Kultur | Europa

europa im gespräch

Ein Zwiegespräch am Frühstückstisch
Der Raub der Europa
Foto: commons.wikimedia.org

Anlässlich des Europatages haben der Südtiroler Landtag und der Südtiroler Künstlerbund einen Literaturwettbewerb ausgeschrieben. Zugelassen waren unveröffentlichte Texte aller literarischen Gattungen, in einer der drei Landessprachen (Deutsch, Italienisch, Ladinisch). salto.bz veröffentlicht die drei Siegertexte, die diese Woche zu Beginn der Sitzungen des Landtags von den Autoren in der Aula vorgelesen werden. Nadia Rungger, 22 Jahre alt, führt in “europa im gespräch” ein Zwiegespräch mit Europa.

 


 

wir sitzen an einem schön gedeckten frühstückstisch. meine gesprächspartnerin streicht die servietten glatt. ostereier sind darauf zu sehen, dazwischen leuchten ein paar narzissen hervor. 

sie gehen mit der zeit, bemerke ich. 

sie lächelt. die falten um ihre augenwinkel verleihen dem gesicht etwas sanftes, der blick ist forsch und erfreut. ich scheine sie zu amüsieren. 

mit narzissen kenne ich mich aus, sagt sie (und mit narzissten), aber viele bräuche habe ich erst spät kennengelernt. eier färben! seit ein paar jahren mache ich das auch, es gefällt mir. 

sie machen einen glücklichen eindruck auf mich (ich weiß selbst nicht, warum ich es sage) und europa antwortet: tatsächlich sagte mir mein horoskop heute: kein wölkchen trübt ihren  himmel. sie gehen entspannt durch jeden tag dieser woche. 

ach – sage ich, schön. 

aber in einer anderen zeitschrift hieß es, wieder bei meinem sternzeichen: sie fühlen sich zutiefst verletzt von einem guten freund. überlegen sie sich aber zunächst, inwieweit sie selbst  an der situation schuld haben, anstatt zu resignieren. verstehen sie? orakelsprüche sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. so kann man doch nichts planen. in delphi war das noch ganz anders, da konnte man sich drauf verlassen.  

kann sein, sage ich und notiere etwas in meinem heft. 

halt – schreiben sie das bitte nicht auf. dann heißt es wieder ‚heimweh im hohen alter – europa denkt zurück: damals war alles besser‘. das meine ich ja gar nicht.  

nein nein, sage ich. sie machen nicht den eindruck auf mich, als würden sie den fortschritt verteufeln. 

welchen fortschritt denn? wenn wir weiter so fortschreiten, sind wir irgendwann wirklich fort. es ist ein unliebsamer begriff, sagt europa. nur weil ihr kunststoff erfunden habt, seid ihr nicht klüger als die menschheit vor euch. jede zeit hat ihre entdeckungen und veränderungen. ‚europa muss erwachsen werden‘, kennen sie die schlagzeilen? 

ja, sage ich (schon mal davon gehört). 

und warum soll erwachsen besser sein als kind? oder als alt? dem erwachsenen fehlt die neugier des kindes und die gelassenheit, die ich mit der zeit erst gefunden habe. die dinge  wandeln sich eben, und auf verwandlung fällt man schnell herein (das weiß ich aus eigener erfahrung). 

ein heikles thema, sage ich. 

für mich oder für sie? wissen sie – ich habe kein problem damit. ich habe lange mit meiner psychotherapeutin darüber gesprochen. manchmal schäme ich mich noch, aber das ist kein grund, nicht darüber zu reden.

sie tragen ja keine schuld, sage ich (im gegenteil), es war mutig von ihnen, sich auf den rücken des stiers zu setzen.  

europa streicht sich eine weiße, dünne haarlocke hinters ohr. sie trägt das haar lang, und in ihrer haltung und art, mit mir zu sprechen, sehe ich die schönheit einer frau, die mit den jahren mitgewachsen ist. sie stützt den kopf in die rechte hand, ihr blick geht an mir vorbei, läuft weiter bis zur phönizischen küste: prinzessin europa und ihre freundinnen spielen barfuß im sand, raffen mit den händen ihre gewänder (die sich im wind bauschen). 

ist es denn mut, wenn man gleichzeitig naiv ist?, fragt europa.  

laute huftritte, die stierherde galoppiert heran (ein stier ist weiß – weiß wie: wer weiß). und europa fährt fort: es ist nun mal passiert. jetzt sagen die mütter ihren töchtern: steigt zu  keinem mann ins auto. nach meiner entführung hieß es jahrhundertelang: steigt mir bloß auf keinen stierrücken (manches ändert sich ja doch nicht). 

eine mögliche namensdeutung für unseren kontinenten ist: dieser erdteil wurde nach ihnen benannt, sage ich. und noch heute leben wir in ‚europa‘. wie finden sie das? 

es war nicht mein kindheitstraum, wenn sie das meinen. es ehrt mich auch nicht. oder würden sie es schön finden, ihren namen fünfzig mal in jeder wirtschaftszeitung zu lesen? 

na ja – sage ich (werbung ist werbung). 

und es ist ja auch heute nicht brauch, straßen nach entführten jungen frauen zu benennen. geschweige denn ganze kontinente. warum bin ich etwas besonderes? 

vielleicht der wohlklingende name (und die namen aller kontinente enden auf a), sage ich.  

reine konvention, sagt europa. aber ich schweife ab. haben sie weitere fragen? darf ich ihnen noch etwas kaffee anbieten? 

ich nicke, und während sie mir nachschenkt, sage ich: eine letzte frage, wie feiern sie den europatag? (es ist ja bald wieder soweit). 

gewöhnlich mit der familie. wir dekorieren einen tannenbaum, zünden kerzen an und singen  lied – jetzt schauen sie nicht so, das war ein witz. europa lacht: ich werde wieder ein paar  freunde und orte besuchen. und auch auf meine alten tage habe ich eine wanderung geplant.  berge versperren die sicht, sagen sie in der stadt. aber steh mal oben: dann schaust du. 

europa reicht mir die hand. ich ergreife sie und für einen moment schauen wir einander in die augen. ich spüre einen feinen, herben duft. 

vielen dank für das gespräch und alles gute, sage ich. 

das wünsche ich ihnen auch.