Gesellschaft | Alpine Esskultur

Die Authentizität der regionalen Küche

Der Weg der Menschheit von einer rohen und untergeordneten Nahrungsaufnahme hin zur hoch entwickelten Esskultur, war ein langer.
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Kochen in den Bergen, 1959
Foto: Archiv des DAV München

Text: Jasmin Maringgele

Die Alpen mit ihren charakteristischen hohen pyramidenförmigen Gipfeln, schnell fließenden Flüssen und durch Gletscher geformten Täler und Seen durchziehen Europa. Im „Herzen Europas“ bilden die Alpen eine wichtige Klima- und Wasserscheide, zudem fungiert der Alpenraum als Lebensraum von etwa 13 Millionen Menschen. Die 8 Alpenstaaten – Frankreich, Monaco, Italien (Südtirol), Schweiz, Liechtenstein, Deutschland, Österreich und Slowenien – weisen trotz verschiedener kulinarischer Nuancen zahlreiche Gemeinsamkeiten in ihrer traditionellen Regionalküche auf.

Eine außergewöhnliche Biodiversität, einzigartige und teils schwierige Wetterverhältnisse, verstreute Siedlungen und limitierte Acker- und Weideflächen haben zu spezifischen (Über-)Lebensstrategien der Bevölkerung im alpinen Raum geführt. Ihnen ist eines gemeinsam: Das Alpine Esskulturerbe hat sich zu einem der wichtigsten Merkmale dieser einzigartigen regionalen Identität entwickelt und ist daher besonders schützens- und bewahrenswert. Eine sichtbar gemachte Alpine Esskultur ist eine Möglichkeit, um lokale Identitäten zu stärken. Zudem ist ein Fokus auf lokale, regionale und saisonale Produkte ressourcenschonend und nachhaltig. Als gemeinsam initiiertes Projekt von 6 Alpenländern wird mittels des Interreg Alpine Space Projektes AlpFoodway versucht, die Alpine Esskultur in den Rang eines immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO aufnehmen zu lassen.

Kultur des Essens

Der Weg der Menschheit von einer rohen und untergeordneten Nahrungsaufnahme hin zur hoch entwickelten Esskultur, war ein langer – und der Begriff der Kultur ist weit gefasst. Kurzum ist Kultur zum einen sozial erlernt – man denke an den (verhältnismäßig) neumodischen Gebrauch von Messer und Gabel zur Nahrungsaufnahme – und zum anderen sind insbesondere die Natur und geographische Gegebenheiten ausschlaggebend für eine spezifische Esskultur. Essen war und ist ein geeigneter Indikator, um Gesellschaften zu analysieren. Denn niemand kann leben, ohne zu essen. Infolge seiner zentralen Lage war der Alpenraum bereits früh besiedelt und stets eng mit der europäischen Geschichte verbunden. Bereits ca. 13.500 v. Chr. lässt sich eine kontinuierliche Besiedlung des Alpenraums nachweisen und eine Verdichtung ab etwa 2.200 v. Chr. Die bekannte Gletschermumie Ötzi lebte etwa 3.200 v. Chr. 2018 wurde Ötzis letzte Mahlzeit als „[…] eine ausgewogene Mischung aus Kohlenhydraten, Proteinen und Lipiden – perfekt abgestimmt auf die Anforderungen im Hochgebirge“, klassifiziert. Bestanden hatte diese aus frischem oder getrocknetem Wildfleisch von Steinbock und Rothirsch, Einkorn und Spuren von giftigem Adlerfarn. Die damalige Bevölkerung war schon zu Ötzis Zeiten mehrheitlich zur Landwirtschaft und zur Viehzucht übergegangen. Bis ins Hochmittelalter hinein dominierte die gemischte Landwirtschaft aus Ackerbau und Viehzucht den Alpenraum, vorrangig mit Schafen. Ab dem Spätmittelalter verdrängte die Rinderzucht sukzessive das Schaf und in einigen nordalpinen Regionen wurde der Ackerbau überwiegend von großräumiger Rindviehhaltungen abgelöst. Viele Alpentäler blieben bis ins späte 19. Jahrhundert stark von der Landwirtschaft geprägt und begannen diese, im Rahmen der Möglichkeiten, zu intensivieren. Es herrsch(t)en allerdings markante Unterschiede in Bezug auf physisch-geographische Bedingungen im Alpenraum vor. Der größte Gegensatz existiert zwischen einer sogenannten Dauergrünlandwirtschaft (Berglandwirtschaft) und Sonder- und Dauerkulturen in den Tallagen, die noch heute maßgeblichen Einfluss auf die Landwirtschaft haben. Trotz regionaler Unterschiede war die Küche im Alpenraum jahrhundertelang geprägt vom zumeist abgeschiedenen Leben in Bergdörfern und auf den Almen. Die Bewohner lebten größtenteils mit und von der sie umgebenden Natur. Es wurde regional produziert und konsumiert, Ressourcen mussten in erster Linie nachhaltig für die Selbstversorgung genutzt werden und für die kalte Jahreszeit waren Transhumanz und Konservierungstechniken entscheidend.

