Politik | Saatgut

Sag mir, wo all das Gemüse ist

Ein neues italienisches Gesetz erschwert den Verkauf von altem Saatgut. Kritiker fürchten einen Rückgang der Nahrungsvielfalt zu Gunsten von Agro-Monopolen.

Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Gemüse
Foto: Iñigo De la Maza - unsplash

Wussten Sie, dass es 10.000 Sorten von Tomaten gibt? Falls nicht, ist das kein Wunder: Im Supermarkt glänzen meist nur drei oder vier Tomatensorten, knallrot und perfekt rund, kultiviert von der industriellen Landwirtschaft. Nicht nur hinter den klassischen Fleisch- Kirsch- oder Cocktailtomaten verbirgt sich eine Fülle an weiteren Varietäten, sondern hinter allen Gemüse- und Getreidesorten. Nur kennen wir sie heute kaum mehr:

Weltweit sind laut Welternährungsorganisation 75 Prozent der Gemüse- und Getreidesorten in den letzten 100 Jahren verschwunden, in der EU sind es sogar 90 Prozent.

Eine italienische Direktive vom Februar 2021 zum „Pflanzenschutz“ lässt Verfechter der Lebensmittelvielfalt und der kleinbäuerlichen, nachhaltigen Landwirtschaft nun aufhorchen: Sie befürchten, es könne zu einer weiteren Homogenisierung von Gemüse und der Monopolisierung von großen Landwirtschaftskonzernen kommen.

Dazu gehört Armin Bernhard, Vorsitzender der Bürgergenossenschaft Obervinschgau. Mit der neuen Direktive zum Pflanzenschutz würde es kleinen Bauern und Züchtern von altem Saatgut schwer gemacht, erklärt Bernhard, denn sie verbiete die Weitergabe von nicht- zertifiziertem Saatgut. „Nicht mal mehr mit dem Nachbarn darf man dieses Saatgut mehr tauschen“, empört sich Bernhard. Um das alte, sogenannte „informelle“ Saatgut zertifizieren zu lassen, muss es einige Kriterien erfüllen. Diese Kriterien der „Konformität“ erfüllten alte Sorten nicht, beklagt Bernhard. Außerdem sei es zu teuer und aufwendig für kleinere Anbauer, jede einzelne Sorte jetzt registrieren zu lassen.

Kritiker fürchten, dass dadurch nur mehr Hybridsaatgut für den Handel freigegeben wird ­– ein aus zwei Sorten gekreuztes Saatgut, welches jedes Jahr neu gezüchtet werden muss, weil die Samen der Früchte kein zweites Mal verwendbar sind. Es ist jenes Saatgut, das große Agrofirmen wie Monsanto herstellen, die Profiteure strengerer Regularien.

„Die vermehrte Verwendung von Hybridsorten lässt Bauern im Süden abhängig werden, denn sie können dann nur von den Monopolen und von wenigen Sorten kaufen“, erklärt Ricarda Schmidt vom Institut für regionale Entwicklung der EURAC.

Seit Beginn des Jahres arbeitet Schmidt an einem Forschungsprojekt zum Erhalt der Kulturenvielfalt mit Fokus auf dem Pustertal. Genauso wie Bernhard ist sie besorgt über den Verlust der Kulturenvielfalt von Samen, denn je weniger Vielfalt, desto verwundbarer sei das System gegenüber dem Klimawandel und damit einhergehende Temperaturschwankungen, erklärt die Forscherin. Alte Sorten seien resistenter, veranschaulicht Bernhard: „Eine alte Karottensorte, die von Ort zu Ort zog, und deren Samen in immer neue Böden eingesetzt wurden, hat gelernt, sich an unterschiedliche, auch widrige, Bedingungen anzupassen“, erklärt Bernhard.

Im Hinblick auf die Direktive zum Pflanzenschutz, die vorsieht, informelles Saatgut zu registrieren, ist Forscherin Schmidt zuversichtlicher: „Eine Sorte, die gar nicht registriert wird, und nur von einer Bäuerin in einem Pustertaler Seitental vermehrt, kann schneller verloren gehen“, erklärt sie.

Ob durch die Direktive nur mehr Hybridsorten der Zertifizierung genügten, das könne man pauschal nicht sagen, erklärt die Forscherin. Die Direktive müsse zunächst unterschieden werden vom italienischen „Gesetz zum Schutz und der Aufwertung der Biodiversität von agrarischem und alimentärem Interesse“ aus 2015, welches das Saatgutrecht in Italien regele sowie vom Saatgutrecht auf europäischer Ebene.

