Chronik | Natur

Anders als ein Adler

Ein Kampf mit ungleichen Waffen, zwischen Mensch und Adler. Ein unvollkommener Mord.
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steinadler
Foto: https://blog.berchtesgadener-land.com/

Es war nicht nötig gewesen, sie stundenlang anzusitzen. Es war nicht einmal nötig gewesen, stundenlang anzumarschieren. Er kannte ja ihre Flugbahn, hatte sie lange mit dem Fernrohr verfolgt, hatte ihren Landeanflug beobachtet, wenn sie ihren Horst mit Futter für die Kleinen ansteuerte. Und er hatte seine Aktion gut geplant, seinen Mord exakt vorausberechnet. Er, ein Abschaum der Menschheit, mit dem man nicht einmal die Felder düngen würde. Mit seinem Geländewagen kam er bequem angefahren, bis auf Schussweite, lud seinen Karabiner, stellte das Fernglas scharf, drückte den Abzug.  Ein Kinderspiel. Und ein Kampf mit so furchtbar ungleichen Waffen. Er bis an die Zähne bewaffnet, sie – die Adlermutter – nackt und schutzlos in ihrer ganzen Schönheit.  Mit weit ausgebreiten Schwingen sank der große Raubvogel über seinen noch ungeöffneten Eiern zusammen. Ein grausamer Jägerspaß zum Preis eines Lebens. Mit höhnischem Grinsen entfernte sich der Mörder vom Tatort. Er wird in die nächste Bar gegangen sein, um bei einem Gläschen Weißwein ein paar sarkastische Witze über Tierschützer und Vegetarier zu machen. Er wird es bedauert haben, nicht coram pubblico mit seiner Tat angeben zu können. Aber dem ein oder anderen wird er schon davon erzählt haben. Und deshalb ist auch dieser Mord kein perfekter Mord. Denn früher oder später wird er aufgespürt werden. Es wird viel leichter sein, als einen Adler aufzuspüren. Seine Artgenossen werden keine Schutzmauer um ihn herum errichten, wie es früher der Fall gewesen ist. Doch dem wütenden Volk wollen wir sein Schicksal auch nicht überlassen. Denn Mordlust darf nicht mit Ähnlichem heimgezahlt werden, wenn wir nicht in atavistisches Steinzeitverhalten zurückfallen wollen. Eigentlich hat dieser Mann seine Rechnung ja bereits beglichen. Weil dieser Mensch das Leben hasst, weil er nicht in der Lage war, beim Flug dieses großartigen Vogels einfach nur seine herrliche, majestätische Schönheit zu genießen.