Gesellschaft | Arbeitsmarkt

Fehlgeleitete Jugend?

Der Fachkräftemangel ist ein viel beklagtes Problem – kein Wunder könnte man meinen, wenn manche Berufe von vornherein als nicht attraktiv gelten.
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Foto: suedtirolfoto.com

Immer wieder äußern sich Arbeitgeber dazu, dass ihnen geeignetes Personal fehlt. Der beklagte Fachkräftemangel bestimmter Branchen hat mehr als eine Ursache: Arbeitsbedingungen, Entlohnung und Ausbildungsplätze sind die eine Seite. Das – nicht immer zurecht – schlechte Image bestimmter Berufsbilder eine andere. 

Wie aus einer Wifo-Studie hervorgeht, fühlen sich vor allem das Gastgewerbe, die landwirtschaftlichen Genossenschaften und das Baugewerbe vom Fachkräftemangel betroffen. Dies geht aus einem 2019 veröffentlichen wifo-Bericht hervor. Nach Ansicht der Unternehmen müssten die Inhalte der Schulbildung auf die Bedürfnisse der Unternehmen ausgerichtet sowie das Image der Ausbildungs- und Handwerksberufe aufgewertet werden. Allerdings sind gerade handwerkliche Betriebe selten in Schulen oder auf Karrieremessen präsent, um den eigenen Ausbildungsberuf bei Schüler:innen zu bewerben, lautet das Fazit des wifo-Berichts. 

Ein Blick auf die Zahlen der Deutschen Bildungsdirektion in Südtirol zeigt, dass im Schuljahr 2018/19 8.251 Personen eine deutschsprachige Landesberufs- oder Fachschule besuchten oder eine Lehre absolvierten. Zu diesem Zeitpunkt lebten laut ASTAT über 40.700 schulberechtigte Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren in Südtirol. Rund 20 Prozent von ihnen entschieden sich also für diesen Ausbildungsweg in deutscher Sprache, Zahlen der Italienischen Bildungsdirektion zu den Berufsschulen liegen leider nicht vor. 

 

Bildungsweg Lehre für Handwerk und Tourismus

 

Bei Alexander Dallio, Obmann der Junghandwerker in Südtirol, rennt man mit dem Thema Fachkräftemangel offene Türen ein. „Wir haben eine gute Auftragslage in den Betrieben. Es ist aber schwierig offene Stellen zu besetzen und auch Frauen für das Handwerk zu begeistern. Denn auch Frauen würden die Voraussetzungen mitbringen, um bei uns arbeiten zu können“, erklärt Dallio. Sein Ziel ist, das Handwerk für junge Menschen wieder interessant zu machen. Dafür sind die Junghandwerker jährlich mit ihrem Junghandwerker-Bus in den Mittelschulen unterwegs.

Ein Umstand, der ihnen die Arbeit erschwere, sei die Einstellung mancher Eltern. „Viele Eltern denken, dass ihre Kinder zuerst die Matura machen und eine akademische Laufbahn einschlagen sollen“, berichtet Dallio. Er hingegen findet es wichtiger, die Jugendlichen selbst darüber entscheiden zu lassen, welchen Berufsweg sie einschlagen wollen. Das Handwerk sei dabei keine schlechte Option: „Gerade in den letzten Jahren während der Corona-Pandemie haben die Betriebe gezeigt, dass wir eine zukunftssichere Branche sind. Die Aufträge gehen uns nicht aus.“

Dass viele Jugendliche andere Bildungswege als die Lehre einschlagen, merkt auch Wilfried Albenberger von der Personalberatung des Hoteliers- und Gastwirteverband HGV. „Wenn jemand eine Oberschule abgeschlossen hat, fängt er meist keine Lehre an“, sagt er. „Zudem wird die Suche nach Personal durch die geburtenschwachen Jahrgänge erschwert. Dieses Problem betrifft mehrere Branchen und ganz Europa. Der Arbeitsmarkt ist leergefegt“. 

 

Hilfe aus dem Ausland in Tourismus und Landwirtschaft

 

Kurz vor dem Saisonstart in den Frühling und Sommer hoffen vor allem die touristischen Betriebe darauf, dass ein Teil der wegen der Corona-Lockdowns abgesprungenen Arbeitskräfte aus dem Ausland in die Tourismusbranche zurückkehren. Albenberger befürchtet aber, dass einige von der gesammelten Arbeitserfahrung profitieren, sich in ihrem Land selbstständig machen und nicht mehr zurückkommen könnten. 

 

 

Neben der Tourismusbranche ist aber auch die Landwirtschaft auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen – vor allem in der Erntesaison: „40 Prozent unserer landwirtschaftlichen Arbeiter kommen aus Italien. Zudem kamen sie früher auch aus Polen und Ungarn, heute vermehrt aus Rumänien und der Slowakei“, erklärt Siegfried Rinner, Direktor des Südtiroler Bauernbundes. „Wir stellen eine Verlagerung der Herkunftsländer fest und konkurrieren heute zudem immer mehr auch mit anderen europäischen Regionen.“ Denn die Erntehelfer seien im gesamten europäischen Arbeitsmarkt gefragt. 

