Gesellschaft | Bozner Gestalttage

Heilung durch Gestalttherapie

Interview mit Prof. Dr. med., Dipl. Psych. Lotte Hartmann-Kottek über den Psychotherapieansatz der Gestalttherapie.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Lotte Hartmann-Kottek ist Fachärztin für Innere Medizin, Neurologie und Psychiatrie, Psychosomatische Medizin, Psychologische Psychotherapeutin, Lehr-Gestalttherapeutin, sowie Professorin für Psychotherapie-Wissenschaften an der SFU in Wien. Sie gilt als „Grande Dame“ der Gestalttherapie und hat mehrere Werke zum Thema veröffentlicht, darunter ihr bekanntes Lehrbuch „Gestalttherapie“. Im Rahmen der Bozner Gestalttage vom 14.-15. Oktober, wird sie am Freitag um 20 Uhr in der Bonvicini-Klinik einen Vortrag halten, sowie am Samstag einen ganztätigen Workshop anbieten.

Können Sie mir kurz erklären, was genau die Gestalttherapie ist, worum es darin geht?

Gestalttherapie ist ein universeller Psychotherapie-Ansatz: er vereinigt alle Prinzipien der gängigen Psychotherapie-Konzepte: die der psychodynamischen, die der lerntheoretisch begründeten Verhaltenstherapie, und dem systemischen Ansatz. Die Gestalttherapie zeichnet sich durch ihre achtsam beziehungs- und erlebnis-orientierte, dialogische, experimentierfreudige sowie vor allem auch durch ihre prozessorientierte Vorgehensweise aus. Sie vermag dabei in kürzester Zeit einen Zugang zum inneren Zentralkonflikt zu finden. Das therapeutische Ziel ist es, dem Menschen zu helfen sich zu entfalten und sich achtsamer mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen. Es geht um Reifung und Differenzierung im Kontakt nach innen und außen.

Es gibt verschiedene Methoden der Gestalttherapie. Können Sie mir einige wichtige nennen und vielleicht schon verraten, worauf der Fokus im Workshop liegen wird?

Der gestalttherapeutische Mainstream verhält sich zwar heutzutage weiterhin erlebnisorientiert, körpersprachen-verständlich, kreativ, existentiell interessiert und dialog- wie experimentierfreudig, hat sich aber gegenüber den relativ ausdrucks-starken 60/70-Jahren stilistisch zu einer subtileren und betont beziehungs-orientierten Form hin ausdifferenziert. Im Workshop stehen uns - wie stets in der Gestalttherapie -  verschiedene kreative Ausdruckstechniken, Rollenspiele, Skulpturen, Phantasie-Experimente, Bewegungs- und Körperwahrnehmungs-Übungen, Aufstellungen etc. zur Verfügung. Der Prozess entscheidet, welche Technik sinnvoll erscheint und gewählt wird. Bei näherem Hinsehen gibt es auch feine, nationale Ausprägungsformen. Die italienische Gestalttherapie hat u.a. auch  stark die Seite der „relationalen Gestalttherapie“ entwickelt, die zum Austausch öfters die Kollegen der  „relationalen Psychoanalyse“ einlädt. Den italienischen Gastgebern des grandiosen  Weltkongresses für Gestalttherapie in Taormina/Hilton im September 2016 mit über tausend Gestalttherapeuten aus allen Kontinenten gebührt allerhöchstes Lob.

Was genau wird durch diese Therapie geheilt? Für welche Menschen mit welchen Leiden ist sie denn geeignet?

Man muss anders herum fragen, denn sie ist eine facettenreiche, universelle Psychotherapieform. Wenn ein Gestalt-Therapeut umfassend und voll ausgebildet ist, gibt es keine Behandlungsgrenzen. Die Gestalttherapie insgesamt umfasst sowohl Krankheitsbilder, die durch unbewusste Konflikte hervorgerufen worden sind, wie auch durch Mangelerfahrung, Traumata oder primäre Strukturschwäche der Persönlichkeit. Sie wirkt in allen Altersstufen.

Sie haben jahrelang in einer Psychiatrie gearbeitet. Wie war dort ihre Erfahrung mit den Patienten dieser Gestalttherapie? Ist sie wirksamer als herkömmliche Methoden wie etwa die Psychoanalyse? Was ist das Herausragende im Vergleich zu anderen Therapien?

Gestalttherapie liegt in den internationalen, wissenschaftlichen Übersichtswerken zur Wirksamkeit weltweit an der Spitze, also deutlich über der Verhaltenstherapie und noch deutlicher über der Psychoanalyse sowie über der von ihr abgeleiteten Tiefenpsychologie. Für die Behandlung psychose-naher Menschen braucht es beim Therapeuten das spezielle Verständnis für Persönlichkeitsbildung und das Behandlungswissen, das sich von der gestalttherapeutischen Krisenintervention  ableitet. Die therapeutische Beziehung braucht ein sehr gutes Fingerspitzengefühl für Nähe und Distanz bei emotionaler Klarheit. Das Umfeld muss dabei so eingerichtet sein, dass es Reize abschirmt, sowie Ordnung und Überschaubarkeit bietet. Um die Rückfallquote zu vermindern ist es von Vorteil, wenn man mit den betreffenden Patienten kooperiert und sie zusätzlich darin schult, Anzeichen von innerem Gleichgewichtsverlust zu erkennen und wenn man einübt, ihm entgegenzusteuern z.B. das richtige Maß für den Schlaf-Wach-Rhythmus zu finden oder für den Bedarf an Nähe und Distanz. Wenn diese unterstützende Mitregulierung gelingt, kann die Begleitmedikation eindrucksvoll gesenkt werden.

