Kultur | Von unterwegs

Das Buch des Fremden

Oft fährt man fort mit einem Buch im Gepäck. Ein Buch ist wie ein Vertrauter. Doch manchmal kommt man mit dem Buch eines Fremden von einer Reise zurück.
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Es war der Tag des berühmten "Palio di Siena". Der 2. Juli. Es hieß, man müsse sich bereits Stunden vor dem Beginn des Pferderennens einfinden, um sich einen Stehplatz zu sichern. Ich beherzigte diesen Rat und ging hin und her um zu berechnen, von wo aus ich die beste Sicht haben würde. Die Uhr des Rathauses zeigte auf vier, das bedeutete eine Wartezeit von drei Stunden.
Es war heiß und ich dachte flüchtig an die Hitze, die Albert Camus Romanfigur Mersault in "L’Étranger - Der Fremde" zur Weißglut brachte.
Ich weiß jetzt nicht mehr zu sagen, wie lange ich fast regungslos in der Sonne stand, bevor mein Blick auf einen jungen Mann fiel, der ein Buch mit einem französischen Titel in der Hand hielt. Mir fiel ein Satz ein, den ich irgendwann einmal bei Joseph Beuys gelesen hatte:

"In jeder Handlung des Menschen sollte das Feierliche der Selbtsbestimmung des eigenen Lebens und der eigenen Gesten enthalten sein."

Ich beobachtete den Lesenden ein Weile. So ähnlich musste sich Beuys das vorgestellt haben, dachte ich.
Ohne lange zu überlegen, holte ich die Kamera hervor und fotografierte den Fremden. Er bemerkte mich nicht. Ich rätselte, wie er wohl heißen könnte. Ich malte mir einen Namen aus: Jérôme. Nachdem ich ein paar Fotos gemacht hatte, ging ich, wie es sich gehört, zu Jérôme und fragte, ob ich ihn fotografieren dürfe. Er nickte, legte das Buch zur Seite, veränderte seine Haltung, lächelte freundlich und bemüht. Ich sah sofort, dass die feierliche Geste, die mich zuvor in den Bann gezogen hatte, verschwunden war. Ich ließ mir jedoch nichts anmerken, machte alibihalber mehre Bilder und bedankte mich. Diese Fotos ließ ich im Papierkorb verschwinden und behielt nur jene, von denen "Jérôme" nicht wusste, dass sie existieren.
Weil ich jede Menge Zeit hatte, suchte ich gleich nach dem Titel des Buches: "La Dernière nuit du Raïs". Der Autor heißt Mohammed Moulessehoul , ein Algerier, der in Frankreich lebt und unter einem Pseudonym schreibt, dem Namen seiner Frau: Yasmina Khadra.
Wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich mir das Buch besorgen.
Vielleicht erfahre ich dann mehr über das Feierliche in der Geste von "Jérôme".