Gesellschaft | Jugendkriminalität

Was ist dran an den „Baby-Gangs“?

Im Burggrafenamt häuften sich Vorfälle von Jugendgewalt. Was ist am Phänomen der Jugendkriminalität dran, wie nehmen Politik und zuständige Dienste die Problematik wahr?
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Foto: Jon Tyson on Unsplash
Das Phänomen erhöhter Jugendkriminalität, medial auf nationaler sowie auf Landesebene mit dem Titel „Baby-Gangs“ etikettiert, sorgte in den vergangenen Monaten stets wieder für Aufsehen und beeinträchtigte vielerorts stark das lokale Sicherheitsempfinden. Reale Gewaltvorkommnisse, sowohl verbal als auch physisch, sprechen für sich. Jugendliche verursachen eskalierende Szenen von Gewalt und Einschüchterung im Einkaufszentrum „Algo“ in Algund, überfielen und bedrohten Passanten und RentnerInnen in der Meraner Innenstadt und traktierten Badegäste im Lido Meran, um einige Episoden zu nennen. Das Burggrafenamt erschien immer mehr als beliebte Anlaufstelle für junge kriminelle MissetäterInnen. Aber sind derartige Zwischenfälle wirklich ein Novum?
 
 
Auf politischer Ebene zumindest sind die Folgen real, denn sowohl auf Landes- als auch Gemeindeebene reagierte die Partei Fratelli d’Italia“ mit Beschlussanträgen, die in den letzten Wochen angeregte Diskussionen initiierten. Wenngleich die als vehement repressiv, diskriminierend sowie rechtlich größtenteils nicht haltbar kritisierten Ansätze der Partei von den restlichen politischen Lagern entschieden zurückgewiesen wurden, hatten sie „wenigstens den positiven Nebeneffekt, dass der Diskurs über langzeitlich angesammelte Missstände in den Bereichen der Jugend losgetreten wurden“, so Merans Bürgermeister Dario Dal Medico. Der Weg von der Diskussion zur Handlung scheint jedoch ein langer, betrachte man allein die Vorgänge im Burggrafenamt. Aber was hat es nun wirklich mit der Jugendkriminalität auf sich, welche sind die Problemfelder, die in Bezug auf die Jugend angepackt werden müssen und wie wird eigentlich mit der Problematik verfahren?
 
 

Die Lage im Burggrafenamt – ein „allgemeiner“ Anstieg von Verstößen

 
Bei vielen lösten mehrere Vorkommnisse in der Meraner Innenstadt, im Algunder Einkaufszentrum „Algo" sowie darüber hinaus in Bozen und Brixen große Angst und Unmut aus. Die mediale Berichterstattung sowie politische Debatten bewerten diese Vorkommnisse von Gewaltakten größtenteils als regionale Symptome des nationalen „Baby-Gang“-Problems und im öffentlichen Diskurs entstand parallel dazu die Wahrnehmung einer dramatischen Zunahme an Jugendkriminalität. Vor allem im Territorium Meran – Burggrafenamt häuften sich Berichte über besorgniserregende Szenen. Inspektor Riccardo RaffeinerLeiter der Dienststelle städtische Sicherheit und Gerichtspolizei Meran, schildert die Lage jedoch objektiv: „Wir verzeichneten über die letzten Monate effektiv eine proportionale Zunahme von Verstößen auf strafrechtlicher Ebene. Dazu ist jedoch zu sagen, dass sich dies nicht nur auf Jugendliche bzw. Jugendbanden begrenzt, sondern generationenübergreifend feststellbar ist“.
 
Wir haben herausgefunden, dass diese ‚Baby-Gangs‘, ein höchst unpassender und bestärkender Begriff übrigens, keineswegs homogene Gruppen sind.
 
