Chronik | Schulreform

Betriebspraktika sind "Sklavenarbeit"

Renzis Schulreform verdient manche Kritik. Aber verpflichtende Betriebspraktika von ein paar Wochen im Jahr als "Ausbeutung der Schüler" abzulehnen, ist absurd.
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Foto: Salto.bz

„Wechsel zwischen Schule und Arbeit = AUSBEUTUNG!“ und „Unbezahlte Praktika? Wir sind keine Sklaven!“ war auf Spruchbändern zu lesen, die protestierende Schüler vor einigen Tagen in vielen Städten Italiens auf ihren Demonstrationen mit sich trugen. Minderjährige als Sklaven ausgebeutet? Nicht etwa in Indien oder Bangladesh, sondern in Italien, mitten in Europa?

Der Protest zum Schuljahresbeginn richtet sich insgesamt gegen die von der Renzi-Regierung vor einem Jahr eingeführte Schulreform. Eine Reform „mit Licht und Schatten“ (wir berichteten). Während zum Beispiel die steuerlichen Erleichterungen für den Besuch von (meist katholischen) Privatschulen in der Tat Kritik verdienen, gehen andere Veränderungen aus meiner Sicht in die richtige Richtung: die verstärkte Schulautonomie und erweiterte Entscheidungskompetenzen für die Schulleiter (Kritik: „Nazidiktatur an den Schulen!“), die Einstellung vieler zuvor prekär beschäftigter Lehrer. Und eben auch die Einführung der sog. „Alternanza scuola-lavoro“ („Wechsel Schule-Arbeit“), die von den Kritikern als Ausbeutung angeprangert wird.

Worum geht es konkret? In den letzten drei Schuljahren werden verpflichtende Praktika in einem Gesamtumfang von insgesamt 200 Stunden an Gymnasien und 400 Stunden an den „Istituti tecnici e professionali“ eingeführt. Das entspricht einer jährlichen Dauer von etwas mehr als anderthalb Wochen für Gymnasiasten und von ungefähr drei Wochen für Schüler der "Istituti tecnici e professionali".

Vom dualen Ausbildungssystem noch weit entfernt

Ähnliche Praktika gab es bereits vorher, allerdings nur für einige Schulen und auf freiwilliger Basis. So war es bisher möglich, dass man nach dem Besuch einer „berufsbildenden“ Schule keinen einzigen Betrieb von innen gesehen, geschweige denn mal an einer Schraube gedreht hatte. Nun soll – wenn auch in sehr bescheidenem Umfang – verbindlich und flächendeckend zumindest ein wenig Fachpraxis vermittelt werden. Dafür sollen die Schulen, in Kooperation mit den Industrie- und Handwerkskammern und dem öffentlichen Sektor, Kontakt zu Arbeitgebern der Region aufnehmen und mit ihnen entsprechende Vereinbarungen schließen. Neben den innerbetrieblichen Praktika werden die fachpraktischen und berufsorientierenden Anteile durch den Einsatz externer Experten (z. B. „Ausbildungstutoren“) an den Schulen ergänzt .

Schon der Umfang der Betriebspraktika zeigt, dass dieses Modell von dem komplexen System der dualen Ausbildung, wie es in Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern praktiziert wird, immer noch weit entfernt ist. Beim dualen System findet die Berufsausbildung bekanntlich vorwiegend innerbetrieblich statt, während die allgemeinbildenden und fachtheoretischen Anteile in der Berufsschule – im Umfang von 12 Unterrichtsstunden wöchentlich, meist an zwei Tagen – vermittelt werden. Die Arbeitgeber schließen mit den Auszubildenden Ausbildungsverträge ab und zahlen ihnen eine Ausbildungsvergütung. Daneben besteht auch an allgemeinbildenden Schulen die Möglichkeit – in manchen Bundesländern die Pflicht – während des Schulbesuchs mehrwöchige (unbezahlte) Praktika zu absolvieren, die einen ersten Einblick in die Arbeitswelt vermitteln und vorwiegend der Berufsorientierung dienen.

Wenn es also an den italienischen Reformbemühungen zur Stärkung der fachpraktischen Ausbildung etwas zu kritisieren gibt, ist es deren allzu zaghafter, unzureichender Ansatz. Man hätte mit gutem Recht kritisieren können, dass die Bezeichnung „Alternanza“ zwischen Schule und Arbeit bei mickrigen ein- bis dreiwöchigen Praktika im Jahr irreführend ist, denn sie suggeriert eine Parallele zur in Deutschland und anderswo bestehenden dualen Ausbildung, die faktisch nicht vorhanden ist. Aber nicht das erweckt den Zorn von vielen Schülern, Lehrern, Eltern und Politikern. Sondern dass durch diese paar Stunden innerbetriebliche Fachpraxis angeblich die unbezahlte Kinderarbeit (wieder)eingeführt werde. Das ist so grotesk, dass man darüber laut lachen könnte.

Bildungsbürger ohne technischen Anschluss

Mir ist allerdings dabei gar nicht zum Lachen zumute, denn an dieser Reaktion zeigt sich eine in Italien weit verbreitete Verweigerungshaltung gegenüber Veränderungen, die sich nicht auf Sachargumente und Fakten stützt, sondern aus ideologischem Schubladendenken und politischen Ressentiments speist. Wobei sich bürgerliches Kastendenken auch noch in pseudomarxistischen Gewändern präsentiert.
Denn noch ein weiterer Aspekt spielt hier eine Rolle: die im italienischen Bildungsbürgertum verbreitete Einstellung, nach der kulturelle und geistige Bildung sich auf die Niederungen des praktisches Arbeitens nicht einzulassen braucht (oder traut).

Ich weiß nicht, ob es nur ein Zufall ist, dass alle Intellektuellen in meinem (italienischen) familiären und persönlichen Umfeld von jeglichen technisch-praktischen Kenntnissen (PC und Handys vielleicht ausgenommen) jungfräulich unberührt sind. Intelligent, gebildet, brillant. Aber wenn es darum geht, eine kaputte Birne auszuwechseln oder gar ein einfaches Holzregal zu montieren, muss ein Handwerker her. Als mein (intellektueller, deutscher, etwas reformpädagogisch ausgebildeter) Mann vor vielen Jahren in unserem ländlichen italienischen „Familienhaus“ eigenhändig unser Bettgerüst zusammenbaute, war das eine Sensation. Alle anwesenden männlichen wie weiblichen Familienmitglieder kamen in Prozession in unser eheliches Schlafzimmer, um das Wunderwerk zu bestaunen: „Das hast Du wirklich selbst gemacht? Ohne einen Tischler zu holen! Bravissimo!!“.

Und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass die Proteste vor allem aus den Gymnasien und nicht aus den „Istituti tecnici“ kommen. Es bestehe die Gefahr, erklärten Lehrer des Gymnasiums Leonardo da Vinci in Trento, dass durch die neuen Bestimmungen „das Wesen der gymnasialen Ausrichtung pervertiert wird, die ihre Schüler darauf vorbereitet, zu gebildeten und selbstbewussten Bürgern zu werden, ohne das Ziel, sie auf einen Beruf hinzuführen“. Na, wenn das keine schöne Auffassung von „gebildeten und selbstbewussten Bürgern“ ist.

Übrigens: es gibt in Italien doch ein Fleckchen, in dem das duale Ausbildungssystem nach „deutschem Vorbild“ schon seit langem praktiziert wird: in der autonomen Provinz Bozen. Eine Gegend, die für die sklavische Ausbeutung Minderjähriger nicht bekannt ist.