Gesellschaft | Interview

„Die Unterstützung geht verloren“

Volksanwältin Gabriele Morandell begleitet Bürger bei Problemen mit der öffentlichen Verwaltung. Seit einem Jahr sind es vor allem Rekurse gegen Covid-Strafen.

Gabriele Morandell
Foto: Südtiroler Landtag

salto.bz: Frau Morandell, bemerken Sie als Volksanwältin seit Beginn der Pandemie eine Veränderung in Ihrer Arbeit, zum Beispiel durch vermehrte Beschwerden gegen Covid-Strafen?

Gabriele Morandell: Wir bekommen ganz viele Anfragen zum Thema Covid: Wie gehe ich mit Verwaltungsstrafen wegen Nichttragens der Maske um? Ist die Strafe gerechtfertigt? Wie kann ich Rekurs einlegen? Dieses Thema beschäftigt die Leute schon sehr. Insbesondere in der ersten Welle, da haben die Leute täglich angerufen und E-Mails geschrieben. In dieser Zeit wurde aber auch wirklich viel gestraft.

Das heißt, jetzt, in der dritten Welle, ist es etwas ruhiger?

Ja, es wird nun etwas weniger gestraft. Meistens geht es um die Maskenpflicht. Was die Leute besonders ärgert ist, wenn sie bestraft werden, weil sie die Maske nicht richtig tragen. Die meisten geben an, sie hätten sie richtig getragen. Aber das ist natürlich schwer zu beweisen. Was auch viele stört: Man sieht immer wieder Polizeikräfte, die ohne Maske herumstehen. Dieses Argument bringen auch viele, aber das kann man natürlich nicht in einen Rekurs aufnehmen.

Welche Reaktionen erleben Sie von den Menschen?

Die Leute sind teilweise verängstigt und teilweise wütend. Manche trauen sich gar nicht mehr aus dem Haus. Das liegt sicher auch an der negativen Berichterstattung.

Das Empfinden, dass Maßnahmen in Ordnung gehen, ist weniger vorhanden.

In einem offenen Brief an Landeshauptmann Kompatscher schrieben zwei Bürgerinnen: „Sie verlieren uns.“ Sie hatten zwei saftige Strafen wegen einer Pizzetta im Freien kassiert.

Viele können die Sinnhaftigkeit hinter den Verordnungen nicht mehr verstehen und fühlen sich deshalb in Ihren Grundrechten verletzt. Im ersten Lockdown haben die Menschen die Verordnungen noch verstanden, aber mittlerweile geht die Unterstützung in der Bevölkerung immer mehr verloren. Das Empfinden, dass Maßnahmen in Ordnung gehen, ist weniger vorhanden.

Können Sie solche Reaktionen nachvollziehen?

Irgendwo haben die Leute recht, denn Maßnahmen, die man nicht nachvollziehen kann, sind schwer, mitzutragen. 400 Euro sind außerdem sehr viel für manche Menschen. Insbesondere für jene, die zurzeit kein Einkommen mehr haben. Das Problem ist vor allem der „Verordnungsdschungel“: Täglich erscheinen neue Verordnungen und keiner kennt sich mehr aus. Gerade letzten Samstag wurde verkündet, dass es doch möglich ist, im Freien zu essen, solange der entsprechende Abstand gehalten wird.

Die Menschen verstehen also nicht, was sie dürfen und was nicht?

Genau. Ein Beispiel, das mir selbst widerfahren ist: Wer darf auf Beerdigungen, wer nicht? Im ersten Lockdown waren Beerdigungen sehr streng geregelt, mittlerweile gibt es diesbezüglich aber keine Bestimmungen mehr. Selbst die Pfarrer, die wir gefragt haben, wissen es nicht.

Problem ist vor allem der „Verordnungsdschungel“: täglich erscheinen neue Verordnungen und keiner kennt sich mehr aus.

Wo herrscht im Moment sonst noch Verwirrung?

Ein weiteres Problem stellen Besuchsrechte in Seniorenwohnheimen dar. Dort sind zwar nach meinem Wissenstand die meisten Bewohner geimpft, aber von Rückmeldungen der Leute weiß ich, es hat sich kaum was getan: Immer noch ist es sehr schwer, und nur selten möglich, seine Angehörigen im Seniorenheim zu besuchen. Ich möchte auch auf die öffentliche Verwaltung hinweisen: Die Bearbeitungszeiten sind enorm gestiegen, die Erreichbarkeit hingegen enorm gesunken. Das Problem herrsch besonders in den Sozialsprengeln. Um einen Termin im Führerscheinamt zu erhalten, muss man sich einen SPID zulegen, also eine digitale Identität. Für einen älteren Herren etwa ist das nicht so leicht. Das verwirrt schon viele.

Wie geht man vor, um Rekurs gegen eine Verwaltungsstrafe einzureichen?