Beide böten laut Schmidt einige Interpretationsspielräume, die man ausschmücken könne: „Zum Beispiel kann man hinterfragen, ob ein Tausch von Samen mit dem Nachbarn schon zum verbotenen ‚in Verkehrbringen von Saatgut‘ gehört“, nennt Schmidt ein Beispiel für eine liberalere Auslegung des Gesetzes. Ein weiteres Beispiel: EU-Richtlinien sehen vor, informelles Saatgut nur in der Ursprungsregion zu tauschen. Auch hier könne man die Definition von „Region“ großräumiger auslegen. Skandinavien habe zum Beispiel gute Arbeit geleistet, sich als eine Region auszuweisen, innerhalb derer alte Samensorten getauscht werden dürfen. Außerdem gebe es eine EU-Verordnung von 2018 zum „Heterogenen Material im biologischen Landbau,“ womit der Kauf von heterogenem Saatgut erleichtert wird. „Darauf können sich unsere Biobauern berufen“, so Schmidt.

Neben dem italienischen Gesetz gibt es auch regionale Auslegungen, die stärker auf Vielfalt und Ernährungssouveränität achten. Als liberale Vorreiter in Italien im Bereich Saatgutrecht gelten etwa Sardinien und die Toskana. Deren regionale Gesetze bezeichnen die alten Sorten als Kulturgut und verschreiben sich dessen Erhalt. „Das könnte vielleicht ein Vorbild für Südtirol sein“, hofft Schmidt.

In Südtirol gibt es noch kein regionales Gesetz, es gelten italienische und europäische Richtlinien. Genau da setzt das Projekt er EURAC an: „Wir versuchen, das politische Bewusstsein dafür zu schaffen, regionale Gesetze mit fortschrittlicheren Regelungen einzuführen“, erklärt Schmidt. Rahmenbedingungen für liberalere regionale Gesetze werden mit dem Amt für Obst- und Weinbau gerade herausgearbeitet.

Man könnte etwa den Alpenraum als Region durchsetzen, innerhalb derer lokale Bauern Saatgut tauschen können. So bekämen sie weiterhin Samen aus der Schweiz und Österreich. Bis jetzt sei aber wenig politischer Wille oder Interesse da, schließt Schmidt.

Mehr Hoffnung setzt Schmidt in die Zivilgesellschaft: „2014 wurde bereits versucht, das Saatgutrecht der EU weiter an den industriellen Standard anzupassen. Das hätte den Todesstoß für die formelle Saatgutvermehrung bedeutet. Die Reform wurde aber durch eine europaweite Kampagne verhindert.“ Die große Menge an Netzwerken und Initiativen, die diese Entwicklungen genau beobachten, stimmten sie zuversichtlich.

Für das kommende Jahr steht ein neuer Reformversuch in der EU bevor. In welche Richtung dieser sich bewegt, ist noch ungewiss. Doch es gibt drei Möglichkeiten, erklärt Schmidt: „Entweder es bleibt gleicht. Oder die informelle Saatgutvermehrung wird noch stärker beschränkt. Oder aber es wird mehr Raum eingebaut für eine kleinbäuerlichere und vielfältigere Saatgutvermehrung.“

Auch in Südtirol gibt es Netzwerke, Organisationen und Sensibilisierungskampagnen zum Thema der informellen Saatgutvermehrung und der Ernährungssouveränität. Dazu gehört die conflict  kitchen zum Thema Landwirtschaft am 17. Februar von 18 bis 20.30 Uhr, organisiert von blufink. www.blufink.com

Tanya Deaporta erzählt: „das Format „conflict kitchen“ findet seit 2013 statt. Dabei beleuchten 10 ImpulsgeberInnen ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln, Teilnehmende tauschen sich auf Augenhöhe aus. Gefragt ist eine offene und neugierige Haltung um die wirklich wesentlichen Fragen zu beleuchten.“ Am 17. Februar wird zum Thema Landwirtschaft unter anderem auch das Saatgutrecht angesprochen. Anmeldung unter: https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSd1vcWM74CUfwkYyxryzGvdGGYmRLZas1WzEV39Lg0Ks6j6ew/viewform

 

Dieser Blog wird von der Autonomen Provinz Bozen und vom Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik unterstützt.