Des Weiteren sei in den meisten Fällen eher von „jugendlicher Impulsivität als von organisierter Bandenbildung, mit der Intention verbrecherischer Akte“ zu sprechen. Dies bestätigt auch Hartmann Stragenegg, Gemeinderat, Partei Enzian. Der hauptberufliche Kampfsporttrainer und ehrenamtliche Streetworker, konnte 12 von 20 Jugendlichen, die im Algo auffällig wurden, in ein Sportprojekt integrieren und versucht, stets neue Kontakte zu „auffallenden“ Jugendlichen in problematischen Zonen herzustellen: „Wir haben herausgefunden, dass diese ‚Baby-Gangs‘, ein höchst unpassender und bestärkender Begriff übrigens, keineswegs homogene Gruppen sind, sondern stets höchst fluide, spontane Konstellationen verschiedener Jugendlicher aus unterschiedlichen Ortschaften wechselhaft zusammenkamen und -kommen.
Mehrere derartige Aussagen auf institutioneller Ebene ergeben vorerst folgende Erkenntnislage: Verstöße und Kriminalität haben zahlenmäßig tatsächlich zugenommen, aber Hauptfaktor davon sind nicht Jugendliche, die sich gezielt zum Verbrechen organisieren. Obgleich Phänomene und Gefahren nicht unterschätzt werden dürfen, sollte sich die öffentliche Wahrnehmung an der Realität orientieren und nicht von medialer und politischer Verzerrung getrübt werden. Und Realität sind stets dieselben Problematiken der Ausgrenzung, der mangelnden Förderung und Anerkennung sowie Stigmatisierung junger Menschen, die in verschiedenen Ausprägungen auf die Gesamtgesellschaft zurückwirken.

 

Das wahre Problem: eine Kombination aus Pandemie und den immergleichen Missständen

 
Oliver Schrott, Geschäftsführer des Jugenddienstes Meran, bestätigt diesen Punkt. In der Gemeindegrenzen überschreitenden Zuständigkeit des Jugenddienstes ist ihm spürbar ein realitätsnahes Bild der Lage gegeben. Die Erfahrung einer steigenden Jugendkriminalität, wie sie in medialen und politischen Dimensionen thematisiert wurde, sei im jugenddienstlichen Arbeitsalltag nicht teilbar. Allerdings würden wir uns dennoch in einer Situation befinden, die sich durch kontinuierlich fortgesetzte Strukturproblematiken tendenziell verschlechtert und immer wieder gesellschaftlich sichtbar wird: das Problem der Ressourcenverteilung und die gesellschaftliche sowie politische Missachtungshaltung. Die Corona-Pandemie habe dazu noch beträchtlichen Zusatzschaden angerichtet, denn „im Vergleich zu Zeiten vor der Pandemie, ist immer häufiger beobachtbar, dass Sozialkompetenzen sowie ein angemessener Regelumgang oft verlernt wurden, da die sozialen Räume (Freundeskreis, Schule, etc.) zur Erlernung derartiger Fähigkeiten entfallen sind“, so Schrott.
 
