Politik | Eu-Wahlen

Eine Südtiroler EU-Abgeordnete?

Vor dem Verwaltungsgericht Latium wird heute ein Rekurs gegen die EU-Wahlen verhandelt. Erhält der Rekurssteller Recht, zieht Renate Holzeisen ins EU-Parlament ein.
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Foto: Europarlamento
Wenn am heutigen Dienstag die zweite Sektion bis des Verwaltungsgerichts der Region Latium zusammentritt, dann steht die Erstverhandlung in einem Fall auf der Tagesordnung, der nachhaltige Auswirkungen auf Europa, auf Italien und indirekt auf Südtirol haben könnte.
Denn vor Gericht wird das Ergebnis der letzten EU-Wahlen angefochten. Genauer gesagt, geht es um die Rechtmäßigkeit der in Italien geltenden 4-Prozent-Hürde. Schon jetzt ist klar, dass der Fall vor dem Europäischen Gerichtshof landen wird.
Dass der Gerichtsfall durchaus ernst genommen werden muss und nicht von vornherein als typisches juridisches Störmanöver abgetan werden kann, liegt vor allem am Einbringer des Rekurses: dem Anwalt Felice Besostri.
Es handelt sich um einen Mann, der in Italien inzwischen eine Art Kultstatuts erworben hat. „Einen Zerstörer von Wahlgesetzen“, nennt ihn der renommierte Corriere-Autor Aldo Cazzullo voller Anerkennung.
 

Der Wahlrechtsexperte

 
Der heute 75-jährige Felice Besostri studierte Rechtswissenschaften an der Universität in Mailand und arbeitet als Assistent am dortigen Institut für Politikwissenschaften. Zudem arbeitete er als Rechtsanwalt vor allem im Verwaltungsrecht.
Politisch engagiert in der Linken, bekleidet er von 1983 bis 1988 für den PSI das Bürgermeisteramt von Borgo San Giovanni bei Lodi. Von 1996 bis 2001 wird er für die „Democratici di Sinistra“ in den Senat gewählt und als Sprecher in den Verfassungsausschuss des Senates entsandt. Bei den Parlamentswahlen 2018 tritt Besostri für die Liste „Liberi e Ugali“ an, wird aber nicht gewählt.
Felice Besostri gilt als Wahlrechtsexperte und seit 2008 als eine Art „Killer von Wahlgesetzen“. Der Grund dafür: Besostri hat zusammen mit Anwaltskollegen gegen zwei italienische Wahlgesetze geklagt und sie schließlich vor dem Verfassungsgericht zu Fall gebracht. Zuerst das sogenannte Porcellum und dann das Italicum. In beiden Fallen annullierte das Verfassungsgericht aufgrund von Besostri-Rekursen das gesamte Wahlgesetz oder Teile davon.
 
 
Felice Besostri betreibt diese Gerichtsfälle „pro bono“ - also kostenfrei - als eine Art Dienst an der Demokratie. Aber allein diese juridische Vorgeschichte führt dazu, dass Gerichte seine Einwände gegen Wahlgesetze durchaus ernst nehmen.
 

Die Sperrklausel

 
Besostri hat dabei auch Verfahren verloren. So hat der Anwalt bereits gegen die 2009 eingeführte Sperrklausel von 4 Prozent bei den EU-Wahlen in Italien geklagt. Die Gerichte wiesen die Klage ab. Die Argumentation, dass es in anderen EU-Ländern wie Deutschland diese Sperrklausel nicht gibt, ließ man so nicht gelten.
Doch Besostri lässt nicht locker. Mit dem Vertrag von Lisabon wurde 2007 die Natur des EU-Parlaments nachhaltig geändert. Demnach repräsentiert das EU-Parlament nicht mehr die „Völker der Staaten, die zur Europäischen Gemeinschaft gehören“, sondern „direkt die Bürger der EU“. Im Wesentlichen besteht die Argumentation des Rekurses darin, dass seit Inkrafttreten der Lissaboner Verträge der einzelne EU-Parlamentarier alle EU-Bürger vertritt und nicht nur die Bürger seines Mitgliedstaates und daher die von einzelnen Mitgliedstaaten vorgesehene Mindestprozentsätze, die eine zur Wahl angetretenen Liste erreichen muss, EU-rechtswidrig sind.
 
 
I  cittadini Europei che votano in Germania possono inviare nel Parlamento europeo 14 liste senza sprecare un voto e quelli che risiedono in Italia appena 5  e lasciare 2.320.000 voti validi senza rappresentanza, molti di più degli abitanti di Malta, Lussemburgo e Cipro che ne mandano 18″, erklärt Besostri selbst diese Ungleichheit
In der Klage fordert der Anwalt deshalb die Annullierung der italienischen EU-Wahl und eine Neuauszählung ohne nationale Sperrklausel.
 

Drei Wahlkreise

 
Felice Besostri hat den Rekurs beim TAR Lazio vorerst für drei Wahlkreise eingereicht. Den Wahlkreis 3 in Zentralitalien, den Wahlkreis IV in Süditalien und den Wahlkreis 2 Nordost-Italien, zu dem auch Südtirol gehört.
 
In allen drei Wahlkreisen hatten Kandidaten zwar die nötige Stimmenanzahl für den Sprung in das EU-Parlament erreicht, ihre Partei scheiterte aber an der nationalen 4-Prozent-Hürde. Im Südtiroler Wahlkreis trifft das auf Renate Holzeisen zu, die für "+Europa" angetreten war.
Holzeisen hat als direkt Betroffene den Rekurs zwar nicht unterzeichnet, aber einer ihrer Mitkandidaten. Die Bozner Wirtschaftsberaterin und Rechtsanwältin wäre aber die direkte Nutznießerin, sollte der Rekurs Erfolg haben.
 
 
Dabei rechnet Felice Besostri auch mit einer Besonderheit. Kommt es wirklich zum Brexit, erhält Italien laut Plan drei Sitze mehr im EU-Parlament. Er fordert deshalb im Rekurs, diese drei Sitze genau diesen Kandidaten und Kandidatinnen zuzuteilen. In diesem Fall würde Renate Holzeisen nach Brüssel ziehen.
So schnell wird das aber nicht der Fall sein. Bis zur Entscheidung vergehen Jahre. Das weiß auch Felice Besostri. 2007 warf der Anwalt vor Gericht die Verfassungswidrigkeit des sog. "Porcellums" auf. 2014 gab ihm das Verfassungsgericht Recht und annullierte das Wahlgesetz. Auch hier dürfte es Jahre dauern. Schafft man es aber, diese Frage erst einmal vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen, so ist das Rennen wirklich wieder offen.