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Politik | Wir und unsere Nachbarn

Szenario X

Weil Reißbrett-Übungen zur Zeit scheinbar wieder erlaubt sind, erdreiste ich mir auch, eine Landkarte zu malen, die ein meines Erachtens durchaus denkbares Resultat unserer heutigen Politik sein könnte.

Südtirol ist etwas Besonderes, das hatten wir bereits. Es ist voll von Köpfen, Medien, Vereinen und Parteien, die es nur in Südtirol gibt, deren Welt sich nur um Südtirol dreht. Im bilateralen Interesse steht nur Rom und vielleicht Wien. Des Öfteren erklären uns die aufgeklärten Realisten, wie entfremdet wir uns von den Nord- und Osttiroler Nachbarn hätten. Ich kann zur Zeit täglich verfolgen, wie aktiv wir uns von den italienischen Noch-Provinzen (Trentino eingeschlossen) distanzieren. Die einen von uns liebäugeln mit dem Freistaat, die anderen mit der Autonomen Region Südtirol. Der Unterschied mag formal vielfältig sein, aber das Resultat ist dasselbe: wir isolieren uns. Irgendwie haben wir komplett den Blick auf unsere Nachbarschaft verloren.

Bellunos laute Schreie nach Autonomie werden von uns nicht gehört. Mangels physischer Masse werden Bellunos Träume wohl nicht in Erfüllung gehen. Die Ansprüche auf Autonomie der Region Trentino werden einer harten Prüfung standhalten müssen. Ergebnisoffen.

Es wäre absolut konsequent, wenn Trentino und Belluno sich zu einem Zweckbündnis zusammenfinden würden. Ich würde sogar vermuten, dass viele dies gar als Liebesehe empfänden. Trentino-Belluno, Regione Autonoma Dolomiti. Ein Hirngespinst, ein Szenario X, das jeglicher Quellenliteratur entbehrt. Trotzdem, lasst mich dieses Szenario X einmal als Gedankenübung in den Raum stellen. Lasst es auf uns wirken. Aus der Perspektive der Autonomen Region Südtirol, des Freistaats, der Euregio betrachten. Im Norden und Osten das „entfremdete“ Bundesland Tirol, im Süden die von uns geschmähten Möchte-gern-Verbündeten. Und mittendrin wir Bürger von Welt.

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pérvasion So., 14.07.2013 - 01:27

Ich glaube kaum, dass es sich für das Trentino lohnen könnte, sich mit Belluno zu verbünden, da es mit einer (heute) »normalen« Provinz kaum mehr Chancen hätte, seine Autonomie zu retten. Eher wird es sich für unsere südlichen Nachbarn und Euregio-Genossen lohnen, ihre zahlreichen Minderheiten (Fersentaler, Luserner, Ladiner...) für sich sprechen zu lassen, denn das ist es, was in einem Nationalstaat zu einer Sonderbehandlung berechtigt.

‘Belluno Autonoma Regione Dolomiti’ ist eine Bezeichnung, die von findigen Südtirolern (Alta Pusteria, Alta Val Gardena, Val Venosta...) stammen könnte, ein Marketinggag, der das Welterbe der Dolomiten für sich beansprucht, obwohl es allen gehört. Man kann sich aber keine Unterstützung von den Nachbarn erhoffen, wenn man ihnen gleichzeitig etwas wegnehmen will.

Übrigens: Anpezo, Col und Fodom haben sich vor nunmehr fast sechs Jahren (!) demokratisch für eine Wiedervereinigung mit Gherdëina und Badia ausgesprochen. Das solltest du in deiner Landkarte berücksichtigen.

