Gesellschaft | Mathematik

Tür zur Wissenschaft von schönen Mustern

Auch wenn es viele Erwachsene anders erlebt haben: Mathematik kann Freude bereiten. Über die damit verbundene didaktische Herausforderung schreibt Michael Gaidoschik.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Prof. Michael Gaidoschik
Foto: unibz

Mathematische Bildung in Kindergarten und Grundschule - Die Tür zur „Wissenschaft von schönen Mustern“ öffnen

 

Neuankömmlinge werden oft gefragt, woher sie kommen und was sie treiben. Ich bin neu in Südtirol, seit Oktober Professor für Didaktik der Mathematik im Primarbereich an der Freien Universität Bozen, arbeite und lebe in Brixen, Sitz der Fakultät für Bildungswissenschaften. Und werde in letzter Zeit eben immer wieder gefragt, was ich hier treibe.

Ich erkläre dann etwa: Ich versuche künftigen Fachkräften in Kindergarten und Grundschule zu vermitteln, wie sie Kinder beim Lernen von Mathematik unterstützen können.

Damit ernte ich im Wesentlichen zwei Reaktionen: „Oje, Mathematik, das ist nicht meins!“ Und: „Hilfe in Mathematik, die hätte ich früher auch gebraucht!“

Mathematik hat einen schweren Stand – nicht nur in Südtirol. Sie gilt als Angstfach, sorgt durch Hausübungen und Noten in vielen Familien immer wieder für Enttäuschung, Ärger, Streit und Tränen, garantiert Nachfrage am Nachhilfemarkt.

Und dann gibt es die Mathematiker, die von der Schönheit ihrer Disziplin schwärmen! Wie passt das zusammen? Und was könnte getan werden, damit diese Schönheit auch für Kinder erlebbar und Mathematik beliebter wird, zumindest ihren Schrecken verliert?

Ich weiß darauf keine einfache Antwort, auch keine originelle; tatsächlich eher nur eine Richtung. Ich will diese im Folgenden kurz erläutern. Da ich in meinen wenigen Wochen hier im Lande feststellen durfte, dass viele PädagogInnen längst in dieser Richtung unterwegs sind, möchte ich den Beitrag auch nutzen, um zwei Einladungen auszusprechen. Zunächst aber zum Weg, auf dem wir weitergehen sollten.

 

Mathematik ist das Tor zu den Naturwissenschaften…

… und dieses Tor ist so eng und schmal, dass man nur als kleines Kind hineinkommen kann, meinte vor gut 150 Jahren der englische Mathematiker Clifford. Fachdidaktische Forschung und die Erfahrungen vieler Fachkräfte im Kindergarten sagen uns: Als kleines Kind geht man auch freudig und neugierig durch dieses Tor. Wir Erwachsenen müssen es nur öffnen!

In Südtirol gibt es dafür mit der breiten Berücksichtigung mathematischer Bildung in den Rahmenrichtlinien für den Kindergarten die besten Grundlagen. Als Österreicher kann ich diese Richtlinien meinen Landsleuten nur zur Nachahmung empfehlen. Als Fachdidaktiker weiß ich zugleich, wie anspruchsvoll es ist, sie umzusetzen.

Worum geht es dabei? Natürlich nicht um das Zerrbild von Mathematik, das leider viele Erwachsene aus ihrer Schulzeit mitgenommen haben: Mathematik als eine Anhäufung von Regeln, die zu verstehen nur wenigen Auserwählten bestimmt ist; als ein freudloses Üben, wie diese Regeln anzuwenden sind, in Form von elend langen Zeichenfolgen ohne weiteren Sinn und Bedeutung.

 

Verstehen als Grundlage für Freiheit

Die Mathematik, um die es schon im Kindergarten gehen und die auch die Schule bestimmen sollte, ist kein totes Wissen, sondern lebendiges Tun. Der Inhalt dieses Tuns ist nicht das Befolgen von unverstandenen Vorschriften, sondern der Drang zu verstehen, zu begründen, zu beweisen – und damit Freiheit zu gewinnen, denn: „Das Wesen der Mathematik liegt in ihrer Freiheit“ (Cantor).

All das bezieht sich freilich auf eine bestimmte Sorte von Inhalten. In der Fachdidaktik hat sich durchgesetzt, diese als „schöne und nützliche Muster und Strukturen“ zu umschreiben. Damit ist auch klar, dass es um weit mehr geht als um Zahlen – und um diese nur insofern, als sich Muster auch in Zahlen zeigen und mit Zahlen abbilden lassen. Strukturen, regelmäßige Abfolgen in Natur, Klima, Ökonomie… erschließen sich der Menschheit nur, weil uns die Mathematik als Instrument zur Verfügung steht. Und diese konnte sich nur deshalb so hoch entwickeln, weil Mathematiker auch ohne Hintergedanken an Anwendungsmöglichkeiten Mustern nachforschen, die in Zahlen, geometrischen Formen, funktionalen Zusammenhängen… stecken und auf Entdeckung warten.

Das klingt weit abgehoben von Kindergarten und Schule. Und ist es zum einen natürlich auch: Die Mathematik hat sich über Jahrtausende zu der hochspezialisierten Disziplin entwickelt, die heute die Konstruktion von Smartphones, Flugzeugen und, ob einem das gefällt oder nicht, auch Börsenalgorithmen ermöglicht. Es ist klar, dass selbst die Oberschule auf diese Wissenschaft bestenfalls vorbereiten kann.

