Gesellschaft | Gastbeitrag

Psychiatrie oder lebenslänglich?

Zum Elternmord
Spiegelkabinett
Foto: Pixabay

Es hieß, die Journalisten hätten wie gehetzte Spürhunde nach Indizien gesucht und diese gegebenfalls sogar erfunden, um die Sensationslust der Leser zu stillen. Weiter hieß es, dass die Suche nach dem seit Jänner verschwundenen Bozner Paar die Bevölkerung weit über die Grenzen Südtirols hinaus in Atem gehalten habe. Wurde etwas gefunden? Was sagen die Verteidiger? Ist die Untersuchungshaft angeordnet worden? Kommentiert die Familie? In der R.-straße ist es geschehen, die von der Altstadt Richtung “Bozen Dorf” führt, beidseitig gesäumt von vornehm zurückgesetzten Villen inmitten alter, schattiger Gärten. Im Laufe der Jahre  ist wohl jeder Bozner an dem Eisentor vorbeigekommen, hinter dem jetzt die Carabinieristreife steht, zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit Einkaufstaschen, mit Kinderwagen oder mit betagten Eltern.  

Motiv für das Verbrechen? Es steht aus. Der Sohn hat ein Kletterseil zuerst um den Hals seines Vaters und dann um den seiner Mutter geschlungen und kraftvoll zugezogen bis sie starben. Über den Fall tagtäglich etwas lesen zu wollen, ist mehr als Sensationsgier. Da ist neben blankem Entsetzten und aufkommender Übelkeit ein suchtartiges, immer wieder scheiterndes Bedürfnis nach Verstehen. Da jedoch keine Antwort auf die Frage nach dem Warum in Aussicht steht, wird die Ahnung fast schon Gewissheit, dass der Mensch, wie es Robert Musil ausdrückte “nicht fest in seiner Haut” sei. Doch die Vorstellung, dass hinter sogenannten Folgeerscheinungen, mit denen wir zu tun haben, sich gar keine Ursachen befinden könnten, dass Taten, Motive und Entscheidungen womöglich nicht zusammenhängen, sondern nur lose für sich stehen könnten und  in keiner Weise an Gefühlen, Gedanken oder Vorstellungen festgemacht werden könnten, scheint uns unerträglich. "Man seufzte zwar über eine solche Ausgeburt, aber man wurde von ihr innerlicher beschäftigt als vom eigenen Lebensberuf" (aus: Der Mann ohne Eigenschaften).

Erschüttert uns das Fehlen eines jeglichen Tatmotivs, weil dies letztlich bedeuten könnte, dass auch jedem einzelnen von uns rationale Motive für Taten unter Umständen völlig fehlen könnten?

Es ist dieses Beschäftigtwerden, das über die Sensationslust  hinausgeht. Der Wunsch im Bereich der Wissenschaften Lösungen zu finden, die Psychiatrie zu befragen, bringt wenig, Presseinterviews mit Experten waren bloß beleidigend für die Familienangehörigen. Diagnosen bleiben Etiketten, was sollen wir uns unter dem Wort “Schizophrenie” vorstellen – einer Krankheit, die weltweit 0,5 Prozent der Bevölkerung betrifft? Psychopathie, worunter man das Fehlen der Fähigkeit, Empathie zu empfinden versteht, kommt unvergleichlich häufiger vor, erregt aber weniger Aufsehen, weil für hochfunktionelle Psychopathen immer wieder Plätze in Machtpositionen unserer Gesellschaft bereit stehen. Persönlichkeitsveränderung durch Anabolika? Trotz allem wird nicht erklärt, was wir so dringend erklärt haben möchten: das Menschliche und das Unmenschliche. So halten wir uns besser an einen Schriftsteller – und halten uns an seinen Worten fest wie an einer Rettungsweste.

“Dieser Richter fasste alles in Eins zusammen (….) und gab es als Schuld Moosbrugger. Für den aber bestand es aus lauter einzelnen Vorfällen, die nichts miteinander zu hatten und jeder eine andere Ursache besaß, die außerhalb Moosbruggers und irgendwo im Ganzen der Welt lagen. In den Augen des Richters gingen seine Taten von ihm aus, in den seinen waren sie auf ihn zugekommen wie Vögel, die herbeifliegen.“  (Der Mann ohne Eigenschaften)

 