So., 14.07.2013 - 01:27 Permalink
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Benno Kusstatscher Mo., 15.07.2013 - 09:56

Der Reihe:
warum sollte der Begriff “Regione Dolomiti” irgendjemand etwas wegnehmen? Der Begriff „Alpenrepublik Österreich“ impliziert ja auch in keinster Weise irgendeinen Alleinanspruch der Alpen zum Nachteil der Schweiz oder andere Länder! Ähnlich wie der selbstgegebene Titel „Dolomitenstadt Lienz“ geht es doch in erster Linie darum, Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit zu demonstrieren.
Mit den Minderheiten im Trentino triffst Du in Schwarze, nur sollten wir den Gedanken auch zu Ende denken: wenn das Trentino in seinen Autonomiebemühungen sich auf Minderheiten berufen muss, dann will Belluno in seinen Bestrebungen das natürlich auch. Die wären ja ganz schön blöd, wenn sie das ladinische Souramont in dieser Phase ziehen lassen würden. Joker verschenkt man nicht so eben mal. Zwar ist Montis Dekret hinfällig und den Provinzen geht’s generell an den Kragen, aber die entsprechende Logik hat sich in den Köpfen festgesetzt. Zum einen wurde auch unter Monti die Sonderstellung Bellunos (und auch Sondrios) nie ganz ignoriert.

http://archiviostorico.corriere.it/2012/ottobre/22/Belluno_Sondrio_fors…

Zum anderen hat die Montische Logik natürlich Spuren hinterlassen, in der hauptsächlich kleinen Provinzen (ob jetzt Fläche oder Einwohnerzahl) die Existenzberechtigung abgesprochen wird. Zwar liegt Belluno (laut Wikipedia) mit seinen 213 tausend Einwohnen weit unter Montis Schmerzgrenze von 350 tausend, aber die knapp 8000 Einwohner der ladinischen Täler bringen mit jenen, die Angliederung ans Trentino oder an den Cadore fordern, selbst eine 200 tausender Grenze ins Wackeln.

Es ist natürlich erlaubt, taktisch auf eine Implosion des Bellunos zu setzen, und mit jenen Gemeinden, die das sinkende Schiff verlassen wollen, Beitrittsverhandlungen zu führen. Es wäre aber auch erlaubt, Belluno als Einheit zu stärken, und das Thema Souramont in aller Freundschaft zu regeln. Sollte irgendjemand auf die Idee kommen, strategisch zu denken, dann ist es wohl selbstredend, dass ein starkes, zusammenhaltendes, möglichst autonomes Dolomitengebiet das anzustrebende Ziel ist. Diesen Weitblick vermisse ich leider bei sämtlichen mir bekannten politischen Kräften (und Blog Seiten) Südtirols.

Mo., 15.07.2013 - 09:56 Permalink
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pérvasion Mo., 15.07.2013 - 10:09

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Tut mir leid, hier geht es aber nicht um »Blödheit«, irgendwen ziehen zu lassen, sondern um (Basis-)Demokratie, Bürgerwunsch und Minderheitenschutz. Auch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen spricht übrigens davon, dass Minderheiten nicht durch administrative Grenzen zu spalten sind. Bezüglich sinkenden Schiffs: 2007, als das Referendum abgehalten wurde, war kein Sinken (kein Verschwinden der Provinzen) absehbar, die Ladiner können ja nichts dafür, dass in Italien alles Jahrzehnte dauert und das Schiff inzwischen sinkt. 2007 wie heute hatten die Ladiner in Souramont aber keinen angemessenen Schutz und wollten (auch) deshalb die Wiedervereinigung mit ihren Brüdern und Schwestern in Gherdëina, Badia und Fascia (deren Situation wesentlich besser, wenngleich ebenfalls noch bei weitem nicht ideal ist).