Was aber schon im Kindergarten erfahrbar ist, was in Grund-, Mittel- und Oberschule weiterentwickelt werden kann und, wenn das geschieht, auch die Chance erhöht, dass mehr Jugendliche als heute Mathematik und Naturwissenschaften tatsächlich studieren wollen, ist die Grundhaltung der Mathematik als Tätigkeit: Strukturen als interessante Phänomene wahrzunehmen, sie systematisch zu erforschen, verstehen zu wollen, damit zu spielen, die Muster weiter zu entwickeln, zu variieren…

 

Ein Beispiel aus dem Kindergartenalltag

Wenn ein Kind ein Klatschbild anfertigt, wird es dieses in der Regel als schön empfinden und gerne weitere Versuche in dieser Richtung anstellen. In den Bildern steckt Symmetrie. Dieses Muster zu verstehen, heißt zu erkennen, dass dort, wo das Blatt gefaltet wurde, eine Symmetrieachse entsteht (die muss im Kindergarten noch nicht so heißen); dass sich zu jedem Farbklecks auf der einen Seite ein entsprechender auf der anderen Seite findet; dass der linke Klecks stets denselben Abstand von der Faltachse hat wie der rechte…. Auf Grundlage solcher Einsichten gewinnt das Kind auch die Freiheit, solche schönen Gebilde nicht nur durch Klatschen und Falten, sondern auch durch Zeichnen selbst herzustellen…

Freilich, und das ist die große Herausforderung für pädagogische Fachkräfte: Mit dem Herstellen von Klatschbildern ist die Mathematik nicht fertig, sondern damit könnte sie anfangen – dann, wenn das Kind den nächsten Schritt macht und dem entstandenen Muster auf die Spur zu kommen versucht. Viele Kinder tun das von sich aus, andere werden es mit ein wenig Anregung gerne tun. Viele würden dann gerne weitermachen, brauchen dafür vielleicht aber weitere Anregungen, Aufgabenstellungen, Materialangebote. Dies zu erkennen, umzusetzen und dabei je nach Kind das rechte Maß zu finden; das Entdecken zu unterstützen, ohne die Entdeckerfreude zu gefährden: das erfordert hohe pädagogische, aber eben auch hohe fachdidaktische Kompetenz.

 

Neue Wege in der frühen mathematischen Bildung: Eine fachdidaktische Herausforderung

Das gilt ebenso für die professionelle Begleitung mathematischen Lernens in der Schule. Im Bereich Grundschule, für den ich in der Ausbildung in Brixen neben dem Kindergarten verantwortlich bin, hat es in der Fachdidaktik in den letzten dreißig Jahren große Veränderungen gegeben. Heute verfügen wir über eine Fülle von erprobten Anregungen für einen Unterricht, in dem Kinder im skizzierten Sinn mathematisch tätig werden, dabei den Reiz des Bearbeitens mathematischer Probleme erfahren – und gerade dadurch auch mit Verständnis rechnen lernen, eine geometrische Grundbildung erfahren und sich die Inhalte aneignen, die als Vorbereitung auf weiterführende Schulen wünschenswert sind.

Ich vermag noch nicht zu beurteilen, wie weit solche Konzepte den Schulalltag in Südtirol bereits bestimmen. Ich weiß aber aufgrund langjähriger Zusammenarbeit mit Lehrkräften in Österreich recht gut, wie schwer es ist, sie umzusetzen. Deshalb die beiden angekündigten Einladungen.

Einladung eins ist allgemein gehalten und muss mit einer Einschränkung versehen werden: Ich lade forschungsinteressierte Fachkräfte aus Kindergarten und Primarstufe zur Zusammenarbeit ein. Fachdidaktische Forschung, wie ich sie an der Universität Bozen aufbauen möchte, ist auf die Mitarbeit von PraktikerInnen angewiesen, die im Sinne der hier skizzierten Ausrichtung Neues erproben wollen. Das ist mit zeitlichem Aufwand verbunden, auch mit der Bereitschaft, sich bei der Arbeit beobachten, befragen zu lassen – alles andere als selbstverständlich. Umso mehr würde ich mich über – natürlich unverbindliche – Interessensbekundungen an [email protected] freuen. Die leider notwendige Einschränkung: Projekte haben einen langen Vorlauf, organisatorische Notwendigkeiten sind zu beachten, Ressourcen sind begrenzt...

Einladung zwei ist konkreter und ohne Einschränkung: Im Oktober 2017 wird es an der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen erstmals den BRIMA PRIMAR geben – den Brixener Mathematiktag für den Primarbereich. Geplant sind praxisnahe Vorträge und Workshops, die kräftige Impulse für die mathematische Bildung in Kindergarten und Grundschule geben sollen. In Kooperation mit dem Schulamt wird der Tag auch dafür genutzt werden, um über weiterführende Fortbildungsangebote zu informieren. Der Schwerpunkt des ersten BRIMA PRIMAR liegt ganz bewusst auf Kindergarten und dem Einstieg in die Grundschule. Näheres demnächst in der Fortbildungsbroschüre des Schulamtes!

 

Sämtliche INFOs sind auf www.schule.suedtirol.it/Lasis/r2.htm einsehbar und abrufbar.