Kultur | Salto Afternoon

Eine böhmische Geschichte

Gestern wurde das Buch zur Jüdin Klara Beck in Bozen vorgestellt. Ein Gastbeitrag der Autorin und Fotografin Wolftraud de Concini. [inkl. Video]
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Foto: Foto: Salto.bz

Es ist keine schöne Geschichte, die ich hier erzähle. Von Klara. Klara Beck. Dabei hatte sie schön und gut und verheißungsvoll begonnen. Im Jahr 1904. In Pilsen.

«Am Ende des 19. Jahrhunderts erlebte Pilsen», so heißt es in meinem auf Italienisch verfassten und publizierten Buch „Le scarpe di Klara. Storia di una ebrea boema“ (Publistampa Edizioni, Pergine Valsugana 2018), «einen außergewöhnlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Neue Fabriken, neue Straßen, neue Häuser, die ersten Straßenbahnlinien. Neue Einwohner. Und unter ihnen viele jüdische Familien, die aus dem Hinterland zuzogen, auf der Suche nach Wohlstand und Sozialprestige. Sie waren unternehmungsfreudig, hatten Hunger auf Kunst, Kultur und modernen Lebensstil. Sie handelten mit Holz und Kohle, Wolle und Kristallarbeiten, Wurstwaren und Getreide, produzierten Lederwaren und chemische Produkte. Auch Maschendraht und Stacheldraht. Und gerade dieser Stacheldraht, dem sie ihren Reichtum verdankten, sollte sie einige Jahrzehnte später von der Welt ihrer Kunden abtrennen, sollte sie in die Welt des Todes eingittern.»

Ich habe Klara Beck vor drei Jahren kennen gelernt. 73 Jahre nach ihrem Tod. Das Deutsche Kulturforum östliches Europa mit Sitz in Potsdam hatte mir 2015 ein Stipendium zugesprochen: fünf Monate in Pilsen, der damaligen europäischen Kulturhauptstadt. Eines der Highlights, auf die Pilsen mit großem Publicityeffekt setzte, waren die Wohnungen, deren Interieurs von Adolf Loos (1870–1933), dem nicht nur geliebten Brünner Architekten, entworfen worden waren. Seine Auftraggeber waren fast ausschließlich die finanzkräftigen jüdischen Familien, die mit modernst umgestylten und mit kostbaren Materialien eingerichteten Wohnungen auch ihr soziales Image aufpolieren wollten: die Brummel und Hirsch und Taussig und Liebstein. Und eben auch die Beck. Deren Hausnachbarn die Familie des Industriellen Emil Škoda war, dem Pilsen seine Hausse zu verdanken hatte.

In diesem Milieu verbrachte Klara Beck, die zweite Tochter des jüdischen Fabrikanten Otto Beck (1868–1936), ihre Kindheit und Jugend. Gut situiert, sorgenfrei und unbelastet. Schlittschuhpartien mit Vater und Schwester, Stadtpromenaden mit ihren Freundinnen, Einkaufsbummel mit ihrer Mutter Olga gehörten zum Alltag der jungen, emanzipierten Klara. Und bei sonntäglichen Tanzpartys und Einladungen bei anderen jüdischen Familien – sie waren alle miteinander verwandt oder verschwägert oder durch wirtschaftliche Interessen liiert –, stellte sie modische Eleganz zur Schau. Auch mit Spangenschuhen, wie sie damals en vogue waren. Und das ist immer noch eine schöne Geschichte.

Auf allen Fotos, die ich von Klara Beck kenne, trägt sie Spangenschuhe. Eben diese Schuhe, die der Leitfaden meines „Klara“-Buchs sind. Sie waren in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Mode gekommen. In den Jahren, in denen Klara die angenehmste Zeit ihres Lebens lebte. Von Pilsen, der damals grauen, eintönigen Provinzstadt, ging sie nach Wien, die glänzende, walzerbeschwingte Metropole, besuchte dort die noch heute bestehende Graphische Lehr- und Versuchsanstalt. Sie studierte Fotografie, kam in Kontakt zu anderen, überwiegend jüdischen Fotografinnen, die sich – extravagant und exzentrisch – über althergebrachte Konventionen hinwegsetzten und damals in der Donaustadt als Porträtistinnen der intellektuellen Upperclass sehr gefragt waren.

In Wien lernte Klara auch Adolf Loos kennen, den um 34 Jahre älteren Architekten, der damals auf dem Höhepunkt seiner Karriere, aber dem Tiefpunkt seines Lebens stand: Er war der Pädophilie beschuldigt, kam 1928 einige Tage in Untersuchungshaft und stand unter polizeilicher Aufsicht. Was Klara Beck nicht davon abhielt, den berühmten Architekten 1929 zu heiraten – gegen den Willen ihres Vaters. Doch für Klara, die sich von nun an mondän Claire Beck Loos nannte, tat sich die brillante Welt der Künstler und Schriftsteller auf, die Loos frequentierte. Und das ist immer noch eine schöne Geschichte.