In der Gestalttherapie geht es sowohl um Körper als auch um den Geist. Sehen sie diese als zwei getrennte Elemente? Oder ist unser Fühlen und Denken nur eine chemische Reaktion unseres Gehirns?

Die chemischen Reaktionen sind nicht Ursache, sondern sind eingebunden in die Wechselwirkung zwischen der Physiologie des Körpers, den emotionalen Reaktionen und verschiedenen geistigen Einflüssen. Die Arbeit mit Emotionen sind in der Psychotherapie verbreitet, sind aber ganz speziell für die Gestalttherapie der Dreh- und Angelpunkt für die Veränderungsarbeit. Gestalttherapie fokussiert auf  Gefühle.

Die Gestalttherapie arbeitet viel mit Selbstheilungskräften. Wie viel körperliches Leiden ist Ihrer Meinung nach psychischen Ursprungs. Und wie groß ist unser psychischer Einfluss auf unseren Körper.

Selbstheilungskräfte werden nebenbei im Heilungsprozess aktiviert, vor allem wenn, sich der Patient in einem neuem Licht sehen lernt, heilsame, korrigierende Erfahrungen ganzheitlich erlebt, zu seinem bislang blockierten Potential in Kontakt kommt und dabei seine Identität verändert.  Die Frage nach dem Leib-Seele Zusammenhang ist sehr groß angelegt; ein Arzt für Psychosomatik wird ihn aus seinem Erfahrungshintergrund natürlich deutlich anders und größer einschätzen als einer aus den operativen Fächern, der sich einem anderen Blickwinkel verschrieben hat. Aber sie werden sich darauf einigen können, dass es eine psychosomatische Verbindung von Körper, Seele und Geist gibt und dass sie bei verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist und erlebt wird.

Die Gestalttherapie enthält auch philosophische/spirituelle Elemente. Finden sie es als Ärztin und somit Naturwissenschaftlerin schwer, solches Gedankengut zu akzeptieren und mit dem fachärztlichen Pragmatismus zu vereinen?

Mir scheint, dass Sie mit dieser Frage ein Vorurteil gegen Ärzte bedienen, das – zumindest nicht zu meiner Realität passt. Bei mir zuhause läuft seit vielen Jahren ein Arbeitskreis „Psychotherapie und Spiritualität“, an dem vor allem interessierte Ärzte teilnehmen und in dem es um Sinnkrisen, Selbstmordgefährdung, Sterbebegleitung, Jenseitsvorstellungen aller Kulturen, Nahtodforschung, das Weltbild der Neuen Physik, bzw. Quantentheorie etc. geht.

In Ihrem Workshop Selbst-Skulptur wollen Sie die Menschen Ihrem Selbst näher bringen. Warum fällt das eigentlich so vielen Menschen schwer? Was sind die größten Hindernisse in unserem Weg zu uns Selbst? Und wie schafft man es, sich selbst zu nähern?

Es ist unterschiedlich, ob es Mühe macht, über den inneren Kontakt, Strukturen zu finden, die den Einzelnen geprägt haben und ihn noch weiter steuern. Manchmal schaffen wir das auch relativ spielerisch. Das will ich im Kurs versuchen. Natürlich stoßen wir dabei gelegentlich auch auf Strukturen, die früher einmal für das „Überleben“ nützlich gewesen waren - aber inzwischen zu Selbstläufern und zu „Gefängnissen“ geworden sind. Auch Schambesetztes kann auftauchen. Mancher „Krieg“ ist verinnerlicht worden und setzt sich intrapsychisch fort. Der Wunsch nach Selbstannahme kann nach innen hin teilweise blind machen, wenn Realität und Wunschbild zu sehr auseinanderklaffen. Und es ist gar nicht immer so leicht, alte Überzeugungen zu überprüfen, zu verändern oder sie gar loszulassen – und zu einer stimmigeren, inneren Neuordnung zu gelangen. Aber solch ein „Abenteuer“ lohnt sich.

Wie wichtig ist das Umfeld auf unsere Psyche? Traumatische Erlebnisse sind ja schwer durch die Kraft der Gedanken einfach zu leugnen. Sind solche materiellen Dinge nicht ausschlaggebender für unser seelisches Befinden?

Es geht nicht darum, irgendetwas zu verleugnen oder mit Wunschphantasien zu überdecken. Psychotherapeutisches Verarbeiten ist das Gegenteil von Leugnen. Manchmal geht es zusätzlich darum, Ressourcen zu aktivieren und manchmal auch um den Versuch, Traumata sinnvoll in den Lebenskontext einzuordnen. Und natürlich stehen wir ständig im Austausch mit der Umwelt. Das ist unsere Chance für eine realitätsbezogene Entwicklung.

Der Mensch lebt aber nicht allein mit sich selbst, sondern ist ein soziales Wesen. Welche Rolle spielt der Mitmensch in der Gestalttherapie?

Einer der geistigen Väter, den die Gestalttherapie adoptiert hat, ist der chassidische Religionsphilosoph Martin Buber. Viele Menschen kennen sein berühmtestes Buch, „Ich und Du“ („I and Thou“), von 1923. Er unterscheidet die akzeptierende Ich-und-Du-Beziehungsebene, die bei Buber auf den Kern jeden Wesens gerichtet ist, von der sachlichen „Ich-Es“-Ebene, die eine ebenfalls wichtige, aber keine beherrschende Funktion haben sollte. Die therapeutische Beziehungskultur der Gestalttherapie hat sich daraus entwickelt und wurde dadurch quasi zum „Hohen Lied“ der Mitmenschlichkeit.