Da die Landwirtschaft im Vergleich zu anderen Branchen geringe Verdienstmöglichkeiten bietet und der Arbeitsmarkt in Südtirol „quasi ausgetrocknet” sei, sei es immer schwieriger, Einheimische dafür zu gewinnen. „Durch die Abschaffung der Voucher in Italien und deren Ersetzung mit den in der Handhabung komplizierteren ‚Presto‘, haben wir auch viele Studenten, Pensionisten und arbeitslos gemeldete Personen als Hilfskräfte verloren“, sagt Rinner. Er kritisiert die Handhabung bei der Nebenbeschäftigung: „Leute dürfen nicht bestraft werden, wenn sie sich etwas dazu verdienen. Ihnen sollte deswegen nicht das Arbeitslosengeld, die Rente oder die Studienbeihilfe gekürzt werden.“ Auf die prekären Arbeitsbedingungen, die die Branche vielfach prägen, kommt Rinner nicht zu sprechen. 

 

Die Situation im Pflegebereich

 

Für die Pflegeberufe in Alten- und Pflegeheimen, aber auch in Südtirols Krankenhäusern stellen die bei der Claudiana notwendigen Eintrittsvoraussetzungen und die begrenzte Zahl der Studienplätze eine Hürde dar. Die Präsidentin des Verbandes der Seniorenheime Südtirols, Martina Ladurner, sieht in der Ausbildung für Pflegekräfte dringenden Handlungsbedarf: Mit den Landesfachschulen Hannah Arendt und E. Levinas verfüge das Land Südtirol über zwei kompetente Bildungseinrichtungen. Aufgrund des großen Bedarfs an Pflegepersonal müsse das bestehende Angebot aber dringend durch ein ergänzendes, flexibles und berufsbegleitendes Ausbildungsmodell erweitert werden. Ein dementsprechendes Ausbildungsmodell wird derzeit ausgearbeitet. 

 

 

„Der Fachkräftemangel im Pflegebereich war bereits vor der Corona-Pandemie seit vielen Jahren ein Thema. Durch die Pandemie haben nun aber viele den Beruf aus verschiedenen Gründen verlassen”, erklärt Ladurner. Rund 700 von 4.600 Heimbetten in Seniorenheimen seien wegen fehlendem Personal nicht besetzt. Um den Pflegeberuf attraktiver zu gestalten, setzt der Verband neben der Aus- und Weiterbildung auch auf eine angemessene Entlohnung. Vor allem in der 24-Stunden-Betreuung, die auch die Betreuung von Menschen mit Behinderung miteinschließt, sei eine angemessene Belohnung noch ausstehend. Der Verband befindet sich derzeit in Verhandlungen mit seinen Partnern, um den Kollektivvertrag zu überarbeiten. 

 

Das Lehrer:innenbild von heute

 

Auch bei den Lehrkräften gibt es zu wenig ausgebildetes Personal. Südtirol hilft sich deshalb mit Supplent:innen aus, die zwar ein Universitätsstudium abgeschlossen, aber keine Lehrbefähigung haben. Aufgrund des Mangels an Lehrkräften gibt es berufsbegleitende Quereinsteigermodelle, die vom Land organisiert werden.  

 

 

Laut der Vorsitzenden der Südtiroler Schulgewerkschaft SSG, Petra Nock, wird das Soll bezüglich Lehrkräfte im Moment abgedeckt. „Mittel- und langfristig gibt es aber einen Mangel an Lehrpersonal“, sagt sie. Dass ihre Branche in den letzten Jahren an Attraktivität verloren hat, überrascht sie angesichts der Arbeitsbedingungen und der Bezahlung nicht. „Die sechsjährige Ausbildung steht nicht im Verhältnis zur Besoldung“, kritisiert sie. 

Außerdem erwarte die Gesellschaft von Lehrkräften mehr als reine Wissensvermittlung. „Lehrer:innen müssen heute Pädagog:innen, aber auch Familien-, Freundesersatz und Psycholog:innen sein“, erklärt sie. „Bürokratische Abläufe wie Sitzungen hindern sie zudem an der Ausführung ihrer eigentlichen Aufgabe“, sagt Nock und fordert neue Rahmenbedingungen für den Lehrerberuf. 

 

Lösungswege

 

Der kurze Querschnitt durch die Branchen zeigt, dass Südtirol durchaus Arbeitsplätze für junge Menschen zu bieten hätte. Die Frage ist allerdings, wie sie attraktiver gestaltet werden können. Während die Landwirtschaft unter hohem Preisdruck bei Lebensmitteln auf kurz befristete Arbeitsverträge setzt und offenbar jegliche Hoffnung auf inländische Arbeitskräfte aufgegeben hat, engagiert man sich im Tourismusbereich um einheimische Mitarbeiter:innen der jungen Generation. So stellt der HGV den dritten Klassen der Mittelschulen in Berufskampagnen die verschiedenen Berufsbilder in der Gastronomie und Hotellerie vor. Zudem sensibilisiert der Verband die Betriebe dafür, was einen attraktiven Arbeitsplatz ausmacht – etwa bei der Gestaltung der Arbeitszeiten, wo vor allem Flexibilität gefragt ist: „Kleine Betriebe sind hier weniger flexibel, weil sie weniger Personal haben und die Öffnungszeiten bedienen müssen“, sagt Albenberger vom HGV.

Der Südtiroler Bauernbund führte im Jahr 2020 ein siebensprachiges Portal für Arbeitskräfte namens AgriJobs ein. Dort können sich Arbeitskräfte bereits in ihren Herkunftsländern über Jobangebote in der Südtiroler Landwirtschaft informieren. „Es wäre außerdem eine große Hilfe, wenn die Arbeitsämter von Südtirol und jene in den Herkunftsländern bei der Jobvermittlung zusammenarbeiten würden“, so Rinner.