 
Aufgrund der öffentlichen Wahrnehmung rückt jetzt verstärkt die Präventionsarbeit in den Fokus, allerdings prallten zuvor „Appelle an Politik, Beamtentum und Bürokratie in kompetentes Personal, in Pädagogen, in Menschen, die Präventionsarbeit machen, zu investieren bereits seit Jahren ab. Obwohl das notwendig für Meran wäre! Vom Land werden diese Appelle durchaus wahrgenommen und unterstützt. In der Gemeinde treffen wir jedoch immer wieder auf taube Ohren, da es stets heißt ‚es ist kein Geld da‘, obwohl dann Investitionen an anderer Stelle getätigt werden, woran man bisher immer wieder die Konturen unserer Verteilungsprioritäten erkennen konnte“. Etwa stehen dem Jugenddienst acht MitarbeiterInnen in Teilzeit (vier volle Stellen) zur Verfügung, um sich der Jugendlichen des gesamten Gebietes Meran und Burggrafenamt anzunehmen. Die zeit- und energieintensive Widmung, die junge Menschen in problematischen Situationen eigentlich bräuchten, könne deshalb nur in eingeschränktem Maße erfolgen und dieses Phänomen ist sehr verbreitet.
Die für die Jugend zuständige Stadträtin Emanuela Albieri, 
Gemeinderatsassessorin und -referentin, La Civica per Merano, sieht hierbei leider keine prompte Umverteilungsmöglichkeit: „Als neue Stadtregierung wurden wir dieses Jahr mit der bürokratischen Bilanzierung des vorhergehenden Jahres konfrontiert, die unsere Präventions- und Bewältigungsstrategien durch limitierte finanzielle Ressourcen hemmt. Ich werde mich jedoch vehement dafür einsetzen, dass die kommende Bilanzierung für das nächste Jahr sehr zugunsten der Jugend und in deren Folge zugunsten der Gesellschaft und Kultur ausfallen wird!“ Dennoch bis dato eine beträchtliche Hürde für Veränderung.
 

Der Lösungsansatz Merans: Projekte zur Prävention und Sicherheit

 
Als Reaktion auf die Gewaltvorkommnisse wurde von der Stadtregierung ad hoc ein Lösungsansatz auf zwei Achsen konzipiert: Prävention und Repression. Die Präventionsachse bildet ein Arbeitsgremium, das derzeit, unter Leitung von Emanuela Albieri, an diversen Projekten arbeitet, so die Stadträtin: „Uns ist es gelungen die Institutionen der Jugend- und Sozialarbeit, die Schulen, das Zentrum der ‚giustizia riparativa‘, das ‚Forum Prevenzione‘, also summa summarum jegliche Institutionen, die im Kontakt zu den Jugendlichen und deren Familien stehen und mit ihnen arbeiten, an einem runden Tisch zu versammeln, um langfristige Präventionsarbeit zu planen und zu verwirklichen.“ Neben der angemessenen Kommunikation bestehender Strukturen an die BürgerInnen werden vorerst Belange angepackt, wie der Ausbau des Angebotes nachmittäglicher Beschäftigungsstrukturen an Schulen.
Merans Bürgermeister Dario Dal Medico bearbeitet in monatlichen Treffen mit dem Provinzialkomitee für öffentliche Ordnung, die zweite Achse, der Repression oder besser gesagt: der lokalen Sicherheitsfrage.
 
Die Auswirkungen auf das Unsicherheitsgefühl und auf die Sensibilität von Menschen waren real spürbar.
 
In Zusammenarbeit mit dem Regierungskommissär, Präfekt Vito Cusumano, der auf Provinzebene für die Sicherheit zuständig ist, würden die Belange Merans regelmäßig erörtert und Maßnahmen erarbeitet. Kontrollen und Personal wurden bereits beträchtlich ausgebaut und es wurde ein Staatsbeitrag von 25.000 Euro zur Drogenbekämpfung genehmigt, der nun zugunsten der Verstärkung von Lokalbehörden eingesetzt werden kann, so Dal Medico: „Die Auswirkungen auf das Unsicherheitsgefühl und auf die Sensibilität von Menschen waren real spürbar. Momentan hat sich die Lage aber wieder beruhigt. Zu den Faktoren der städtischen Belebtheit und der sommerlichen Stimmung, ist dies auch Folge der erhöhten Kontrolltätigkeit, wie etwa am Eurotel, am Bahnhofspark und im Lido, die uns durch das Komitee zugesprochen wurden. Es ist wichtig, dass die Menschen sehen, dass über die Sicherheit der Stadt gewacht wird.“
 
 