Man muss zunächst unterscheiden: Basiert die Strafe auf einer Verordnung des Bürgermeisters, des Landeshauptmanns, oder der Regierung? In ersterem Fall geht der Rekurs an die Gemeinde, ansonsten an die Provinz bzw. bei nationalen Bestimmungen an das Regierungskommissariat. In den Rekurs schreibt man am besten alles, von dem man glaubt, es verhelfe einem zum Recht. Im Internet gibt es Vorlagen dazu. Wichtig ist aber: Man muss Argumente haben.

Was wäre zum Beispiel ein valides Argument?

Im ersten Lockdown wurden ganz viele Menschen bestraft, weil sie die 200-Meter-Grenze überschritten hatten. Sie erinnern sich: Man durfte sich vom eigenen Haus nicht mehr als 200 Meter entfernen. In diesen Fällen hat sich ein Rekurs ausgezahlt, denn diese Regelung war nirgends schriftlich festgehalten. Selbst bei mündlichen Bekundungen gab der Landeshauptmann an, man würde diese Regel nicht so streng auslegen. In diesem Fall also hat der Bürger ein gutes Argument in der Hand

Im ersten Lockdown wurden ganz viele Menschen bestraft, weil sie die 200-Meter-Grenze überschritten hatten. In diesen Fällen hat sich ein Rekurs ausgezahlt, denn diese Regelung war nirgends schriftlich festgehalten.

Was, wenn der Rekurs abgelehnt wird?

Das Regierungskommissariat hat fünf Jahre Zeit, Stellung zu nehmen. Bei lokalen Behörden bekommt man relativ schnell eine Antwort. Falls der Rekurs hier abgelehnt wird, kann man sich an das Friedensgericht wenden. Auch dieser Schritt ist ohne Rechtsanwalt möglich.

Waren in Ihrer Erfahrung die bisherigen Rekurse erfolgreich?

Jene an das Regierungskommissariat, also gegen nationale Bestimmungen, stehen alle noch aus. Zumindest hat in unserem Team noch niemand diesbezüglich Rückmeldung von Bürgern erhalten. Die Rekurse an die Provinz Bozen hingegen werden aus meiner Erfahrung meist abgelehnt.

Seit dem 25. März 2020 gilt: Übertretungen von Corona-Vorschriften sind keine Straftaten.

Im Widerstand gegen den Lockdown hat sich die Gruppe „Frei-netz“ gegründet. Dort bieten Rechtsanwälte Rekursvorlagen gegen Covid-Strafen an, mit dem Argument, die Landesverordnungen zur Maskenpflicht oder Bewegungseinschränkung seien verfassungswidrig. Ein legitimer Vorwand?

Nein, diese Argumentation ist nicht gerechtfertigt. Zum einen bezieht sich die Gruppe auf Artikel 16 der italienischen Verfassung, der Bewegungsfreiheit vorsieht. Jedoch heißt es in dem Artikel weiter, diese Bewegungsfreiheit kann aus Gründen der allgemeinen Sicherheit oder Gesundheit eingeschränkt werden. Die Coronamaßnahmen sind außerdem konform mit Artikel 32 der Verfassung, in welchem der Staat verpflichtet wird, die Gesundheit des Einzelnen und eben der Gemeinschaft zu schützen. Zuletzt werfen Kritiker der Regierung vor, dass ein Notstand nur im Falle von Krieg ausgerufen werden kann, nicht im Falle einer epidemiologischen Notsituation. Hier spricht aber die EU-Menschenrechtskonvention eine klare Sprache, Artikel 15 listet den Fall des öffentlichen Notstandes als Grund für einschränkende Maßnamen auf.

Vor kurzem wurde ein Paar aus Reggio Emilia freigesprochen, welches im ersten Lockdown die Eigenerklärung gefälscht hatte. Der Richter argumentierte, das Dekret, auf das sich das Strafmaß beziehe, sei nicht rechtmäßig.

Er bezieht sich hier auf ein Gesetzesdekret vom 8. März 2020, demnach für Übertretungen von Covid-Regeln ein Strafverfahren gemäß Strafgesetzbuch notwendig ist. Dieses wurde auf das Paar angewandt. Jedoch gilt seit dem 25. März 2020 ein Dekret, das später zum Gesetz wurde: Übertretungen von Corona-Vorschriften sind keine Straftaten. Die Entscheidung des Richters kann ich also nur teilen.

Wird diese Entscheidung Implikationen für künftige Rekurse oder Covid-Verwaltungsstrafen haben?

Ich glaube nicht, da er hier um ein Strafverfahren geht, was nach dem 25. März 2020 bei Covid-Verstößen nicht mehr möglich ist.

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Dietmar Holzner Di., 16.03.2021 - 08:24

"Das Regierungskommissariat hat fünf Jahre Zeit, Stellung zu nehmen" (zu einem Rekurs gegen eine Verwaltungsstrafe von 400 Euro). Gewaltig. Das ist eigentlich ein Zeitraum für eine Verjährung und nicht der Zeitpunkt, an dem man erst erfährt, ob und wie man weiter verfahren will.

Di., 16.03.2021 - 08:24 Permalink