Doch selbst Musil scheint der Versuchung erlegen zu sein, ein rationales Verständnis für unbegreifliche Vorkommnisse zu suchen – hat auch er es nicht ausgehalten ohne ursächliche Erklärung auszukommen? Dem ersten Auftreten der Figur des Zimmermanns und Mörders Christian Moosbrugger im Roman “Der Mann ohne Eigenschaften” hat der Schriftsteller eine Beschreibung von dessen Kindheit und Jugend vorangestellt. So  befindet sich der Leser, noch bevor die Schreckenstat in allen Details beschrieben wird, bereits im Schutze einer ursächlichen Erklärung. Mit wachsendem Schauer fühlt er mit, wie die Tragödie voranrollt, doch bestand in ihm von Anfang an kein Zweifel darüber, dass bei einer derart entwürdigenden Kindheit alles so und nicht anders hatte kommen müssen. Diese Geschehnisse liegen fast hundert Jahre zurück. Unser aktueller Vorfall ist anders. Es gibt kein krankmachendes familiäres Umfeld, auch nicht im Verborgenen wie es etwa in familylife von Ken Loach, einer Filmikone der siebziger Jahre und Vorläufer der “Antipsychiatrie”, geschildert worden ist. Es gibt auch nicht die geringsten Indizien für einen extrem verwöhnend-vernachlässigenden Erziehungsstil wie er für Diktatorendynastien üblich ist, in deren Familien Kinder zu Sadisten werden (Syrien und Nordkorea). “Was ist hier geschehen?”, hämmert es in unserem Kopf weiter. Wieder Hannah Arendts Banalität des Bösen? Die groteske Umkehrung eines Heldenmytos? Ein starker, junger Mann, der seinen Vater auf die Schultern lädt, nicht um ihn zu retten, wie Aeneas den Anchises, sondern als einen Leichnam, der rasch entsorgt werden soll? Hat es der Natur einfach gefallen, etwas derart Monströses hervorzubringen? Der Begriff psychisch krank klingt immer noch nach Ursache und Wirkung – was aber, wenn es  in Wahrheit keine, auch nur im geringsten nachvollziehbare Ursache für Unmenschliches geben sollte? Dann käme unsere gesamte,  rationalistische Weltsicht ins Wanken.

Dann hätte auch ich in diesen muskelprotzenden Körper namens B. mit der hohen Stirn und dem unsicheren Lächeln hineingeboren worden können, und irgendwann wäre eine Tat  “auf mich zugekommen wie Vögel, die herbeifliegen”. Und ich wäre sehr ärgerlich über das Aufhebens  geworden, das die Welt davon macht, dass ich am 4. Jänner zwei Hindernisse beseitigt habe, die mir im Wege standen. “Ich habe danach doch alles getan”, würde ich sagen, “die Spuren zu beseitigen – und  glaubt mir, die Mühe war enorm –, denn das Ganze  sollte ja wirklich nicht von allen gewusst werden. Lasst mich in Frieden”, würde ich sagen, mit Seitenblick in den Spiegel, denn dieser Blick beruhigt mich, ich brauche ihn, denn meine wirkliche Angst, von der ihr alle nichts wisst, ist die Angst nicht zu existieren, ist die Angst in Wirklichkeit eine Art Gespenst zu sein. Deshalb muss ich in gewissen Momenten unbedingt in den Spiegel schauen und derjenige, den ich dort sehe, beruhigt mich. Und er genügt mir völlig: Ich und er. Er und ich. Euch alle brauche ich nicht.

Trotz allem wird nicht erklärt, was wir so dringend erklärt haben möchten: das Menschliche und das Unmenschliche

Doch es scheint, dass wir ihn brauchen, da wir kaum imstande sind, den Blick von dieser Tat, die wir kaltblütig nennen, abzuwenden, wir, die seit Monaten darauf warteten, dass er endlich gestehe und dass er vor allem ein Motiv dafür bekannt gäbe, das uns erlösen würde von der Frage nach dem Warum, denn auch die banalste Antwort darauf hätte den Riss, der sich in unserer Weltsicht aufgetan hat, wieder geschlossen. Wir sagen: Wenn wenigstens eine riesige Erbschaft dahinter gewesen wäre und ein Schuldenberg zu tilgen, eine politische Ueberzeugung, ein Eifersuchtswahn, sogar ein Vatermord aus Begehren der Mutter, alles hätten wir – wenn auch mit gewisser Anstrengung – verstehen und erklären können; auf jeden Fall hätten wir versucht, es noch als menschlich einzuordnen, denn rein materielle oder wahnhafte Gründe für Mordtaten hat es immer gegeben. (Auch meine eigene Beschreibung des Blickes in den Spiegel war wohl nichts anderes als ein Erklärungsversuch.) Erschüttert uns das Fehlen eines jeglichen Tatmotivs, weil dies letztlich bedeuten könnte, dass auch jedem einzelnen von uns rationale Motive für Taten unter Umständen völlig fehlen könnten? Sei es für Taten, die wir planen und ausführen, sei es für solche, die wir unterlassen? Weil auch auf uns manches einfach so  zukommt wie Vögel, die herbeifliegen? Es fällt uns äußerst schwer zu denken, dass wir selbst unachtsame oder direkt gewalttätge  Handlungen gegen unser Umfeld, das uns hervorgebracht  hat und nährt, wie es Eltern tun, verübt haben könnten und womöglich künftig verüben.  

Die Justiz wird lediglich entscheiden: Psychiatrie oder lebenslängliche Haft. Damit  hat sie ihre Aufgabe erfüllt. Uns bleiben ganz andere Fragen. Musil bringt es auf den Punkt: “Vor der Justiz lag alles, was nacheinander so natürlich gewesen war, sinnlos nebeneinander in ihm, und er bemühte sich mit den größten Anstrengungen, einen Sinn hineinzubringen.“