Mo., 15.07.2013 - 10:09 Permalink
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Benno Kusstatscher Mo., 15.07.2013 - 10:30

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Ich bezichtige die Bürger des Souramonts doch keiner Opportunität! Sie sind mir genauso willkommen wie Dir, auch wenn ich auf die Art des bisherigen "Willkommenheißens" seitens des offiziellen Südtirols nicht gerade stolz bin. (Nochmehr missfällt mir die Behandlung durch das offizielle Belluno, keine Frage) Das Sinken des Schiffs wird je nach Ausgang aber natürlich weitere anstehende Referenden beeinflussen.
Das mit den Brüdern und Schwestern hast Du schön gesagt. Da sind wir uns ja scheinbar einig. Nur dreht sich mein Gedankenhorizont auch um die Großfamilie, über die zu diskutieren ich einladen möchte. Seit 2007 hat sich einiges geändert, dessen Potential wir wohl nicht richtig erfasst haben.

Mo., 15.07.2013 - 10:30 Permalink
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Benno Kusstatscher Di., 16.07.2013 - 12:01

Eine ausführliche Zusammenfassung der Bestrebungen und Argumente der Bellunser Autonomisten findet man hier:
http://www.bellunopress.it/a-come-autonomia/
@pèrvasion:
Im Abschnitt "specificità linguistica" findest Du genau jene Argumentationskette, die denen der Trentiner nicht unähnlich sein dürfte. Die verwässerte Auslegung des Ladinertums zeigt sicherlich jene Art von Instrumentalisierung, die Du richtigerweise beklagst. Gerade dies scheint mir aber ein Argument zu sein, dass wir Belluno stärken sollten, anstatt sie zum Teufel zu schicken. Eine Autonomie kann es sich leisten, eine lokale Minderheit zu schützen oder evtl. auch abzutreten. Eine untergehende Provinz hat ganz andere Sorgen...

Di., 16.07.2013 - 12:01 Permalink
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pérvasion Di., 16.07.2013 - 12:14

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Es geht nicht um's »Leisten«... Demokratie kann man sich immer leisten und die dortige Bevölkerung hat sich klar und unmissverständlich geäußert. Außerdem hatte Belluno Jahrzehnte lang Zeit, sich für die Ladiner einzusetzen; als nicht autonomes Land sind die Möglichkeiten freilich beschränkt, doch es wurde gar nicht versucht. Im Gegenteil: Als das Minderheitenschutzgesetz 482/99 eingeführt wurde, wurde akzeptiert, dass sich auch nichtladinische Gemeinden als ladinisch erklärten, um in den Genuss von Geldern zu kommen, die ihnen nicht zustanden.

Di., 16.07.2013 - 12:14 Permalink
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Benno Kusstatscher Di., 16.07.2013 - 14:55

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Einverstanden. Nur, was leitest Du daraus ab? (Sorry, es klingt für mich so, als ob Du etwas ableiten würdest, bitte korrigiere mich notfalls.) Seit Peter Kaiser haben wir die Kärntner ja auch wieder lieb und werden ihnen nicht ewig den schäbigen Umgang mit den Slowenen im Land vorwerfen. Mit nachtragend sein und Türen zuzuschlagen, wäre der kalte Krieg auch nicht überwunden worden. Mit dem Belluno zusammenzuarbeiten, heißt ja nicht, den Transfer der drei ladinischen Gemeinden zu Südtirol verhindern zu wollen. Im Gegenteil, das bietet sich vielleicht ein eleganter Deal an.

Di., 16.07.2013 - 14:55 Permalink
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Christian Mair Do., 04.08.2016 - 15:45

"Auch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen spricht übrigens davon, dass Minderheiten nicht durch administrative Grenzen zu spalten sind. " (pervasion)

Wenn dieser Grundsatz ernst genommen wird, kann die Region Trentino-Südtirol nicht aufgelöst werden bzw. muss ein eigener Kanton Ladinien gebildet werden.

Ich stimme B. Kusstatscher zu. Südtirol beschäftigt und isoliert sich selbst. Wesentlich mehr Öffnung zu allen Nachbarregionen, wie auch immer deren Grenzen verlaufen, kann dazu beitragen nationalistische Töne zu überwinden. Denn eigentlich sollte ja genau das "unsere" Stärke sein.

Do., 04.08.2016 - 15:45 Permalink