Fliesenleger in Duderstadt in Norddeutschland zu finden. Seitdem hat Johannes in unzähligen Betrieben gearbeitet und ist seine Reiselust nicht mehr losgeworden. „Ich freue mich auf jeden neuen Ort, den ich kennenlerne“, erzählt er, „aber auch über jeden, den ich wieder verlassen kann. Spätestens nach fünf Wochen fängt mein Wanderstock wieder an zu naggln.“ Dann weiß er, er muss wieder los und neue Abenteuer erleben, neue Erfahrungen sammeln. Das Sprichwort „Wenn der Nachbarshund nicht mehr bellt, dann ist es für den Wanderburschen Zeit für den Aufbruch“, hat Johannes stark verinnerlicht.

Das Abenteuer ist zwar nicht der alleinige Grund für die Wanderschaft, doch für viele junge Handwerker*innen wie Johannes der Ansporn schlechthin. Einige umrunden auf der Walz die Welt, andere reisen im deutschsprachigen Raum umher. Johannes selbst ist in den vergangenen zwei Jahren, ausgerüstet mit einer Straßenkarte und einem kleinen Büchlein mit den wichtigsten Floskeln auf Spanisch und Französisch, vom Reschen aus bis nach Marokko gereist. Geholfen wurde ihm auch da, wo niemand etwas von der Walz wusste: „Ich erinnere mich noch an einen Tag, an dem ich ohne Geld und ohne Unterkunft mitten in der Wüste stand. Zwei deutsche Touristen haben mich im Auto mitgenommen und mir zwei Tage lang das Hostel bezahlt“, erzählt er. Am nächsten Tag drückte ihm ein alter, zahnloser Mann einige Münzen in die Hand, eine Gruppe sehr armer Feldarbeiter lud ihn zum Teetrinken in ihre Hütte ein. Ein Erlebnis, das ihn sehr bewegte: „Die Männer hatten selbst nie das Stück Land verlassen, das sie bearbeiteten. Als ich mit Händen und Füßen meine Geschichte erzählte, da haben sie gejubelt.“

Aber auch sonst wurde Johannes fündig. An Arbeitgebern, interessanten Bekanntschaften und Freundschaften mangelte es ihm nie. Sein Credo: Anspruchslosigkeit und Optimismus. Einmal schlief er sogar mehrere Wochen in der Werkstatt, in der er arbeitete, da es sonst nirgendwo einen Schlafplatz für ihn gab. „Einen kürzeren Arbeitsweg hatte ich nie!“, erzählt der Fliesenleger lachend. Optimismus zeigt er auch, wenn er einmal keine Lust hat, allein zu reisen. Dann kontaktiert er über Email einige der anderen Wandergesell*innen seines Schachts und begleitet sie ein Stück des Weges. Derzeit zeigt er drei Wandergesellinnen aus Norddeutschland seine Südtiroler Heimat: Meru, eine freie Tischlerin, Helene, eine freie Polstererin und Tina, eine freie Konditorin reisen mit ihm. „Wir haben uns auf einem der regelmäßigen Gesellentreffen kennengelernt und seitdem sehen wir uns immer wieder Mal irgendwo“, erklärt Helene. Auch sie trägt die mittelalterliche Kluft der Wandergesell*innen, allerdings in der Farbe ihres eigenen Handwerks, dem Polstern. Zur Kluft der Wandergesell*innen gehört auch der Stenz, ein gewundener Wanderstock, das Wandertagebüchlein mit dem Wappen des Schachts, das ihnen als Ausweis gilt, das traditionelle Rucksackbündel mit den wenigen Habseligkeiten und ein Ohrring, der früher das einzige Wertstück der Freireisenden darstellte. „Schlitzohr“ wurden deshalb Gesellen genannt, denen man den Ohrring heruntergerissen hatte, da sie sich nicht „ehrbar“ verhalten hatten. Und auch das Sprichwort „Er ist mir auf den Schlips getreten“ stammt aus einer Zeit, in der Wandergesell*innen nicht immer gut behandelt wurden und ihnen auch wörtlich auf das um den Hemdkragen gewickelte Tüchlein getreten wurde.

Den Teil der Kluft, den Johannes am meisten hütet, ist sein Hut. Diesen zieht er vor niemandem, nicht einmal vor dem Papst, denn er ist das wichtigste Symbol seiner Freiheit: „Wir Wandergesellen sind frei, das heißt, wir beugen uns vor keiner Obrigkeit. Nur wenn es darum geht, Respekt zu zeigen, besonders beim Essen, ziehen wir symbolisch unsere Kopfbedeckung.“ Der Hut ist auch etwas, das andere Wandergesellen in anderen Kulturräumen teilen. So trifft das geübte Auge auf Reisen auch mal den einen oder anderen französischen „Compagnon“ auf Wanderschaft, skandinavische „Naver“ und ab und zu einen australischen „Swagman“ auf der Straße an.

Johannes selbst setzte 2016 das erste Mal seinen Wanderhut auf. Durch Zufall hatte er wenige Monate zuvor einen freireisenden Bäckergesellen ein Stück mit dem Auto mitgenommen und von ihm erfahren, dass nicht nur Zimmerleute auf die Walz gehen konnten. Selbst Instrumentenbauer*innen und Käser*innen, die jünger als dreißig Jahre alt waren und ihre Gesellenprüfung abgelegt hatten, waren mit von der Partie. Von diesem Moment an war der junge Mann aus Schleis nicht mehr zu halten: „Mein Vater hätte mich lieber ganz traditionell in einem Betrieb gesehen. Und mein damaliger Schweizer Arbeitgeber fand, dass die Idee völlig verrückt war“, erzählt Johannes.

Schlussendlich aber unterstützten ihn alle auf seiner etwas ungewöhnlichen Suche nach Abenteuern und Wissen. Dafür ist er dankbar. Denn auch wenn die Regeln der Walz sehr strikt und teilweise veraltet wirken, sind sie für Johannes eine Möglichkeit, die Welt aus einer Perspektive kennenzulernen, die heute viele jungen Menschen nicht mehr erleben: aus der nicht digitalen Sicht. Etwas, das der 26-Jährige auch allen anderen Südtiroler Handwerksgesell* innen ans Herz legen möchte. Johannes hat noch genau ein Jahr und einen Tag der Wanderschaft vor sich. Für alle Eventualitäten ist er mit seinem Schlafsack, seiner Schwimmhose und seinem Allzwecktaschenmesser gewappnet. Und – nicht zu vergessen – gut versteckt unter seinem Hut: mit jeder Menge Freiheit.