„Arme-Leute-Küche“

In unserer globalisierten europäischen Wohlstandsgesellschaft gibt es heute Essen im Überfluss – quasi immer verfügbar. Verzicht oder Mangel ist für die meisten in der Nachkriegsgeneration ein Fremdwort. Die Bewohner der Alpenregion mussten allerdings, oftmals aufgrund ihrer Abgeschiedenheit oder klimatischen Schwierigkeiten, Strategien entwickeln, mit den Zutaten nahrhafte Speisen zuzubereiten, die ihnen zur Verfügung standen. Im Gegensatz zu vielen Gerichten der klösterlichen, adeligen und bürgerlichen Küche, die nach der Erfindung des Buchdrucks vervielfältigt wurden, wurden die meisten der Rezepte im bäuerlichen Umfeld mündlich von Generation zu Generation überliefert. Die Vielfalt der alpinen Küche setzt sich aus den verschiedenen Regionen zusammen. In jedem Tal wurde anders gekocht – im Rahmen der zur Verfügung stehenden Lebensmittel und der technischen Möglichkeiten. Von Herrgottbscheisserl – Maultaschen mit verstecktem Fleisch aus dem Schwabenland, über Katzengschroa – einem fast vergessenen Gericht aus Innereien, das besonders in Ostösterreich zu finden ist – bis hin zur hiesigen Vinschger Schneamilch, die Vielfalt ist immens.

Trotz aller regionaler Unterschiede lassen sich viele Gemeinsamkeiten innerhalb der Großfamilie Alpenküche finden. Bis heute zählen Milch und Milchprodukte, Getreide, Mehlspeisen und durch Trocknen oder Räuchern haltbar gemachtes Fleisch zu den Hauptnahrungsmitteln. Neben den regionalen Lebensmitteln repräsentieren auch die dahinterstehenden Landschaften, Herstellungs- und Zubereitungsmethoden sowie spezielle Gerätschaften, althergebrachte Fertigkeiten, Brauchtum und Traditionen das Esskulturerbe der Alpenregionen. Eine über Jahrhunderte hinweg organisch gewachsene Esskultur wirkt stark identitätsstiftend – bisweilen auch über aktuelle Nationalstaatsgrenzen hinaus. Am Beispiel der Südtiroler Küche lässt sich die gemeinsame Geschichte mit Österreich gut nachzeichnen. So weist die ursprüngliche Südtiroler Küche kaum Gemeinsamkeiten mit anderen Regionalküchen Italiens auf. Traditionelle Gerichte wie etwa Gerstensuppe, Brennsuppe, Kaminwurzen, verschiedene Knödel oder Krapfen finden sich insbesondere im Nordtiroler Raum wieder.

Qualität und Regionalität sind zeitlos

Auf zahlreichen Almen im gesamten Alpenraum werden seit Jahrhunderten nach den gleichen einfachen Verfahren Butter und Käse hergestellt. Das Muas – gemeinschaftlich aus der Pfanne gelöffelt – besteht gar nur aus Mehl und Schmalz. Heute gilt es vielmals als Besonderheit, verbunden mit Kindheitserinnerungen und ist Esskultur. Die Einfachheit und Authentizität der regionalen Küche ist ein Gegentrend zu einer globalisierten Küche, die überall auf der Welt zu finden ist. Wirklich regionales Essen, das der Alpenküche entspringt, orientiert sich nicht an touristischen Werbeversprechen. Sie greift auf Nahrungsmittel von Bauern und Produzenten aus der Region zurück und unterstützt somit die lokale Kreislaufwirtschaft. Lebendige Kulturlandschaften und Biodiversität lassen sich durch lokales Saatgut, Nutzpflanzen und Nutztierrassen erhalten. Als Konsumenten haben wir zudem stets die (Aus-)Wahl, wen wir mit unserem Kauf unterstützen. Regionale Wertschöpfungsketten sind schlussendlich die Basis dafür, Zersiedelung und Abwanderung zu vermeiden. Die Zukunft des Alpenraumes hängt stark davon ab, die Identität seiner Bevölkerung zu bewahren. Ansonsten droht der Verlust von Wissen, Fähigkeiten, Traditionen und Bräuche für künftige Generationen. Produkte, die nach traditionellen Anbaumethoden, Konservierungs- und Garmethoden produziert werden, können durch faire Preise in ihren Wert gesetzt werden. Kultur besteht folglich nicht nur aus Gebäuden, Kunstwerken oder Monumenten – sondern auch aus dem Alltäglichen: Essen.