Das 1929 vermählte Paar ist viel unterwegs. Klara und Adolf Loos verbringen die Flitterwochen in Bad Hall, machen dann eine monatelange Reise, zu Vergnügungen und Geschäften, durch Deutschland, an die italienische Riviera, nach Frankreich. Doch schon 1931 trennen sie sich, 1932 wird die Ehe geschieden.

Klara kehrt zu ihrer Familie nach Pilsen zurück, ihr Vater stirbt 1936, ihre Schwester Eva 1938, ihrem Schwager und dessen beiden Kindern gelingt die Emigration (Evas heute in Amerika lebender Enkelin Carrie Paterson verdanke ich wertvolle Informationen). So bleibt Klara mit ihrer Mutter Olga allein zurück. Und die bisher schöne Geschichte nimmt eine brüske, tragische Wende, als Adolf Hitler im März 1939 die Tschechoslowakische Republik besetzt und das „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ proklamiert. Wo dieselben Gesetze gelten wie im Deutschen Reich. Auch die Rassengesetze.

Klara und Olga gehen gemeinsam nach Prag, und gemeinsam nehmen die beiden Frauen die allmähliche Verarmung und Anfeindung und Ausgrenzung hin. Sie müssen den Judenstern tragen, haben kein Geld mehr, halten sich mit Putzarbeiten, mit dem Backen und Kochen für andere Familien, mit dem Herstellen von Ledertaschen und Gürteln leidlich über Wasser. Die eleganten, von Adolf Loos gestylten Pilsener Wohnungen sind nur noch eine blasse Erinnerung. Sie leben zur Untermiete bei Fremden, teilen ein Zimmer mit anderen Personen.

Während ihre Mutter Olga (vorerst) in Prag zurückbleibt, wird Klara in das Verzeichnis der zu deportierenden Juden aufgenommen. Die alle auf eine Reise in ein Paradies hoffen, die daran glauben. Die 37-jährige Klara Beck alias Claire Beck Loos wird jetzt zur Nummer 26342. Als Nummer 824 wird sie, zusammen mit 999 Schicksalsgenossen, am 10. Dezember 1941 von Prag nach Theresienstadt transportiert, wo die ehemalige österreichische Festung in ein Durchgangslager verwandelt worden ist, als Nummer 785 kommt sie Mitte Januar 1942 von Theresienstadt nach Riga in Lettland.

Um im Ghetto Riga für die tausend und tausend und abertausend aus dem Deutschen Reich und Böhmen zufließenden Juden Platz zu schaffen, mussten die mehr als 30.000 jüdischen Insassen erst einmal „entfernt“ werden. Das geschah Anfang Dezember 1941 in wenigen Tagen. Doch auch im frei gemachten Ghetto war bald kein Platz mehr. Auch nicht für die wieder tausend Juden, die am 19. Januar 1942 aus Prag eintrafen. Unter ihnen Klara. Die Transporte mussten in die Wälder um Riga, die schönen, heute als Erholungsgebiet dienenden dichten Kiefernwälder, umgeleitet werden. Wo Löcher für Massengräber in den Boden gesprengt wurden. Denn der Winter 1942 war sehr kalt.

„Die Lederspange ist zerfetzt. Zerrissen. Der kleine runde Elfenbeinknopf ist abgetrennt. Das Oberleder zerkratzt. Verschlissen. Schlammbesudelt. Dreckig und nass vom Waten durch den tiefen Schnee. Es sind 30, 35 Grad unter Null. Und es schneit immer noch. Sie versucht, in die Stapfen der Frau vor ihr zu treten. Es gelingt ihr nicht. Ihr zittern die Beine. Nichts als grelles Weiß um sie herum. Die Augen brennen ihr. Schnee und Eis und kalter Wind. Und die schneebeladenen Kiefern geben keinen Schutz.“

Mit diesem Absatz beginnt mein „Klara“-Buch. Das schon von Anfang an keine schöne Geschichte verspricht. Kein Happy End. Denn die einst wohlhabende, an ruhiges, mondänes Leben gewöhnte Klara wird deportiert und ermordet. Wahrscheinlich im Wald von Biķernieki, wo 5000 Granitblöcke an 20.000 hier verscharrte deutsche, österreichische und tschechische Juden erinnern. Wie Klara.

Nachwort:

In der Schillerstraße im eleganten Kurzentrum von Karlsbad, wo auch Klara Beck und Adolf Loos sich auf einer ihrer Reisen aufhielten, befand sich ab 1938 ein Sitz der Gestapo. Hier, in den Räumen eines von der Nazis requirierten Luxushotels wurde auch ein Onkel von mir, der 1884 in Südböhmen geborene katholische Geistliche Karl Rudy, verhört und zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, wegen „Abhörens feindlicher Radiosender“. Er hatte Glück und überlebte. Im Gegensatz zu vielen anderen Priestern und Schwestern und Gläubigen, die in Konzentrationslagern starben. Und im Gegensatz zu Klara Beck, deren Spuren sich im Januar 1942 in einem Wald bei Riga verlieren.