Reale politische Herausforderungen und Baustellen

 
Alle scheinen sich einig zu sein. Unabhängig davon, ob steigende Jugendkriminalität ein partikular zunehmendes Phänomen darstellt, auf jeden Fall sind die Vorfälle ein Ansporn zur Tat. Die Marginalisierung von Jugend-, Sozial- und Kulturarbeit sowie der betroffenen Gesellschaftssparten ist ein Problem, das durch Ressourcenumverteilung und politische sowie gesellschaftliche Anerkennung gelöst werden kann, um in Zukunft teure Probleminterventionen zu sparen. Dies vertritt Oliver Schrott vom Jugenddienst entschlossen: „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Jugendarbeit als gesellschaftliches Thermometer fungiert. Kommen hier Probleme auf, die ignoriert werden, manifestieren diese sich wenige Jahre später in der Gesellschaft. Die Zuständigen Institutionen in Meran bräuchten schlicht mehr Geld, um Projekte für Prävention und Problemlösungen auf die Beine stellen zu können. 150.000 Euro könnten bereits den Unterschied machen!“ Vor allem in den letzten Jahren sei zudem klar geworden, dass die Politik notwendig ist, um einen vernünftigen Mittelweg zwischen bürokratisch-normierender Richtungsweisung durch das Gesetz und real-umsetzbaren Wegen in der Praxis zu finden.
Doch die Gesamtgesellschaft sei gefragt. So legen sowohl Schrott als auch Emanuela Albieri dar, dass jungen Menschen Räume geschaffen werden müssen, an denen sie sich bedingungslos treffen, ihren Interessen nachgehen und kommunizieren können. Hier sei jedoch auch eine gewisse Haltung von der Lokalbevölkerung, die sich Projekten für die Jugend oft in den Weg stellt. So etwa Albieri: „Meist ist eine langwierige Sensibilisierung gewisser Bevölkerungssparten notwendig, denen erst beigebracht werden muss, dass Räume für Jugendliche nicht zwangsmäßig Ruhestörung und Unordnung bedeuten, sondern notwenige Beiträge zum gesamtgesellschaftlichen Zusammenleben sowie zur Sicherheit aller sind.“
 
Die Zuständigen Institutionen in Meran bräuchten schlicht mehr Geld, um Projekte für Prävention und Problemlösungen auf die Beine stellen zu können. 150.000 Euro könnten bereits den Unterschied machen!
 
Albieri sowie auch Bürgermeister Dal Medico sind sich einig: „Es soll sich jeder Bürger und jede Bürgerin fragen, was er oder sie persönlich, das beginnt bereits im Kreis der eigenen Familie, tun oder anerkennen muss, um Probleme zu lösen, anstatt die Verantwortung von sich zu weisen.“ Eine umfassende Prävention bzw. die Bewältigung der Strukturproblematik, erfordert jedoch offensichtlich sowohl die Aktivierung der Bevölkerung und die ernstgemeinte und ambitionierte Arbeit an zukunftsweisenden, nachhaltigen Projekten aber, wie erschlossen wurde, ebenso die Wertschätzung und Nutzung bestehender Institutionen der Jugend-, aber auch der Kultur- und Sozialarbeit. Und dabei scheint es unerlässlich, dass die zuständigen Institutionen im Sektor der Jugend-, Kultur- und Sozialarbeit sowie die jeweiligen Gesellschaftssparten mit der immer wieder geforderten wahren Anerkennung durch Umverteilung, zur angemessenen Funktion, verstärkt integriert werden.
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Josef Ruffa Sa., 23.07.2022 - 15:57

I genitori hanno una responsabilità genitoriale. Se il minore combina qualche cosa, i genitori hanno anche un obbligo di vigilare. Se non vigilano ... si inizi anche un percorso educativo per questi, che non sono all' altezza del loro compito.

Sa., 23.07.2022 - 15:57 Permalink
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Michael Bockhorni So., 04.09.2022 - 16:07

vielleicht hängen die limitierten finanziellen Mitteln auch mit der von den jetzigen Regierungsparteien bewußt herbeigeführten kommissarischen Verwaltung davor zusammen.

So., 04.09.2022 - 16:07 Permalink