Kultur | SALTO WEEKEND

PortoM

PortoM – so nennt sich ein unscheinbarer „Hafen“, welcher seit Anfang des Jahres 2014 auf Lampedusa zugänglich ist.
Lampedusa
Foto: Salto.bz

Bei PortoM handelt sich um ein paar schlichte Räumlichkeiten im Ortsgebiet der Insel, wo – im Zeichen des Buchstabens M – verschiedene Gegenstände ausgestellt werden, die von Mitgliedern eines lokalen Kollektivs namens Askavusa (sizilianisch für „barfuß“) auf einer Deponie der Insel entdeckt und eingesammelt worden sind: Papierfetzen, zerrissene Kleidungsstücke, vergilbte Fotografien, alte Schwimmwesten, ramponierte Devotionalien, rostige Küchenutensilien, Schiffsplanken und vieles andere mehr, was als bruchstückhafte Erinnerungen an mediterrane Passagen Gefahr läuft, als Ramsch beseitigt zu werden und vollends in Vergessenheit zu geraten. Wie Giacomo Sferlazzo, einer der Initiatoren von Askavusa in seiner Reflexion der Geschichte von PortoM schildert (siehe Collettivo Askavusa 2014), war es seine Leidenschaft für Müll (spazzatura), ja, für Abfall (scarto), welche ihn immer wieder in die Nähe von Deponien gebracht hat. So war es auch eines Tages im Jahr 2009, als er neben dem ehemaligen Centro di permanenza temporanea ed assistenza eine Abraumhalde mit Stapeln von demolierten Seelenverkäufern fand, die einst, als sie noch mehr oder weniger seetüchtig waren, für riskante Überfahrten nach Lampedusa verwendet wurden, mittlerweile aber auf ihre letzte Reise nach Porto Empedocle, Sizilien, warteten, um dort vernichtet zu werden. Zwischen diesen „Wellen aus Holz“, wie er sie in seiner Reflexion nennt, fiel Sferlazzo ein sorgfältig verschlossenes Paket auf, das, wie sich nach seiner Öffnung herausstellte, Fotos, Briefe und religiöse Texte von Menschen enthielt, von denen nicht bekannt ist, was mit ihnen bis dahin und weiter geschah. Wie bereits einige Jahre zuvor, als er zum ersten Mal solche Überreste fand, handelte es sich auch in diesem Fall um einen bewegenden Moment, der sich laut Sferlazzo „wie das Erlernen eines neuen Alphabets, einer stummen und regellosen Sprache [übersetzt von A.O.]“ (ibid.) anfühlte.

Im Sinne dieser intensiven Erfahrung mit bruchstückhaften Erinnerungen an mediterrane Passagen und infolge der wiederholten Demonstrationen gegen das Maroni-Dekret sowie gegen den Versuch, auf Lampedusa ein Centro di identificazione ed espulsione einzurichten und die Insel in eine befestigte Sperrzone zu verwandeln, beschlossen Sferlazzo und andere Mitglieder von Askavusa, die Deponie in der via Imbriacola wiederholt zu erkunden, um so einen Haufen von Gegenständen, die zwischen den Bootstrümmern verstreut herumlagen, zu bergen und vor ihrer Entsorgung zu bewahren. Die „Hypothese eines Museums“ (ibid.), mit der sich Askavusa für einige Zeit befasst hatte, um den Gegenständen einen ansprechenden Rahmen für eine Ausstellung zu bieten, wurde nicht zuletzt deshalb verworfen, weil sich schon bald herausstellte, dass die regionale Politik ein gewisses Interesse daran hatte, so ein Museum zu vereinnahmen und selbstgefällig umzubauen, um es den Medien und der Tourismusindustrie als ein kulturelles Wahrzeichen der Insel zu verkaufen. In diesem korrupten Umfeld wurde vom Kollektiv Askavusa also der Gedanke geboren, ohne offizielle Förderungen etwas anderes, etwas Behutsameres zu wagen: PortoM als eine klandestine Hafenanlage, wo anhand einer Ausstellung von geborgenen Gegenständen – deren Herkunft ungewiss ist und die folglich auch irgendwie fehl am Platz, sprich: deplatziert erscheinen mögen – unverbindlich dazu eingeladen wird, die mediterrane Umgebung als einen relativ unbekannten Zwischenraum zu erkunden, wo sich Mobilitäten, Militarisierung und Memoiren vermischen, ja, kontaminieren und trotz der Gewalt, die ständig mit im Spiel ist, auch Ermutigendes in Entstehung begriffen ist. Wie die Verantwortlichen von PortoM erklären, hat ihre Wahl, Gegenstände aus der Deponie zu entnehmen und zu erhalten (aber nicht zu restaurieren oder zu etikettieren), vor allem damit zu tun, dass diese materialen Überreste mediterraner Passagen eine gespenstische Lebendigkeit zum Ausdruck bringen, ohne jedoch eine Botschaft parat zu halten, welche sich eventuell ausbuchstabieren ließe. Es ist vielmehr ihre Stummheit, die solche Gegenstände zu ausgezeichneten Zeugnissen macht, wie das Kollektiv Askavusa suggeriert:

Von den Gegenständen [all der Menschen, die mittlerweile spurlos ‚verschwunden’ sind, A.O.] erwartet man gemeinhin, dass sie über eine Stimme verfügen, dass sie zu reden vermögen oder, besser, dass sie besprochen werden, dass sie die Mittel der eigenen Stimme sind, der eigenen Gedanken, der eigenen Methode, der eigenen Kultur. Mit so einem Verfahren möchte man den Gegenstand also verpacken, ihm nicht bloß eine Stimme, sondern auch gleich eine Botschaft geben. Doch der Gegenstand spricht, indem er stumm bleibt, er übermittelt unübersetzbare Botschaften, was ständig Anlass für Missverständnisse bietet. Auch hier finden ständige Auswahlen statt. Auch hier fehlt immer etwas. Diese Fallen sind überall und beim ersten falschen Schritt schnappen sie zu. Damit wollen wir nicht sagen, dass es falsch wäre, Gegenstände zu studieren, sie zu identifizieren und ihnen einen neuen Namen zu geben. Wir wissen nicht, was richtig und was falsch ist. Wir wissen nicht, was andere zu tun haben. [...] Wir suchen lediglich den Weg, der uns in jene Deponie gebracht hat [Übersetzt von A.O.].“ (Ibid.)

PortoM eröffnet also so etwas wie ein prekäres Itinerar, das im Schatten bedrohlicher Grenzanlagen und einer fürchterlichen Ökonomie der Bilder dazu einlädt, diverse Routen einzuschlagen zwischen beschädigten Gegenständen, die einst Menschen gehörten, deren Spuren sich mittlerweile verloren haben. Was bleibt, sind fragile Zeugnisse von Lebensgeschichten, die sich auf Lampedusa miteinander verknüpfen und gerade in Anbetracht ihrer wahrnehmbaren Zerbrechlichkeit als ungemein lebendig erweisen. Es handelt sich um Zeugnisse, die einerseits verschiedene Zeiten und Räume queren und andererseits in PortoM so arrangiert werden, dass sich Profanes und Sakrales bzw. Intimes und Banales miteinander vermengt, um eine bewegte Erfahrung zu ermöglichen, welche sich nicht an einer konventionellen Aufteilung des Sinnlichen orientiert, sondern Verdrängtes – etwa die Gewalt imperialistischer Unternehmungen, die von den Gegenständen in Erinnerung gerufen wird – exponiert und somit Fragen aufdrängt.

Was bleibt, sind fragile Zeugnisse von Lebensgeschichten, die sich auf Lampedusa miteinander verknüpfen und gerade in Anbetracht ihrer wahrnehmbaren Zerbrechlichkeit als ungemein lebendig erweisen.

Die verschiedenen Gegenstände, welche von Sferlazzo und einigen anderen Mitgliedern von Askavusa während ihrer wiederholten Begehungen der lokalen Deponie aufgelesen und ins PortoM gebracht wurden, sind allesamt Zeugnisse von alltäglichen Lebensgeschichten, die sich einer definitiven Inventarisierung entziehen und deren Verletzbarkeit sich bereits in der Brüchigkeit der einzelnen Exponate reflektiert. Sie bezeugen keine spezielle Geschichte, sondern, wennschon, beliebig viele, ohne dass sich diese aus dem „Zusammenhang des Lebens“ gerissenen Gegenstände wieder zu einem übergeordneten historischen Narrativ vereinigen und abschließend bestimmen ließen. Vielmehr werden die Exponate in PortoM so arrangiert, dass jener geschichtsmächtige Zeitraum, welcher in etwa der Vorstellung einer bürgerlichen Gesellschaft entspricht und gerne mit einer progressiven Vision von Moderne in Verbindung gebracht wird, in dem Maße aus den Fugen gerät, wie er mit Momentaufnahmen aus dem Leben von Menschen konfrontiert wird, denen generell abgesprochen wird, über so etwas wie ein Leben zu verfügen, das es wert wäre, erinnert zu werden, sprich: über eine Biographie, die zählt. Es ist also gerade die verletzbare Alltäglichkeit der diversen Exponate sowie ihre unautorisierte und undokumentierte Intrusion in Räumlichkeiten, die ein wenig an ein Museum erinnern, aber keines sind, welche konventionelle Vorstellungen von Zugehörigkeit, Geschichte und Erinnerung irritieren und zugleich Chancen eröffnen, eine Sensibilität anzuregen, welche die Brüchigkeit des zwischenmenschlichen Miteinanders respektiert, ohne sie zu kapitalisieren.

Initiativen wie PortoM, die von desaströsen gesellschaftlichen Verhältnissen in Grenzzonen zeugen, illustrieren, dass das gegenwärtige Regierungsprogramm kein verhängnisvolles Schicksal ist. Die Sensibilität, mit der in diesem Fall alltägliche Gegenstände von Menschen, deren Spuren sich am Rande der bürgerlichen Gesellschaft zu verlieren scheinen, aufgelesen und vor der Entsorgung bewahrt werden, um mittels einer Exposition von verdrängten Erinnerungen konventionelle Narrative außer Kraft zu setzen, ist insofern ermutigend, als sie exemplarisch veranschaulicht, dass demokratische Umbrüche in diffizilen Situationen stattzufinden vermögen. Es handelt sich um Umbrüche, die nicht unbedingt sensationell anmuten müssen. Häufig sind es gerade alltägliche Interventionen im „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, welche einen bleibenden Eindruck hinterlassen und, wer weiß, einen unvermuteten demokratischen Aufbruch vorbereiten, für den es im Moment noch kein Gesetz gibt.